Quelle: WSI
TarifarchivTarifrunde 2013: Bewachungsgewerbe
Die Tarifrunde im Bewachungsgewerbe Nordrhein-Westfalens stellt das herausragende Ereignis des Tarifjahres 2013 dar. Forderung, Durchführung und Ergebnis überraschten die Öffentlichkeit ebenso wie die professionellen Beobachter und Tarifexperten. Das Bewachungsgewerbe (auch Wach- und Sicherheitsgewerbe bzw. Sicherheitswirtschaft) zählt zu den Niedriglohnbereichen in der deutschen Wirtschaft.
Die Niedriglohnanalyse des Statistischen Bundesamtes auf Basis der Verdienststrukturerhebung 2010 weist für die privaten Wach- und Sicherheitsdienste einen Niedriglohnanteil von 60,3 % aus und selbst für tarifgebundene Betriebe liegt er danach noch bei 51,8 %. Der entsprechende Schwellenwert betrug 10,36 € (Statistisches Bundesamt 2012).
Die Daten lassen erkennen, dass auch die tarifliche Vergütung zu wünschen übrig lässt. Dies belegt auch eine aktuelle Analyse des WSI-Tarifarchivs: 68 % aller tariflichen Vergütungsgruppen der Branche lag Ende 2012 unter Stundenlohn von 10 € und knapp die Hälfte blieb unter dem von den Gewerkschaften als Mindestlohn geforderten Stundenlohn von 8,50 €. Dabei zeigt sich allerdings ein deutliches regionales Gefälle: Vor allem in den ostdeutschen Tarifgebieten aber auch in Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen und Rheinland-Pfalz fällt der Anteil der tariflichen Niedriglohngruppen besonders hoch aus (Bispinck/WSI-Tarifarchiv 2013).
Die Tariflandschaft im Bewachungsgewerbe ist vielschichtig: Tarifvertragsparteien der Branche sind ver.di und der Bundesverband der Sicherheitswirtschaft (BDSW) bzw. seine Landesverbände. Manteltarifverträge bestehen sowohl auf Landes- wie auch auf Bundesebene. Löhne und Gehälter werden dagegen nur auf Landesebene verhandelt. Dabei existieren in manchen Bundesländern eigene Verträge für bestimmte Bereiche und Beschäftigtengruppen (z.B. Geld und Wert). Die Laufzeiten der regionalen Verträge sind nicht einheitlich. In einigen Ländern wurden seit einigen Jahren keine neuen Vergütungstarifverträge mehr abgeschlossen, die alten Verträge befinden sich in der Nachwirkung bzw. es wurden Abschlüsse mit der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst und Dienstleistungen (GÖD) des Christlichen Gewerkschaftsbundes (CGB) vereinbart. Für die Mehrheit der Tarifbereiche laufen die bestehenden Lohn- und Gehaltstarifverträge bis Ende 2013. Nur in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen liefen die Vergütungstarifverträge Ende Dezember 2012 aus, so dass neue Tarifverhandlungen anstanden. In Baden-Württemberg wurde bereits am 6.12.2012 ein neuer Vertrag geschlossen. (1) In Hamburg enthielt der Lohntarifvertrag von 2012 eine Klausel, die Verhandlungen spätestens im November 2012 über Erhöhungen der Lohngruppe nach § 5 Luftsicherheitsgesetz (Luftsicherheitsassistenten) vorsah.
In NRW beschloss die Tarifkommission nach intensiver Diskussion im November 2012 ihre Forderungen:
- 2,50 €/Std. mehr für die Beschäftigten in den Lohngruppen 1-16 und 19
- Erhöhung der Löhne im Bereich Aviation auf 16 € für Beschäftigte nach §§ 5, 8 und 9 Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG)
- Erhöhung der Löhne der Werkfeuerwehr auf das Niveau des öffentlichen Dienstes
- Erhöhung der Ausbildungsvergütungen um 100 €
- Erhöhung der Gehälter um 150 € monatlich
- neue Eingruppierungsregeln
- Laufzeit von 12 Monaten
Umgerechnet auf den Stundenlohn in der untersten Lohngruppe von 8,15 € bedeuten 2,50 € eine Anhebung um 30,7 %. Im Aviation-Bereich beträgt der Stundenlohn für Luftsicherheitsassistenten nach § 5 LuftSiG 12,36 €, eine Anhebung auf 16 € entspricht einer Steigerung um 29,4 %. Diese Forderungen, noch dazu verknüpft mit einer Laufzeit von 12 Monaten, waren ein überdeutliches Signal, dass die herkömmliche Begründungsstruktur für Tarifforderungen für ver.di zumindest in dieser Tarifbewegung keine Gültigkeit hatte. Es ging der Gewerkschaft nicht um einen Ausgleich für die steigenden Lebenshaltungskosten und eine Teilhabe der Beschäftigten an der steigenden wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit (Arbeitsproduktivität). Alleiniger Maßstab war ein auskömmlicher Lohn: „Wir wollen weg von Niedriglöhnen und hin zu einem Lohn, der zum Leben reicht“, hieß es in einem ver.di-Flugblatt zur Tarifbewegung.
Verhandlungen und Ergebnis
Diese Forderung traf auf einen unvorbereiteten Arbeitgeberverband. In den vergangenen Jahren hatten sich die Tarifsteigerungen in der Branche insgesamt und auch in NRW im herkömmlichen Rahmen gehalten, sie lagen unter dem gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt. Offenkundig unter dem Eindruck des Forderungspakets legten die Arbeitgeber bereits in der 1. Verhandlungsrunde am 7.12.2012 ein Angebot vor, das folgende Punkte umfasste:
- 0,40 € mehr für die Lohngruppen 1-4, 6-16 und 19
- 0,52 € mehr für Lohngruppe 5
- 0,75 € mehr für Beschäftigte nach §§ 8 und 9 LuftSiG
- 1,14 € mehr für Beschäftigte nach § 5 LuftSiG
- 0,38 € mehr bei Löhnen der Werksfeuerwehr
- Laufzeit 12 Monate
Zu den übrigen Forderungen gab es keine Angebote. Bezogen auf die unterste Lohngruppe bedeutete das Angebot von 0,40 € eine Steigerung um 4,9 % und im Aviation-Bereich um 8,3 bzw. 9,2 %. Bereits dieses erste Angebot lag damit höher als jeder andere Abschluss in dieser Tarifrunde. Gleichwohl klaffte eine riesige Lücke zur gewerkschaftlichen Forderung. Ver.di forderte also eine „deutliche“ Erhöhung des Angebots. Die 2. Verhandlungsrunde am 18.12. brachte keine substanzielle Verbesserung, einen weiteren von ver.di vorgeschlagenen Verhandlungstermin lehnte der Arbeitgeberverband ab. Daraufhin sah ver.di keine realistische Verhandlungsperspektive mehr und erklärte die Verhandlungen für gescheitert.
Am 24. und 25.1. kam es zu ganztägigen Streiks an den Flughäfen Düsseldorf und Köln/Bonn sowie am 28.1. zu Arbeitskampfmaßnahmen am Kernbrennelementezwischenlager in Ahaus und bei der Werksfeuerwehr des Chemiewerks Solvay in Rheinberg. Nach Angaben von ver.di gab es eine Streikbeteiligung von bis zu 90 % und mehr. In der Folge der Streiks trafen die Tarifparteien am 7.2. zu einem Sondierungsgespräch zusammen, das aber ohne Ergebnis abgebrochen wurde. Ver.di setzte daraufhin weitere Streiks an. Ganztägige Arbeitsniederlegungen fanden am 14.2. am Düsseldorfer sowie am 15. und 18.2. am Kölner Flughafen statt. Es folgte ein „Tag der Bewachung“ am 19.2. in Düsseldorf und ein weiterer sechsstündiger Streik an den Flughäfen anlässlich der Luftsicherheitstage am 21.2.
Aufgrund des wachsenden Einigungsdrucks trafen sich die Verhandlungsparteien am 26.2. zu einem Sonderungsgespräch und am 1.3. zu einer offiziellen 3. Verhandlungsrunde, die wiederum ergebnislos blieb. Den bereits zu Jahresbeginn gemachten und mehrfach wiederholten Arbeitgebervorschlag, die Schlichtung anzurufen, lehnte ver.di immer wieder mit der Begründung ab, die Positionen der Parteien lägen für ein erfolgversprechendes Schlichtungsverfahren noch zu weit auseinander. Stattdessen kam es vom 7. bis 15.3. zu mehreren ganztägigen Streiks an den beiden Flughäfen und anderen betrieblichen Kampfmaßnahmen. Am 18.3. folgte die 4. Verhandlungsrunde. Die Arbeitgeber stockten nun erstmals ihr Angebot im Bereich der Bewachung um 2 Cent auf. Für 2014 sollten die Lohnsteigerungen deutlich geringer ausfallen als in 2013. Das reichte erwartungsgemäß nicht für eine Einigung, aber die Tarifparteien verständigten sich auf eine Schlichtung unter Vorsitz des Landesschlichters von NRW, Bernhard Poll- meyer. Die Schlichtungsverhandlungen fanden am 27.3. und 5.4. statt. Der Schlichterspruch fand die Zustimmung der Arbeitgeberseite und wurde auch von der ver.di-Tarifkommission einstimmig angenommen. Er sah nach 4 Nullmonaten (Januar bis April) die Anhebung der Lohngruppen zum 1.5.2013 sowie eine Stufenanhebung zum 1.1.2014 vor und zwar in folgender Höhe:
- Unterste Lohngruppe: + 5,8/4,4 % (Gesamterhöhung 10,5 %)
- Fracht-, Personen- und Warenkontrolle an Verkehrsflughäfen: + 8,3/8,2 % (insgesamt 17,2 %)
- Passagierkontrolle: + 10,0/8,1 % (insgesamt 18,9 %)
- im Durchschnitt aller Lohngruppen: + 4,7/3,9 % (insgesamt 8,8 %)
- Gehälter und Ausbildungsvergütungen: + 3,5/3,5 %
- Erhöhung der Zulage in der Personen- und Warenkontrolle an Verkehrsflughäfen auf 1,50 €
- Laufzeit: 24 Monate
- Verhandlungsverpflichtung für eine neue Lohnstruktur
- Wiederinkraftsetzen des Manteltarifvertrages
Das Ergebnis führte indirekt auch zu einer Einigung im Tarifgebiet Hamburg. Dort hatte ver.di für die Luftsicherheitsassistenten ebenfalls nach mehreren Streikaktionen am 11.3. ein erstes Verhandlungsergebnis erzielt, das eine Tarifsteigerung von gut 15 % beinhaltete. In einer Mitgliederbefragung sprachen sich jedoch 75 % nicht für die Annahme, sondern für eine Schlichtung aus. Diese fand, nach dem Abschluss in NRW, erneut unter Vorsitz des NRW-Landesschlichters Pollmeyer statt und führte zu einem verbesserten Ergebnis von ebenfalls rund 18 % Tarifsteigerung bis Ende 2014.
In NRW sprachen sich in der anschließenden Mitgliederbefragung 87,04 % für die Annahme des Schlichterspruchs aus. Ver.di bewertete den Abschluss durchweg positiv: „Durch die hohe Streikbereitschaft konnten wir eine neue Tarifpolitik in der Branche einleiten“, sagte ver.di-Verhandlungsführerin Andrea Becker. Ver.di habe die Niedriglöhne in der Branche noch nicht beseitigt, konnte sie aber wesentlich stärker als in anderen Branchen anheben. Die Richtigkeit dieser Einschätzung zeigt sich insbesondere bei den für die Gewerkschaft zentralen Vergütungsgruppen: Die unterste Lohngruppe, in der laut ver.di über 70 % der Beschäftigten eingruppiert sind, steigt in zwei Jahren um 10,5 %, die Lohngruppe der Beschäftigten in der Passagierkontrolle erhöht sich im gleichen Zeitraum sogar um 18,9 %. Diese Abschlussraten liegen zwei- bis dreifach so hoch wie die durchschnittlichen Abschlussraten der länger laufenden Tarifabschlüsse dieser Tarifrunde.
Die Gründe für diesen Erfolg sind vielschichtig: Zum einen ist es ver.di gelungen, seine Forderung und vor allem ihre Begründung in der Öffentlichkeit gut zu verankern. Die Polemik der Arbeitgeber gegen die „unzumutbare“ 30 %-Forderung verfing nicht, weil ver.di sich auf die Prozentrechnung gar nicht erst einließ, sondern konsequent bei ihrer Grundaussage blieb, dass sie Löhne durchsetzen wolle, von denen die Beschäftigten leben können. Diese Argumentation fiel auch insofern auf fruchtbaren Boden, weil der gesellschaftliche Unmut über sich ausbreitende Niedriglöhne und Lohndumping mittlerweile weit verbreitet ist. Das hat dazu geführt, dass die Sympathien der Öffentlichkeit und auch der unmittelbar betroffenen Passagiere lange Zeit auf Seiten der Beschäftigten blieben und es nicht zum gefürchteten Spießrutenlaufen für die Gewerkschaft kam. Zum andern nutzte ver.di erfolgreich die Durchsetzungskraft der gut organisierten und kampfstarken Beschäftigten im Sicherheitsbereich der Flughäfen für die gesamte Branche und überspielte damit die relative Schwäche im regulären Bewachungsgewerbe.
(1) Ver.di hatte in Baden-Württemberg eine Tariflohnerhöhung von 6 % gefordert und für die Stundenlöhne im Bereich Aviation eine Anhebung auf 13 € bzw. 13,50 €. Im Schnitt stiegen die Tariflöhne dann um 2,9 % und im Aviation-Bereich um 8,2 % bei einer Laufzeit von 12 Monaten.