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Elke Ahlers, 07.10.2020: Arbeitsschutz in der Corona-Krise: Hohe Standards für alle!

Corona hat erneut sichtbar gemacht, wie ungleich der Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz je nach Beschäftigungsform ausfällt – und im Zweifel den wirtschaftlichen Interessen der Unternehmen untergeordnet wird.

Arbeits- und Gesundheitsschutz stößt in vielen Beschäftigungsbereichen an Grenzen – das hat sich in der Corona-Pandemie erneut und diesmal sehr deutlich gezeigt. In Supermärkten, in Schulen und Kitas, in Krankenhäusern und Altenpflegeheimen fühlen sich viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht ausreichend durch den Arbeitgeber vor gesundheitlichen Risiken durch das Coronavirus geschützt. Dies galt ganz besonders zu Beginn der Krise, als Schutzkleidung, Masken und verbindliche Schutzregularien fehlten, trifft aber in abgeschwächter Form auch heute noch zu. Hinzu kommt, dass die Coronakrise die beschämenden Arbeitsbedingungen der Erntehelfer, der entsandten Beschäftigten in der Fleischindustrie sowie der 24/7-Pflegekräften in Privathaushalten in die öffentliche Aufmerksamkeit gerückt hat. Die in den Medien gezeigten Berichte und Bilder sind teilweise erschütternd und legen die Schwächen im staatlichen und betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutz offen. Zum einen wird sichtbar, wie ungleich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer je nach Beschäftigungsform vor gesundheitlichen Risiken am Arbeitsplatz geschützt sind. Zum zweiten zeigt sich einmal mehr, dass der Arbeits- und Gesundheitsschutz im Zweifel den vermeintlich naheliegenderen wirtschaftlichen Interessen der Unternehmen untergeordnet wird.

Drei Welten des Arbeitsschutzes

Die Ungleichheit im Arbeitsschutz wurde während der Corona-Pandemie besonders sichtbar. Wer der Medien-Berichterstattung folgte, konnte den Eindruck gewinnen, dass in Deutschland völlig voneinander entkoppelte Welten der Arbeit und des Arbeitsschutzes nebeneinander existieren. Da gibt es auf der einen Seite die gut bezahlten Fachkräfte in Unternehmen mit ausgefeilter betrieblicher Gesundheitsprävention, in denen die Beschäftigten zum Schutz vor der Corona-Infektion schon frühzeitig ins Homeoffice geschickt wurden. Und es gibt andererseits die Beschäftigten in Krankenhäusern, Altenheimen, Supermärkten und Paketdiensten, denen das Privileg Homeoffice verwehrt ist, weil sie direkten Dienst am Menschen oder am Kunden erbringen. Sie sind aber durch diese Form der Arbeit zugleich viel stärker auf ein Höchstmaß an Gesundheitsschutz angewiesen. Umgesetzt wird das in der betrieblichen Praxis nur eingeschränkt, nicht nur weil die realen Arbeitsbedingungen, die engen Personalkapazitäten und der Zeitdruck dies oft gar nicht zulassen, sondern auch weil das Streben nach unternehmerischen Profiten im Zweifelsfall den Arbeits- und Gesundheitsschutz hintenanstellen.

Aber selbst diese für viele Dienstleistungsberufe typische Situation wird noch unterboten: Noch weniger geschützt sind solche – meist aus osteuropäischen Drittländern entsandte – Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die z.B. als Erntehelfer in landwirtschaftlichen Betrieben oder in der Fleischverarbeitung eingesetzt sind und ohnehin knochenharte Arbeiten bei geringer Bezahlung verrichten – oft unterhalb des Mindestlohns und bei Unterbringung in oft überfüllten Sammelunterkünften. Schon seit Jahren steht die Fleischindustrie wegen ihrer prekären Arbeitsbedingungen in der Kritik. Die geforderten Hygienestandards werden in der betrieblichen Praxis, bei Akkordarbeit und auf engstem Raum, kaum eingehalten. Das gleiche gilt für Arbeitszeit- und Arbeitsschutzstandards. In 85 Prozent der überprüften Betriebe wurden teils gravierende Verletzungen von Arbeitsschutzmaßnahmen festgestellt. Über Werkverträge und Subunternehmen stehlen sich die großen Fleischunternehmen aus der Verantwortung. So wurden bei Tönnies, Deutschlands größtem Schlachtbetrieb für Schweine, in Ostwestfalen Ende Juni mehr als 2.000 Infektionen mit dem Corona-Virus nachgewiesen. Solcherlei Zustände sind unverantwortlich und lassen die Frage aufkommen, wo die im Arbeitsschutzgesetz verankerte Verantwortung der Arbeitgeber für seine Beschäftigten bleibt. Denn in § 3 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) ist klar festgelegt, dass der Arbeitgeber gegenüber seinen Beschäftigten eine arbeitsvertragliche Schutz- und Fürsorgepflicht hat und dafür verantwortlich ist, dass Erkrankungsrisiken und Gesundheitsgefahren im Betrieb so gering wie möglich gehalten werden. Und das gilt auch und besonders für den Schutz vor einer Corona-Infektion. Schließlich darf es keine Arbeitnehmer zweiten oder dritten Grades mit weniger Anspruch auf gesundheitliche Unversehrtheit am Arbeitsplatz geben.

Soziale Ungleichheit auch im Arbeitsschutz?

Die soziale Ungleichheit in der Arbeitswelt, die sich allgemein in unfairer Entlohnung und fehlender sozialer Absicherung in einigen Beschäftigtensegmenten zeigt, setzt sich in ungleichen Standards im Arbeits- und Gesundheitsschutz fort und wird durch diese verstärkt. Zwei Gründe für diese Entwicklungen liegen auf der Hand: zum einen das fehlende Verantwortungsbewusstsein einiger Arbeitgeber verbunden mit der Priorisierung wirtschaftlicher Interessen. Bei allem Verständnis für unternehmerisches Handeln muss hier klargestellt werden, dass Unternehmen gleichwohl die gesetzlichen Vorgaben einzuhalten und sich der Verantwortung für die Beschäftigten zu stellen haben. Zum anderen ist die Ungleichheit in Bezug auf die Gesundheitsrisiken aber auch mit mangelndem staatlichem Regulierungs-, Umsetzungs- und Kontrollwillen zu erklären. Die sich immer wieder abzeichnende Ungleichheit kann nur dann reduziert werden, wenn der Staat in einem ersten Schritt verbindliche Regulierungen und Gesetze schafft und in einem zweiten Schritt einheitliche, hohe Standards des Arbeits- und Gesundheitsschutzes auch durchsetzt.

Die Regulierungen im Arbeits- und Gesundheitsschutz müssen verbindlicher werden

Auch aktuell fehlt es bei den vom Bundesarbeitsministerium herausgegebenen „Sars-CoV-2-Arbeitsschutzstandards“ an staatlichem Durchsetzungswillen. Rechtsverbindlich sind diese Standards bisher für die Arbeitgeber nicht immer, in den Vorgaben heißt es allzu oft „sollte“ statt „muss“. Den Arbeitgebern wird mit Blick auf ihre unternehmerischen Interessen viel „Beinfreiheit“ gegeben. Flexibilität ist für Arbeitgeber zwar schön, diese Form der „Nicht-Regelung“ ist aber bestenfalls für eine kleine Gruppe von hochqualifizierten Beschäftigten mit echter Durchsetzungsmacht vorteilhafter als eindeutige Vorschriften. Oft sitzen die Beschäftigten am kürzeren Hebel, gerade diejenigen in unsicheren und schlecht bezahlten Jobs. Wirksame Gesundheitsprävention im Sinne der Wahrung von 1,5 Meter Abstand am Arbeitsplatz oder der Option, bei Erkältungssymptomen dem Arbeitsplatz mit Lohnfortzahlung lieber fernzubleiben, gibt es kaum. Stattdessen kommt es zu solchen Kuriositäten, dass in Zeiten von Corona bei den Beschäftigten an der Eingangspforte des Unternehmens Fieber gemessen wird, anstatt für ausreichend Schutzkleidung bzw. für ausreichende Abstände am Arbeitsplatz zu sorgen.

Freiwillige Standards im Arbeitsschutz helfen schwachen und sozial benachteiligten Beschäftigtengruppen nicht. Immer wieder nutzen Unternehmen die Unverbindlichkeit in den Schutzstandards aus – zum Leidwesen schwacher (und oftmals der deutschen Sprache nicht mächtiger) Beschäftigtengruppen.

Atypische Beschäftigtengruppen müssen explizit über das Arbeitsschutzgesetz abgesichert werden

Mit Blick auf die Ungleichheit der Beschäftigten ist der Arbeitsschutz als solches aber gar nicht mal das größte Problem. Formal sind die Beschäftigten in Deutschland annähernd gleichgestellt. Faktisch werden sie jedoch in unterschiedlichem Maße vom betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutz erfasst, so dass es zu unterschiedlichen Schutzniveaus einzelner Beschäftigtengruppen kommt. Aushilfskräfte, Leiharbeitskräfte oder osteuropäische Arbeitskräfte entsendender Unternehmen sind für den betrieblichen Arbeitsschutz oft unsichtbar und fallen durch das Netz vorhandener Schutzregulierungen. Erntehelfer, Lieferboten und Fleischzerleger, die über Werkverträge oder Leiharbeit in atypischen Beschäftigungsverhältnissen stehen, bleiben teilweise ungeschützt. Hier sind ergänzende, klarere und eindeutigere Regulierungen gefordert, um alle Beschäftigtengruppen gleichrangig zu schützen.

Aufsichtsbehörden müssen Verstöße gegen Arbeitsschutzstandards stärker kontrollieren

Ein weiteres Problem besteht darin, dass es an Kontrollen seitens der Aufsichtsbehörden fehlt. Ob die Vorgaben zur Arbeitssicherheit auch wirklich eingehalten werden, unterliegt der Prüfung durch das Gewerbeaufsichtsamt bzw. das Amt für Arbeitsschutz. Doch diese Kontrollen finden aus Kostengründen immer seltener statt (siehe Bundestagsdrucksache 19/18111). Zudem bleibt eine Missachtung der Auflagen des Arbeitsschutzgesetzes meist folgenlos. Das liegt auch daran, dass Arbeitsschutzbehörden personell unterbesetzt sind. Schlechte Arbeitsschutzstandards werden in Deutschland faktisch kaum sanktioniert. Nicht ohne Grund werden vor dem Hintergrund des Tönnies-Skandals die Forderungen nach einer besseren staatlichen Kontrolle immer lauter. Auch verdachtsunabhängig solle es künftig mehr Stichproben geben.

Es bleibt die Frage, was dem Staat ein verbindlicher, alle Beschäftigtengruppen umfassender Arbeitsschutz wert ist. Der Staat steht in der Verantwortung, den Gesundheitsschutz aller (!) Beschäftigten sicherzustellen. Gefordert sind verbindliche Standards, die für alle gleich gelten und bei Missachtung spürbare Sanktionen nach sich ziehen!


Literatur

Deutscher Bundestag, Drucksache 19/18811, Antwort der Bundesregierung. Entwicklung der Arbeitsschutzkontrollen in Deutschland.

Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (2019), Überwachungsaktion. „Faire Arbeit in der Fleischindustrie“. Abschlussbericht.

 

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Die Beiträge der Serie:

Florian Blank und Daniel Seikel (06.10.2020)
Soziale Ungleichheit in der Corona-Krise. Eine Serie im WSI-Blog Work on Progress

Bettina Kohlrausch und Andreas Hövermann (06.10.2020)
Arbeit in der Krise

Elke Ahlers (07.10.2020)
Arbeitsschutz in der Corona-Krise: Hohe Standards für alle!

Philip Mader, Daniel Mertens, Natascha van der Zwan (08.10.2020)
Neun Wege, wie der Coronavirus den Finanzkapitalismus verändern könnte

Daniel Seikel (13.10.2020)
Die Corona-Krise und die Eurozone: Ausweg aus dem Nein-Quadrilemma?

Ingo Schäfer (15.10.2020)
Rente in der Krise? Keine Spur!

Maria Figueroa, Ian Greer, Toralf Pusch (16.10.2020)
Europas Arbeitsmärkte in der Corona-Krise: Kurzarbeit hat einen drastischen Einbruch verhindert

Elke Ahlers und Aline Zucco (20.10.2020)
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Florian Blank (23.10.2020)
Die Unordnung der Wohlfahrtsproduktion in Zeiten von Corona

Toralf Pusch und Hartmut Seifert (30.10.2020)
Kurzarbeit vs. Mehrarbeit in systemrelevanten Bereichen

Martin Behrens (03.11.2020)
Besser durch die Krise mit Tarif und Betriebsrat

Stephan Lessenich (09.11.2020)
Grenzen der Solidarität. COVID-19 und die Strukturen globaler sozialer Ungleichheit

Bettina Wagner (13.11.2020)
Corona und die deutsche Fleischindustrie – seit langem überfällige Reformen?

Aline Zucco und Bettina Kohlrausch (24.11.2020)
Was bedeutet die Pandemie für die Gleichstellung zwischen Frauen und Männern?

Sonja Blum (16.12.2020)
Bildung und Betreuung in der (Corona-)Krise

Lara Altenstädter, Ute Klammer, Eva Wegrzyn (02.02.2021)
Corona verschärft die Gender Gaps in Hochschulen

Weitere Beiträge sind in Vorbereitung.

Autorin

Dr. Elke Ahlers leitet das Referat Qualität der Arbeit am WSI der Hans-Böckler-Stiftung. Ihre Forschungsschwerpunkte sind der Wandel der Arbeit, Gesundheit, psychische Arbeitsbelastungen und die Rolle der betrieblichen Interessenvertretung.

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