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Wolfgang Kowalsky, 18.10.2019: Spitzenkandidaten, transnationale Listen und andere Ideen aus der Brüsseler Blase
Das Spitzenkandidaten-System sollte die demokratische Legitimation des europäischen Parlaments stärken. Dass im Mai mehr Bürger zur Wahl gegangen waren, lag aber nicht daran.
Die demokratische Legitimität des Europäischen Parlaments wird häufig in Frage gestellt. Es ist nicht vergleichbar mit „normalen“ nationalen Parlamenten und versucht beständig, seine Legitimität irgendwie unter Beweis zu stellen oder zu stärken. Das auffälligste Problem ist, dass das Prinzip „eine Frau/ein Mann – eine Stimme“ nicht umgesetzt wird. Es gibt auch keine pragmatische Lösung dafür, denn dieses Prinzip vollständig einzuhalten würde ein Parlament mit mehreren Tausend Abgeordneten bedeuten. Daher wird nach anderen Wegen gesucht, um die demokratische Legitimation zu erhöhen.
Zwei Ideen werden von den „Insidern“ besonders vertreten: das System der Spitzenkandidaten (für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission) und transantionale Listen. Beide sind von guten Absichten getragen, erhöhen die demokratische Legitimität aber nicht wirklich – im Gegenteil. Die letzten beiden Spitzenkandidaten der größten Gruppen – Frans Timmermans (Sozialdemokratische Partei Europas) und Manfred Weber (Europäische Volkspartei) – standen in den Niederlanden (17 Millionen Einwohner) bzw. Deutschland auf den Abstimmungslisten, dabei allerdings nicht in Deutschland insgesamt, sondern nur in einem der 16 Bundesländer, in Bayern (13 Millionen). Mit anderen Worten: Über 90 Prozent der europäischen Bürger/innen hatten gar keine Möglichkeit, an der Wahl des europäischen Spitzenkandidaten teilzunehmen.
Warum also verteidigt die Brüsseler Blase dieses System so energisch? Die Verteidigung beruht auf der ideologischen Annahme, dass man ein guter, oder besserer, Europäer ist, wenn man diese Idee unterstützt. Für die beiden größten europäischen politischen Parteien, die christdemokratische EVP und die sozialdemokratische PES, liegt die Begründung jedoch auf der Hand: Das Duopol einer Machtverteilung zwischen den beiden Parteien würde damit verewigt.
Für die Grünen wie auch für die Linken steht die Verteidigung eines solchen Systems im Widerspruch zu ihren eigenen Interessen. Beide haben viel Energie darauf verwendet, das Spitzenkandidaten-System durchzusetzen – statt für etwas Substantielles und Ambitioniertes zu kämpfen, gegen den Klimawandel oder für Fortschritte in Richtung eines Sozialen Europas.
Transnationale Listen
Ein anderer Ansatz, die Legitimität zu stärken, besteht darin, die nationalen Listen um transnationale Listen zu ergänzen. Es ist nicht klar, ob alle Parteien eine zusätzliche transnationale Liste hätten – aber aus demokratischer Sicht ist diese Idee jedenfalls nicht viel besser.
Eine große Mehrheit der europäischen Bürger/innen geht zur Wahl, wenn sie dazu aufgerufen wird, über den Stadtrat abzustimmen, über regionale Gremien oder die Nationalversammlung. Die europäische Ebene war jedoch über Jahre hinweg stiefmütterlich behandelt worden – als Wahl zweiter Ordnung, wie es die Politikwissenschaftler formulierten, und die Beteiligung ging stetig zurück. Nun, in Zeiten von globalen Spannungen, Handelskrieg und insbesondere der Erosion der Europäischen Union (Brexit u.ä.), ist die breite Masse der Bürger/innen im Mai zur Wahl gegangen, um Europa in einem gefährlichen Umfeld zu stärken und um Nein zu sagen zu antieuropäischen Kräften.
Die Brüsseler Insider haben diese Zunahme der Wahlbeteiligung missverstanden, so als würde sie mit der Spitzenkandidaten-Idee zusammenhängen – obwohl außerhalb der Blase niemand diese seltsame Debatte überhaupt zur Kenntnis nimmt. Aber das Europäische Parlament wandelt weiter geschlossen auf dem Pfad der Spitzenkandidaten-Idee, wobei die Pfadtreue stärker ist als der politische Wille und überzeugende Argumente. Die Idee ist zum Mantra geworden, das niemand anzugreifen wagt.
Ein Schritt in die richtige Richtung wäre es, noch einmal neu zu überlegen, wie die europäischen Bürger/innen Einfluss auf die Wahl des Kommissionspräsidenten gewinnen können. Eine tiefgreifende Reform der Europäischen Union – und vielleicht ihres Wahlsystems, um es europäischer zu machen, weniger auf nationale Fragen ausgerichtet – ist notwendig, aber das Spitzenkandidaten-System ist nicht Teil der Lösung.
Angenommen, die transnationalen Listen würden alle EU-Mitgliedstaaten abdecken: Ein auf einer solchen Liste gewählter Kandidat hätte keinen konkreten Wahlkreis, sondern würde in der Luft hängen. Wie könnte eine gewählte Person unter solchen Bedingungen mit den Wählern in Kontakt bleiben, sei es in Estland, Portugal, Griechenland oder Irland? Müsste sie/er überall in diesen Ländern herumreisen und alle Sprachen sprechen? Oder würde das alles über „Social Media“ in einer Sprache laufen, Globisch, also ein simplifiziertes Englisch?
Neue Nomenklatura
Personen, die über transnationale Listen ins Parlament kämen, wären so weit von den Lebenswirklichkeiten vieler Menschen entfernt, dass sie eine neue technokratische europäische Nomenklatura bilden würden, die letztlich schädlich für die Demokratie wäre. Alle bisherige Kritik an der europäischen Technokratie und Bürokratie würde wie eine selbst erfüllende Prophezeiung erscheinen.
Lasst uns diese Ideen begraben, die zwar voller guter Absichten, aber nicht gründlich durchdacht sind. Im Jahr 2014 hat der Spitzenkandidaten-Prozess dem Parlament neue informelle Befugnisse verschafft, die sich inzwischen aufgelöst haben – und das ist kein Verlust für die Demokratie. Das Europäische Parlament hat dahingegen mit jeder Vertragsänderung an formeller Macht gewonnen. Sollte die neue Kommission eine Regierungskonferenz für eine Vertragsänderung vorschlagen, müssen andere Wege beschritten werden. Im Mittelpunkt dieser Überlegungen muss die Stärkung der wahren Demokratie stehen.
Dieser Beitrag ist die Übersetzung eines Artikels von Wolfgang Kowalsky, der am 24. September 2019 auf Social Europe erschienen ist.
Autor
Dr. Wolfgang Kowalsky ist Politikwissenschaftler und seit 1998 Referent beim Europäischen Gewerkschaftsbund.