Quelle: WSI
TarifarchivTarifrunde 2008: Chemische Industrie
Das Tarifgeschehen des öffentlichen Dienstes hat sich durch die Aufspaltung des früher einheitlich geregelten Tarifgebiets grundlegend verändert. Für Bund und Gemeinden einerseits und die Länder andererseits gelten mit dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) und dem Tarifvertrag für die Länder (TV-L) zwei getrennte (wenngleich inhaltlich ähnliche) Tarifwerke, die bislang aufgrund unterschiedlicher Laufzeiten nicht zeitgleich verhandelt werden (können). In dieser Tarifrunde stand die Neuverhandlung des TV-L auf der Tagesordnung, während der TVöD noch bis zum Jahresende läuft.
Ausgangssituation und Forderung
Die chemische Industrie lag in dieser Tarifrunde zeitlich gesehen an dritter Stelle. Für den Bereich der Industrie konzentrierte sich nach dem Stahlabschluss die tarifpolitische Aufmerksamkeit auf diesen Wirtschaftszweig. Die Entgeltabkommen liefen regional unterschiedlich Ende Februar/März/April 2008 aus. Wie üblich veröffentlichte der IG BCE-Hauptvorstand bereits im Vorfeld der Tarifrunde, dieses Mal am 12.12.2007, seine Forderungsempfehlung. Vor dem Hintergrund der stark steigenden Preisentwicklung sollte ein Tarifabschluss angestrebt werden, der - neben dem Ausgleich der Preissteigerung - die Produktivitätsentwicklung der chemischen Industrie berücksichtigt, so dass eine reale Einkommenserhöhung erreicht wird. Den Rahmen für eine Forderung bezifferte der Hauptvorstand zwischen 6,5 % und 7 %. Damit wurde - anders als in den Vorjahren - die Entgeltforderung wieder beziffert. Darüber hinaus wurde für den zum Jahresende 2008 auslaufenden Tarifvertrag "Zukunft durch Ausbildung" ein Anschluss-Tarifvertrag zur Sicherstellung und Weiterentwicklung des Ausbildungsplatzniveaus gefordert. Aufgrund der demografischen Entwicklung fordert die IG BCE außerdem den Abschluss eines Tarifvertrages über flexible Instrumente zur Gestaltung der Lebensarbeitszeit. Darin sollten u.a. die Rahmenbedingungen für eine altern- und altersgerechte Arbeitsgestaltung und Möglichkeiten des flexiblen Übergangs in die Altersrente geregelt werden. Im Februar 2008 wurden die Forderungen endgültig beschlossen und dabei die Entgeltforderung auf 7,0 % festgelegt.
Verhandlungen und Ergebnis
Wie in früheren Jahren wurde auch in dieser Tarifrunde zunächst auf regionaler Ebene verhandelt. Ab der zweiten Runde waren zentrale Verhandlungen geplant. Die regionalen Verhandlungen begannen am 26.2. in Hessen, es folgten Rheinland-Pfalz (27.2.), Nordrhein (28.2.), Bayern (3.3.), Baden-Württemberg (4.3.), Berlin West (7.3.), Saarland (10.3.), Westfalen (11.3.), Niedersachsen (13.3.) und Schleswig-Holstein/Ham-burg (14.3.). Im Mittelpunkt stand der ausführliche Austausch über die ökonomischen Rahmenbedingungen insbesondere in der chemischen Industrie.
Am 1.4. fand die erste Verhandlung auf Bundesebene statt. Erwartungsgemäß legten die Arbeitgeber zur Entgeltforderung noch kein Angebot vor. Fortschritte wurden dagegen nach Angaben der IG BCE in der Ausbildungsfrage und auch beim Thema flexibler Übergang in die Rente gemacht. Die Gespräche wurden auf den 15. und 16.4. vertagt. Anders als noch im Vorjahr gab es offenbar keine ernsthaften Konflikte, so dass diesmal eine größere Mobilisierung der Belegschaften unterblieb. Bereits in der zweiten Runde konnte dann am 16.2. ein Abschluss erzielt werden, der folgende Bestandteile beinhaltete:
Entgelt:
- Anhebung der Entgelte regional unterschiedlich ab März, April oder Mai 2008 für jeweils 13 Monate um 4,4 %
- Stufenanhebung um weitere 3,3 % für jeweils 12 Monate
- zusätzliche Einmalzahlung in Höhe von insgesamt 7,0/7,8/9,1 % eines Monatsentgelts für Beschäftigte in Normal-/teil-/vollkontinuierlicher Schicht zahlbar spätestens bis Ende Juli 2008 (dies entspricht 0,5 % für den Zeitraum von 13 Monaten)
- Öffnungsklausel: Kürzung oder Wegfall des Betrages ist aus wirtschaftlichen Gründen möglich.
Ausbildung:
- Ausbildungsvergütungen: Erhöhung der regional unterschiedlichen Beträge um 34 €/Monat für 13 Monate und 26 €/Monat für weitere 12 Monate
- Verlängerung des Tarifvertrages „Zukunft durch Ausbildung“ und Konkretisierung für die Jahre 2009 und 2010
- Festschreibung des Ausbildungsplatzangebots von insgesamt 16.800 Ausbildungsplätzen für die Jahre 2009 und 2010
- Ausbildungsplatzzahlen nach 2010 werden im Rahmen künftiger Verhandlungen festgelegt.
Tarifvertrag „Lebensarbeitszeit und Demografie“:
Mit diesem Tarifvertrag wird eine ganze Reihe von Regelungen beschrieben und zusammengefasst, die diesem Themenkomplex zugeordnet werden können. In einer Präambel wird auf die Bedeutung des demografischen Wandels abgehoben und als Zielvorstellung die Förderung einer „nachhaltigen und vorausschauenden Personalpolitik“ formuliert, die Anreize für eine längere Beschäftigung setzen soll. Als Elemente einer „Chemieformel zum demografischen Wandel“ werden genannt:
- Durchführung einer Demografieanalyse (Alters- und Qualifikationsstrukturen)
- Maßnahmen zur alters- und gesundheitsgerechten Gestaltung des Arbeitsprozesses mit dem Ziel der Verbesserung der Beschäftigungs- und Leistungsfähigkeit
- Maßnahmen zur Qualifizierung während des gesamten Arbeitslebens
- Maßnahmen der (Eigen-)Vorsorge und Nutzung verschiedener Instrumente für gleitende Übergänge zwischen Bildungs-, Arbeits- und Ruhestandsphase.
Die Demografieanalyse des Betriebes bzw. Unternehmens soll bis spätestens Ende 2009 durchgeführt und dann fortgeschrieben werden. Sie dient als Basis für die Durchführung konkreter Maßnahmen.
Auf betrieblicher Ebene wird ein Demografiefonds eingerichtet, in den der Arbeitgeber ab 2010 jährlich einen Betrag von 300 € je Beschäftigten einzahlt. Dieser Betrag wird ab 2011 um den jeweiligen Prozentsatz der Einkommenserhöhung des Vorjahres erhöht (Tarifdynamisierung). Im Rahmen einer freiwilligen Betriebsvereinbarung kann der Demografiebetrag (nur) für folgende Zwecke verwendet werden: Langzeitkonten, Altersteilzeit, Teilrente, Berufsunfähigkeitszusatzversicherung und tarifliche Altersvorsorge. Erfolgt bis Ende 2009 keine Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat, muss der Arbeitgeber in Betrieben mit bis zu 200 ArbeitnehmerInnen den Demografiebetrag für die tarifliche Altersvorsorge, in größeren Betrieben in Form eines Langzeitkontos zur Verfügung stellen. Die bisherigen tariflichen Regelungen zu Langzeitkonten und zur Arbeitsgestaltung gehen in veränderter Form ebenso wie die Tarifverträge zur Qualifizierung sowie zur Altersteilzeit in den neuen Tarifvertrag über.
Für die ostdeutsche chemische Industrie einigten sich die Tarifvertragsparteien am 27.5. auf einen Abschluss, nach dem die Entgelte, wie im Bundesgebiet West, um 4,4 % ab Mai 2008 und um weitere 3,3 % ab Juni 2009 erhöht werden. Auch die zusätzliche Einmalzahlung wurde übernommen. Die Tarifparteien einigten sich ferner auf eine Niveauangleichung an Berlin-West in Höhe von 2,0 und 1,98 % jeweils zahlbar ab Oktober 2008 und 2009. Damit wird die bereits 2002 im Grundsatz vereinbarte Anpassung der Osttarife an das Westniveau erreicht. Der Entgeltaufbau der Gruppen E 5 bis 8 wurde weiterentwickelt, dadurch steigen die Endstufen ab Oktober 2009 zwischen 0,6 und 2,6 %. Außerdem wurde vereinbart, dass in den Jahren 2008 und 2009 jeweils 700 Ausbildungsplätze angeboten werden. Der Tarifvertrag „Demografie und Lebensarbeitszeit“ wird auch im Bundesgebiet Ost umgesetzt.
Die IG BCE wertete den Tarifabschluss insgesamt als „zukunftsweisend“ und als „tarifpolitischen Meilenstein“. Auch die Chemie-Arbeitgeber beurteilten die Regelungen zur Ausbildung sowie zur Demografie und Lebensarbeitszeit als „wegweisend“. Mit den Tarifanhebungen sei man an die „Belastungsgrenze“ gegangen. Die lange Laufzeit von zwei Jahren und die Flexibilisierung der Einmalzahlung verschaffe den Unternehmen mehr Planungssicherheit (BAVC-Presseinformation vom 16.4.2008). BDA-Präsident Hundt warnte, wie bereits beim Stahlabschluss, dass die Einigung im Hinblick auf die Höhe der Belastung kein Maßstab für die gesamte Wirtschaft sein könne.
Quelle: WSI-Tarifbericht 1. Halbjahr 2008