Quelle: dpa / Sascha Steinach
Florian Blank, 08.09.2021: 67, 68, 69, 70 …
Anhebung des Rentenalters? Kein Wahlkampfthema. Wortmeldungen aus der Wirtschaft geben aber einen Eindruck davon, welche Debatten nach der Bundestagswahl auch in der Politik losbrechen können. Grund genug für ein paar Anmerkungen
Im Bundestagswahlkampf besteht eine bemerkenswerte Kluft zwischen den Positionen und Auseinandersetzungen der Parteien einerseits und andererseits dem Druck von Wirtschaftsverbänden, Lobbyorganisationen und manchen Wissenschaftler:innen, ein Thema auf die Agenda zu setzen – dem die Wahlkämpfer nicht nachgeben. Das Thema ist die Verlängerung der Lebensarbeitszeit durch Anhebung des Renteneintrittsalters. Wurde das Thema von der „Kommission Verlässlicher Generationenvertrag“ im Frühjahr 2020 noch an die Politik zurückgespielt (unter Hinweis auf den laufenden Prozess des Anhebens des Rentenalters auf 67), äußerten sich im Sommer 2020 eine Kommission der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), im Herbst 2020 der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und im Jahr 2021 die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, das Institut der deutschen Wirtschaft, der Wissenschaftliche Beirat beim Wirtschaftsministerium und der Präsident des Ifo-Instituts mit Vorschlägen, dass und wie das Renteneintrittsalter anzuheben sei.
Trotz dieser Phalanx herrscht in der politischen Arena eher Schweigen. Wirtschaftsminister Altmaier (CDU) wies die Vorschläge des Beirats zurück. Sicher ist diese Ruhe auch dem Wahlkampf geschuldet – das Thema ist mit Blick auf einen großen Teil der Bevölkerung kein Gewinnerthema. Keine der im Bundestag vertretenen Parteien fordert offen eine Anhebung des Rentenalters, die Mehrheit der Parteien bekennt sich zur laufenden Anhebung auf 67 Jahre (Zusammenfassungen der Vorschläge in den Wahlprogrammen durch die Gewerkschaften finden sich hier, hier und hier). Anzahl, Geschlossenheit und Ton der Wortmeldungen außerhalb der Parteien geben aber einen Eindruck davon, welche Debatten nach der Bundestagswahl auch in der Politik losbrechen können. Es lohnt daher, auf verschiedene Aspekte der Diskussion um das Renteneintrittsalter hinzuweisen.
Länger leben – länger arbeiten?
Zunächst einmal ist das Anheben des Renteneintrittsalters nicht alternativlos. Hintergrund der Vorschläge ist die zu beobachtende steigende Lebenserwartung und der nahende Renteneintritt der „Babyboomer“ – der Menschen, die zu den geburtenstarken Jahrgängen gehören, die Mitte der 1950er bis Ende der 1970er Jahre das Licht der Welt erblickten. Auch wenn diese demografischen Verschiebungen Sorgen um die Zukunft der Rentenversicherung nahelegen mögen: Es gibt mehr Stellschrauben in der Rentenversicherung als nur die Altersgrenze, und auch die Rahmenbedingungen der Alterssicherung können politisch beeinflusst werden. Und unabhängig von der Technik gilt es auf einige Dinge hinzuweisen, die viel mehr Beachtung verdient hätten. Doch zunächst einmal – kurz – zu den eher technischen Aspekten:
Neben den Reformoptionen innerhalb der Rentenversicherung, also den Leistungen, den Beitragssätzen, dem Renteneintrittsalter und dem Bundeszuschuss, bestehen erhebliche Spielräume in der „Umwelt“ der Rentenversicherung. Das betrifft vor allem den Arbeitsmarkt und die Lohnentwicklung. Denn die Änderung des Verhältnisses der Anzahl von älteren und jüngeren Menschen schlägt sich erst vermittelt durch den Arbeitsmarkt in der Rentenpolitik nieder. Das relevante Verhältnis ist das von Leistungsbezieher:innen und Beitragszahler:innen. Und daher kann ein Anstieg der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung die Finanzierung der Rente auf mehr Schultern verteilen. Außerdem ermöglichen angemessene Reallohnsteigerungen sowohl höhere Sozialabgaben als auch mehr Konsum. Damit rücken Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik in den Fokus der Diskussion.
Aber auch wenn steigende Beitragssätze angenommen werden, stellt sich die Frage, ob mit einer Anhebung des Renteneintrittsalters (oder Leistungskürzungen) reagiert werden muss. Ob steigende Ausgaben der Rentenversicherung – oder anderer sozialpolitischer Programme – bezahlbar oder „tragbar“ sind, kann nur politisch entschieden werden. Eine rein wissenschaftliche Bestimmung von „Tragbarkeit“, „Tragfähigkeit“ oder „Nachhaltigkeit“ gibt es in der Sozialpolitik nicht. Der politische Charakter der Entscheidung, was tragbar ist, gilt natürlich unabhängig davon, ob steigende Ausgaben durch einen Anstieg der Zahl der Leistungsbezieher:innen bewirkt werden oder durch großzügigere Leistungen. Aus Beschäftigtensicht ist für die Bewertung zentral, wie sich die Reallöhne netto entwickeln und ob den Beiträgen eine faire Gegenleistung gegenübersteht. Berechnungen, die im Rahmen der Kommission „Verlässlicher Generationenvertrag“ erstellt wurden, besagen, dass eine Anpassung der Regelaltersgrenze nach der Formel „zwölf Monate Anstieg der Lebenserwartung = acht Monate Anhebung der Altersgrenze“ gegenüber dem verwendeten Basisszenario zu einer Beitragssatzentlastung von 0,5 Punkten bis 2045 führen würden. Bis 2060 betrüge die „Entlastung“ einen Beitragssatzpunkt. Der Beitragssatz wird paritätisch getragen. Das Beibehalten der aktuellen Altersgrenze würde damit die Beschäftigten also 0,25 bzw. 0,5 Punkte Beitragssatz kosten (Kommission 2020, S. 93; vgl. auch den Bericht des Wissenschaftlichen Beirats des Wirtschaftsministeriums).
Die Folgen höherer Beiträge für Arbeitgeber sind unklar und hängen von vielen Faktoren ab. Es ist aber schwierig, von Beiträgen, die über einen längeren Zeitraum langsam ansteigen, etwa auf Rationalisierungsdruck, abnehmende Investitionen oder Arbeitsplatzabbau zu schließen. Der Grund ist, dass die Sozialversicherungsbeiträge nur einen Teil der Arbeitskosten ausmachen (neben den Lohnkosten, aber auch beispielsweise neben freiwilligen Sozialleistungen) und kaum kalkuliert werden kann, wie sich das Gefüge der gesamten Arbeitskosten im Zeitverlauf ändern wird. Um es einmal an einem Beispiel zu verdeutlichen: Ein Anstieg des gesamten, paritätisch getragenen Sozialversicherungsbeitrags um zehn Prozentpunkte führt zu einem Anstieg der Bruttoarbeitskosten von etwas über drei Prozent, der dann auch noch schrittweise über die Jahre und Jahrzehnte erfolgt (Hintergründe dieser Berechnung siehe hier). Außerdem kann pauschal nicht gesagt werden, ob diese Kosten beim Arbeitgeber hängen bleiben (und Gewinne reduzieren oder etwa zu Rationalisierungsmaßnahmen führen), ob sie an Abnehmer und Verbraucher:innen weitergegeben oder mit anderen Bestandteilen der Arbeitskosten oder künftigen Lohnsteigerungen verrechnet werden.
Schließlich gehen Forderungen nach einer Anhebung des Renteneintrittsalters und der Verlängerung der Lebensarbeitszeit an der Lebenswirklichkeit vieler Menschen vorbei. Studien zeigen, dass beruflicher Status, Arbeitsbelastungen und Einkommen deutlich mit der Lebenserwartung zusammenhängen (DIW 2021, IAQ 2019). Aus dem durchschnittlichen Anstieg der Lebenserwartung auf eine einheitliche Anhebung der Altersgrenze zu schließen, führt zu Problemen und neuen Ungerechtigkeiten (was von einigen der Befürworter:innen eines früheren Rentenalters durchaus anerkannt wird).
Worüber wird nicht diskutiert?
Was in dieser Diskussion hintenüber zu fallen droht, ist zunächst die sozialpolitische Frage, was denn eine angemessene Rente ist und was eine faire Gegenleistung für die Beiträge aus Sicht der Beitragszahler:innen darstellt. Wie schon bei den Reformen um die Jahrtausendwende wird das Pferd von hinten aufgezäumt: Anstatt von sozialpolitischen Zielsetzungen auszugehen, werden sozialpolitische Maßnahmen als „Belastung“ gerahmt und Finanzierungsfragen in den Mittelpunkt gestellt.
Hinter dieser Schwerpunktsetzung und dem vermeintlichen Sachzwang, das Renteneintrittsalter erhöhen zu müssen, steht vor allem ein Verteilungskonflikt. Dieser wird teils als „Generationenkonflikt“ dargestellt, aber dieses Schlagwort verdeckt deutlich mehr, als dass es erhellt. Von niedrigeren Beitragssätzen würden Beschäftigte und Arbeitgeber gemeinsam profitieren, der Gewinn der Beschäftigten würde aber von ihnen durch eine längere Arbeitsphase bezahlt. Es geht also um eine sehr einseitige Verschiebung von Kosten. Und die jüngere Generation würde ein Rentensystem erben, in dem die längere Lebensarbeitszeit vorgegeben ist.
Worüber kaum diskutiert wird, ist schließlich die Frage, wofür die Verlängerung der Lebenszeit denn genutzt werden sollte – auch und gerade aus Sicht der Menschen. Es erscheint als gesetzt, dass eine politische Abwägung zwischen Ruhestand und Erwerbsarbeit getroffen werden muss, und es wird Druck ausgeübt, der Erwerbsarbeit einen Teil der gewonnenen Jahre zu widmen. Aber die Diskussion stellt sich anders dar, wenn die fiskalischen Aspekte einmal nicht in den Vordergrund gerückt werden: Wie viel Arbeit ist denn genug? Wie sieht eine gelingende Balance zwischen Erwerbsarbeit und anderen Lebensphasen aus? Die steigende Lebenserwartung könnte also zu einer Debatte führen, wie die Dauer verschiedener Lebensphasen auszutarieren ist. Das kann eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit (natürlich zu guten Arbeitsbedingungen und Löhnen) bedeuten – muss es aber nicht. Vorstellbar wäre auch, Zeiten der Sorgearbeit, des gesellschaftlichen und politischen Engagements und der Freizeit – die ja auch häufig nicht einfach „frei“ ist, sondern der Regeneration der Arbeitskraft und der Selbst-Sorge dient – mit in die Diskussion aufzunehmen. Es könnte auch bedeuten anzuerkennen, dass mit Erreichen des Rentenalters für viele Menschen gar kein Ruhestand erreicht ist, sondern dass die Phase mit gesellschaftlich relevanter Tätigkeit gefüllt wird und auch damit, andere bei der Erwerbstätigkeit zu unterstützen (etwa die eigenen Kinder). Dann wäre ein möglicher sozialpolitischer Schluss, dass Menschen auf eigenen Entschluss hin zwar länger arbeiten, aber zu früheren Zeitpunkten auch die Erwerbsarbeit aussetzen dürfen. Anders gesagt: Was wäre eigentlich schlimm daran, wenn gewonnene Lebenszeit nicht der Erwerbsarbeit gewidmet wird? Und entstehen damit nicht Spielräume für mehr Flexibilität im Sinne der Menschen?
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Autor
Dr. Florian Blank ist Experte für Sozialpolitik und forscht insbesondere zu Fragen der Sozialversicherung in Deutschland und Europa.