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Judith Vorbach/Susanne Wixforth, 24.10.2022: Auf dem Weg zur sozialen Nachhaltigkeit - eine Sozialtaxonomie
Nachhaltigkeit im Finanzsektor – nicht nur „grün“, sondern auch sozial: Neben der Taxonomie für grüne Investitionen sollte die EU eine „Sozialtaxonomie“ entwickeln, an deren Gestaltung die Arbeitnehmer*innen umfassend beteiligt werden.
Die Nachfrage nach Finanzprodukten, die Umwelt-, Sozial- und Governance-Kriterien (ESG) berücksichtigen, steigt und untermauert damit das politische Vorhaben, die Nachhaltigkeit im Finanzsektor voranzutreiben und Investitionen in nachhaltige Wirtschaftsaktivitäten zu lenken. Nachhaltigkeit sollte dabei auch sozial definiert werden. Deshalb sollte in der EU – in Ergänzung der Taxonomie für grüne Investitionen – eine "Sozialtaxonomie" entwickelt werden, die die Finanzierung von sozialen Verbesserungen unterstützt und gemeinsam mit den Arbeitnehmer*innen gestaltet wird.
Das Fehlen klarer Definitionen macht es jedoch schwierig, soziale Investitionen und Ressourcen zu bewerten und sie auf sozial verantwortliche Aktivitäten und Unternehmen zu lenken. Eine Sozialtaxonomie würde darauf abzielen, geeignete Kriterien zu formulieren und die Messung sozialer Aspekte zu harmonisieren.
Diese Überlegungen veranlassten den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) der Europäischen Union zur Erarbeitung einer Initiativstellungnahme, die im September verabschiedet wurde. Darin vertritt er die Auffassung, dass die EU-Taxonomie einen ganzheitlichen Ansatz verlangt, der sowohl ökologisch als auch sozial nachhaltige Aspekte umfasst.
Die aktuellen Herausforderungen sind enorm: die grüne Transformation, die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Pandemie, der Ukraine-Krieg und die daraus resultierenden geopolitischen Spannungen. Das Mindestinvestitionsdefizit in die soziale Infrastruktur wird für den Zeitraum 2018 bis 2030 auf rund 1,5 Billionen Euro geschätzt. Eine Sozialtaxonomie könnte Leitlinien für Investitionen mit positiven sozialen Auswirkungen liefern.
Drei Hauptziele
Dabei steckt die soziale Nachhaltigkeit noch nicht einmal in den Kinderschuhen. In der EU-Taxonomie-Verordnung wurde die Europäische Kommission zwar aufgefordert, bis Ende 2021 einen Bericht zu veröffentlichen. Dieser soll die Optionen für eine Ausweitung des Anwendungsbereichs der EU-Taxonomie auf "andere Nachhaltigkeitsziele wie soziale Ziele" bewerten. Der Bericht liegt jedoch bislang nicht einmal ansatzweise vor und läuft Gefahr, von der Kommission vernachlässigt zu werden.
Die Plattform für nachhaltige Finanzen (Plattform) hat hingegen bereits ein Konzept vorgelegt. Sie schlägt für die Sozialtaxonomie eine ähnliche Struktur vor wie für die Umwelttaxonomie und formuliert drei Hauptziele, die sich an die wichtigsten Stakeholder eines Unternehmens richten und durch Unterziele zu ergänzen sind:
- menschenwürdige Arbeit in Bezug auf die Beschäftigten im Unternehmen und entlang der Wertschöpfungskette, mit Unterzielen wie der Stärkung des sozialen Dialogs und der Förderung von Tarifverhandlungen;
- menschenwürdige Lebensbedingungen in Bezug auf die Verbraucher, mit Unterzielen wie Produktsicherheit, hochwertige Gesundheitsversorgung und Wohnraum, und
- integrative und nachhaltige Gemeinschaften in Bezug auf die betroffenen Gruppen, mit Unterzielen wie Gerechtigkeit, integratives Wachstum und nachhaltige Existenzgrundlagen.
Nachhaltige Managementziele wie eine transparente und nicht aggressive Steuerplanung sollten ebenfalls in die Sozialtaxonomie aufgenommen werden. Wie bei der Umwelttaxonomie sollte neben dem Mindestschutz auch der Grundsatz "Do no significant harm" (DNSH, „Vermeidung signifikanter Schäden“) gelten, damit keines der drei Hauptziele durch eine Unternehmenstätigkeit wesentlich beeinträchtigt wird.
Schlupfloch für „Sozialwäsche“
Die Konzentration auf die Tätigkeit und nicht auf das Unternehmen als Ganzes kann ein Schlupfloch für "Sozialwäsche" ("social washing") bieten, wenn die Unternehmensstrukturen und Arbeitsbedingungen nicht dem positiven Image entsprechen, das das Unternehmen propagiert. Ein "wesentlicher Beitrag" zur sozialen Nachhaltigkeit sollte dann gegeben sein, wenn die mit der Tätigkeit verbundenen positiven Effekte verbessert werden - zum Beispiel in den Bereichen Wohnen, Gesundheit, Verkehr oder Telekommunikation. Ein "wesentlicher Beitrag" wäre dann gegeben, wenn Kriterien wie Verfügbarkeit, Zugänglichkeit, Akzeptanz und Qualität (AAAQ) erfüllt sind und keines der drei Hauptziele verletzt wird.
Ein "wesentlicher Beitrag" liegt auch dann vor, wenn dadurch negative Auswirkungen auf die drei oben genannten Stakeholdergruppen vermieden werden. Dazu gehören beispielsweise die Förderung von Tarifverhandlungen oder die Stärkung des sozialen Dialogs. Schließlich sollten Aktivitäten ausgeschlossen werden, die grundsätzlich und unter allen Umständen den Nachhaltigkeitszielen widersprechen und deren Schädlichkeit nicht reduziert werden kann, wie z.B. der Einsatz von Waffen, die durch internationale Abkommen geächtet sind.
Kriterien für eine gut funktionierende Taxonomie
Die Einschätzungen der möglichen Auswirkungen einer solchen Sozialtaxonomie reichen von vernachlässigbar, da Investitionsentscheidungen in erster Linie auf Überlegungen wie Renditesteigerung oder Risikominimierung beruhen würden, bis hin zu konkreten Befürchtungen, dass die Nichteinhaltung der Taxonomie die Finanzierungsbedingungen verschlechtern würde.
Die Unternehmen befürchten auch komplexe Informationspflichten und kostspielige Prüfverfahren. Diesen könnte jedoch entgegengewirkt werden, indem die Überschneidungen mit anderen Berichtspflichten genutzt werden, wie z. B. im Rahmen der künftigen Richtlinie über die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen (CSRD) und der geplanten Richtlinie über die Sorgfaltspflicht von Unternehmen im Bereich der Nachhaltigkeit. Die Beratung und Bereitstellung von Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Taxonomie könnte durch eine öffentlich-rechtliche Einrichtung erfolgen, insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen, Genossenschaften und gemeinnützige Geschäftsmodelle.
Gold-Standard
Die EU-Taxonomie sollte Unternehmen ermitteln, die einen wesentlichen Beitrag zur sozialen Nachhaltigkeit leisten, und einen Goldstandard vorgeben, der ein höheres Anspruchsniveau widerspiegelt, als in den EU-Rechtsvorschriften vorgesehen ist. Dies ist wichtig, um Bedenken hinsichtlich einer Marktabschottung auszuräumen.
Auch die Definition dessen, was in die Taxonomie aufgenommen werden soll, wird umstritten sein. Dies liegt daran, dass die ESG-Kriterien sehr unübersichtlich sind, und die Abweichungen in den Kategorien Menschenrechte und Produktsicherheit besonders ausgeprägt sind. Dies öffnet dem “social- und greenwashing“ Tür und Tor, so dass negative Auswirkungen wirtschaftlicher Aktivitäten verschleiert und beschönigt werden können. Um dies zu vermeiden, muss die Definition der Kriterien für die Sozialtaxonomie Gegenstand einer demokratischen Debatte und Entscheidungsfindung sein.
Eine Sozialtaxonomie könnte ein Schritt auf dem Weg zur Stärkung der sozialen Dimension der EU sein. Wenn sie richtig konzipiert ist, hat sie das Potenzial, die sozialen Auswirkungen von Finanzinvestitionen transparent zu machen, Ressourcen auf sozial verantwortliche Aktivitäten und Unternehmen zu lenken, zu einem fairen Übergang zu einer grünen Wirtschaft beizutragen und gute Arbeitsplätze zu fördern. Die einseitige Fokussierung der nachhaltigen Finanzwirtschaft auf die Umwelt birgt auch die Gefahr, dass die Aspekte der sozialen Nachhaltigkeit von Investitionen vernachlässigt werden.
Kohärentes Konzept
Aus Sicht des EWSA würde eine erfolgreiche Sozialtaxonomie die steigende Nachfrage nach sozial orientierten Investitionen unterstützen, indem sie ein kohärentes Konzept zur Messung der sozialen Nachhaltigkeit bietet. Um “social washing“ zu vermeiden, sollten Beschwerdemechanismen für Gewerkschaften und Betriebsräte vorgesehen werden. Die Achtung der Menschen- und Arbeitnehmerrechte sollte eine Voraussetzung sein. Die Einhaltung von Tarifverträgen und Mitbestimmungsverfahren - auf Unternehmens- und Konzernebene - sollte ein Eckpfeiler sein.
Eine reformierte CSR-Richtlinie, die von den berichtspflichtigen Unternehmen detailliertere qualitative und quantitative Informationen bezüglich Geschäftsmodell, Auswirkungen der Geschäftstätigkeit, Risikomanagement sowie Due-Diligence-Prozesse verlangt, wäre ein wichtiges Gegenstück zur Sozialtaxonomie, da sie die Verfügbarkeit wesentlicher Daten gewährleistet. Umgekehrt würde die Taxonomie eine Bewertung und Klassifizierung dieser Daten nach dem Kriterium der sozialen Nachhaltigkeit bieten.
Schließlich ist die Transparenz für die Effizienz des Kapitalmarktes von entscheidender Bedeutung. Eine Sozialtaxonomie würde den fairen Wettbewerb fördern und Unternehmen und Organisationen, die einen Beitrag zur sozialen Nachhaltigkeit leisten, sichtbarer machen.
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Autorinnen
Judith Vorbach ist EU-Referentin der AK Oberösterreich und Mitglied im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA).
Susanne Wixforth ist stellvertretende Abteilungsleiterin in der Abteilung Wirtschaftspolitik der AK Wien.