Patrick Sachweh/Evelyn Sthamer, 13.12.2018: Sozialer Abstieg oder Stillstand?
Privilegierte und benachteiligte soziale Gruppen driften immer weiter auseinander. Hinter dieser kritischen Wahrnehmung sozialer Ungleichheit in Deutschland steht nicht ein kollektiver sozialer Abstieg, sondern die Abkoppelung unterer Einkommensschichten vom Wohlstandswachstum und blockierte Chancen auf Aufstieg.
In Deutschland hat sich in den letzten Dekaden ein tiefgreifender Gestaltwandel sozialer Ungleichheiten vollzogen. Bestimmte bis Ende der 1980er Jahre noch das Bild einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ das gesellschaftliche Selbstverständnis, prägen gegenwärtig Tendenzen einer Polarisierung materieller Lagen die öffentliche Debatte (Vietze 2017). So schrumpfte im Zuge eines rapiden Anstiegs der Einkommensungleichheit, der zwischen 2000 und 2005 stattgefunden hat, die Einkommensmittelschicht kontinuierlich, während der Anteil armer und wohlhabender Haushalte zugenommen hat (Grabka/Frick 2008; Groh-Samberg 2017). Trotz der positiven ökonomischen Entwicklung der letzten Jahre – sichtbar in weitgehend stabilem Wachstum, sinkender Arbeitslosigkeit und wachsender Erwerbsbeteiligung – flossen Einkommenszuwächse überwiegend an das obere Zehntel der Einkommensverteilung, während die Realeinkünfte in der Mitte stagnierten und in den untersten Einkommensgruppen sogar zurückgingen (Grabka/Goebel 2017). Entsprechend beobachten wir am unteren Rand der Sozialstruktur eine zunehmende Verfestigung von Armutslagen: Sowohl innerhalb des eigenen Lebenslaufs als auch in der Generationenfolge ist das Risiko gestiegen, in einer Armutslage zu verbleiben (Groh-Samberg 2015; Legewie/Bohmann 2017). Dem steht am anderen Ende der Ungleichheitsordnung eine gleichermaßen ausgeprägte wie stabile Konzentration von Vermögen im obersten Viertel der Bevölkerung gegenüber, dem es gelingt den eigenen Wohlstand an nachfolgende Generationen zu vererben (Tiefensee/Spannagel 2018). Flankiert und teils mit befördert wurde die Vertiefung sozialer Ungleichheiten durch einen marktorientierten Wandel der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Steuerpolitik, der eine Schwächung der Gewerkschaften, den Ausbau prekärer Beschäftigung, die Senkung von Spitzensteuersätzen sowie einen schrittweisen Rückbau statussichernder Sozialpolitik zugunsten von Aktivierung und Eigenverantwortung beinhaltete.
Diese Ungleichheitsdynamik einer wachsenden ökonomischen Polarisierung einerseits und der Verfestigung von Benachteiligung und Privilegierung andererseits spiegelt sich auch in den Wahrnehmungen der Bürgerinnen und Bürger wider. In einer aktuellen Umfrage im Rahmen eines Forschungsprojektes an der Goethe-Universität Frankfurt1 haben wir die Menschen gefragt, welche Form die deutsche Gesellschaft in ihren Augen hat. Ein gutes Drittel meinte, die Gesellschaft gleiche einer Pyramide, in der wenige oben, einige in der Mitte und viele unten seien; weitere 45 Prozent waren sogar der Auffassung, die Gesellschaft gleiche einer Sanduhr, mit einigen oben, wenigen in der Mitte und vielen unten. Entsprechend stimmten knapp 90 Prozent der Befragten der Auffassung zu, die Einkommensunterschiede in Deutschland seien zu groß.
Fragt man konkreter danach, welches die drängendsten gesellschaftlichen Ungleichheitsprobleme seien, sehen wir, dass knapp zwei Drittel der Befragten es als problematisch empfinden, wenn Menschen trotz Vollzeiterwerbstätigkeit auf Sozialleistungen angewiesen sind. Ein Teilnehmer der Gruppendiskussionen, die wir im Kontext unserer Forschung durchgeführt haben, kritisierte, „dass es viele, viele Leute gibt, die in diesem Land hart arbeiten […] aber trotzdem nicht angemessen dafür am Ende belohnt werden, ja? Und am Ende des Tages […] vielleicht noch irgendwie vom Staat die ein oder andere Unterstützung brauchen, um überhaupt über die Runden zu kommen.“ (Call-Center-Agent, 29 Jahre). Zudem erachtet gut die Hälfte der Befragten die Schrumpfung der Mittelschicht und ein Anwachsen von Arm und Reich als ein Problem. Diese Wahrnehmungen spiegeln die oben skizzierten Tendenzen zur Polarisierung sozio-ökonomischer Lagen in der Gesellschaft wider.
Weiterhin sehen weniger als die Hälfte, aber immer noch mehr als 40 Prozent der Befragten Ungleichheit dann als problematisch, wenn die Einkommen hinter den Lebenshaltungskosten zurückbleiben, die Anforderungen an die Erwerbstätigkeit in Familien steigen und Bildung nicht zu einem sicheren Arbeitsplatz führt. Neben den „Oben-Unten-Ungleichheiten“ (Mau 2016) sich verschärfender sozialer Spaltungen sind es also die sozialen Unsicherheiten und der wachsende Druck einer zunehmend marktbestimmten Lebensführung, die gesellschaftlich problematisiert werden.
Diese Wahrnehmungen reflektieren ein Stück weit jene Debatten, denen zufolge sich Abstiegsängste und statusbezogene Unsicherheiten in der Gesellschaft ausgebreitet hätten und mitunter bis weit in die Mittelschichten hineinreichen (Mau 2012; Nachtwey 2016). Schauen wir uns in unseren Umfragedaten jedoch an, wie die Menschen die Entwicklung ihres eigenen mittel- und langfristigen Lebensstandards sowie die Entwicklung des künftigen Lebensstandards ihrer Kinder einschätzen, ergibt sich ein etwas anderes Bild (siehe Abbildung ganz oben). So erwarten 36 Prozent der Befragten in den unteren Einkommensgruppen eine Verschlechterung (bzw. keine Verbesserung) ihres Lebensstandards, während in der Einkommensmitte etwa 16 Prozent und in den oberen Einkommensgruppen 9 Prozent von einer Verschlechterung ausgehen. Kurz- bis mittelfristige Statussorgen sind somit klar bei den Armen und in der unteren Mittelschicht verortet.
Etwas anders sieht es bei den längerfristigen Abstiegsbefürchtungen aus. Zwar sind es auch hier überwiegend die unteren Einkommensgruppen, unter denen 66 Prozent auch für das Alter einen schlechten Lebensstandard erwarten. Gleichzeitig sorgen sich jedoch gut die Hälfte der Befragten in der Einkommensmitte sowie 38 Prozent derjenigen in den oberen Einkommensgruppen um eine verschlechterte Lage im Alter. Und Erwartungen einer negativen Entwicklung des Lebensstandards der Kinder sind in den mittleren und oberen Einkommenslagen mit je 34 Prozent sogar etwas verbreiteter als in den unteren Einkommensgruppen, wo 24 Prozent von einer weiterhin schlechten Lebenslage der Kinder ausgehen. Es sind nach diesen Befunden also insbesondere die längerfristigen Statussorgen um das eigene Auskommen im Alter oder um die künftige Lage der Kinder, die von größeren Teilen der mittleren wie auch der höheren Schichten geteilt werden (vgl. Schöneck et al. 2011).
Vor allem aber sehen wir in den unteren Einkommensgruppen deutlich ausgeprägte Erwartungen an ein „Verharren“ in benachteiligten Positionen, welche die Perspektiven auf die eigene Lebenslage prägen. Ein Teilnehmer unserer Gruppendiskussionen äußerte dies folgendermaßen: „Du musst einfach immer mehr arbeiten, damit Du deinen aufgebauten Lebensstandard halten kannst. Du kannst ihn nicht verbessern, nur dass Du ihn halten kannst. Verbessern kannst Du ihn nicht“ (Bauarbeiter, 44 Jahre). Hierin spiegeln sich die zuvor beschriebenen Tendenzen einer Verfestigung von armen und prekären Lebenslagen wider. Dies zeigt sich auch darin, dass ein Viertel der Menschen in der unteren Einkommensgruppe erwartet, in den nächsten 5 Jahren in einer materiell prekären Lage zu sein.
Insgesamt verweisen die von uns präsentierten Befunde darauf, dass die Menschen – im Einklang mit den objektiven Entwicklungen – die zentrale Ungleichheitsproblematik in Deutschland vor allem in dem Auseinanderdriften privilegierter und benachteiligter Soziallagen und in der Entkoppelung benachteiligter Gruppen von der allgemeinen Wohlstandsentwicklung sehen. Dies wirft die Frage auf, inwiefern nicht ein kollektiver sozialer Abstieg, sondern ein Stillstand in benachteiligten Statuslagen und Blockaden eines sozialen Aufstiegs die zentralen Quellen gesellschaftlichen Unbehagens an der Ungleichheit in Deutschland sind.
Literatur
Grabka, Markus M./Frick, Joachim R. (2008): Schrumpfende Mittelschicht – Anzeichen einer dauerhaften Polarisierung der verfügbaren Einkommen. DIW Wochenbericht 10/2008: 101-108
Grabka, Markus M./Goebel, Jan (2017): Realeinkommen sind von 1991 bis 2014 im Durchschnitt gestiegen – erste Anzeichen für wieder zunehmende Einkommensungleichheit. DIW Wochenbericht 4/2017: 71-82
Groh-Samberg, Olaf (2015): No Way Out. Dimensionen und Trends der Verfestigung der Armut in Deutschland. Sozialer Fortschritt 63(12) 307–314
Groh-Samberg, Olaf (2017): Inmitten der Ungleichheit: Entwicklungen der deutschen Mittelschicht. Gesellschaft – Wirtschaft – Politik 66 (2): S. 213-224
Legewie, Nicolas/Bohmann, Sandra (2018): Sozialer Auf- und Abstieg: Angleichung bei Männern und Frauen. DIW Wochenbericht 20/2018: 422-431
Mau, Steffen (2012): Lebenschancen. Wohin driftet die Mittelschicht? Berlin: Suhrkamp
Mau, Steffen (2016): Ungleichheit ist längst kein Monopol der Linken mehr. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 25.09.2016, S. 31
Nachtwey, Oliver (2016): Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. Berlin: Suhrkamp
Schöneck, Nadine M./Mau, Steffen/Schupp, Jürgen (2011): Gefühlte Unsicherheit. Deprivationsängste und Abstiegssorgen der Bevölkerung in Deutschland. SOEPpapers on Multidisciplinary Panel Data Research, Nr. 428
Tiefensee, Anita/Spannagel, Dorothee (2018): Ungleichheit der Einkommen und Vermögen in Deutschland. WSI Mitteilungen 71(5): 413-419 (Die WSI-Mitteilungen sind über den Nomos-Verlag erhältlich)
Vietze, Florian (2017): Jenseits von Stand und Klasse? Die Problematisierung „neuer“ und „alter“ Ungleichheiten im medialen Gerechtigkeitsdiskurs seit 1946 – Eine Deutungsmusteranalyse.Soziale Probleme 28 (1): 3–23.
[1] DFG-Projekt „Ungleichheitsdeutungen und Gerechtigkeitsorientierungen in Deutschland“ (SA 2812/1-1), Laufzeit 02/2015-12/2018, https://dfgungleichheitgerechtigkeit.wordpress.com
Dr. Patrick Sachweh ist ist Soziologe im Exzellenzcluster Normative Orders der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Leiter des DFG-Projekts „Ungleichheitsdeutungen und Gerechtigkeitsorientierungen in Deutschland“. Seine Forschungsthemen sind soziale Ungleichheit, Soziologie des Wohlfahrtsstaates, Sozialpolitik und Methoden der empirischen Sozialforschung.
Evelyn Sthamer ist Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Ungleichheitsdeutungen und Gerechtigkeitsorientierungen in Deutschland“ an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie forscht zu Armut, sozialer Ungleichheit und Sozialpolitik.