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Martin Behrens, 03.11.2020: BESSER DURCH DIE KRISE MIT TARIF UND BETRIEBSRAT

Existenzsicherung, neue Arbeitsstrukturen, Homeoffice, Qualifizierung: Gewerkschaftliche Tarifpolitik und Betriebsräte können die Lage der Beschäftigten auch in der aktuellen Extremsituation nachweislich verbessern.

Vor fast 30 Jahren erschien Michel Alberts Buch „Capitalism contre capitalism“, in dem er den Typus des „rheinischen Kapitalismus“ kennzeichnete, der dem US-amerikanischen Modell nicht nur in ökonomischer Hinsicht sondern darüber hinaus auch in Bezug auf die soziale Sicherung und die Begrenzung von sozialer Ungleichheit überlegen sei. Getragen wird diese Form der kapitalistischen Marktwirtschaft, so Albert, im Kern auch durch starke organisierte Interessen, dem so genannten stakeholder model, welches insbesondere der gewerkschaftlichen Tarifpolitik und der Mitbestimmung im Betrieb und Unternehmen eine zentrale Rolle zuweist. Nun ist seit der erstmaligen Veröffentlichung dieses Buches im Jahr 1991 sprichwörtlich viel Wasser den Rhein hinabgeflossen: beispielsweise haben sich die von Albert gefeierten Verflechtungen zwischen Banken und deutschen Großunternehmen weitgehend überlebt und auch von der unangefochtenen Marktführerschaft des deutschen Systems der dualen Berufsausbildung im Konzert der deutschen Bildungswege kann keine Rede mehr sein.

Es stellt sich daher die Frage, ob die zwar geschwächten, aber weiterhin existierenden Kerninstitutionen der Regulierung von Arbeit – Gewerkschaften, Betriebsräte und Tarifverträge – auch heute noch die Kraft besitzen, Beschäftigte zu schützen und sozial abzusichern. Wie kaum eine andere Krise seit der Gründung der Bundesrepublik hat die aktuelle COVID-19 Pandemie in den Belegschaften für Existenzängste gesorgt, etablierte Arbeitsstrukturen verändert sowie Grenzen zwischen Privat- und Arbeitssphäre verflüssigt. Können die gewerkschaftliche Tarifpolitik und Betriebsräte auch in einer solchen Extremsituation die soziale Lage der Beschäftigten wirksam verbessern und die verheerenden Folgen der COVID-Pandemie zumindest eingrenzen? Obwohl die Geschichte der COVID-Pandemie längst noch nicht auserzählt ist, spricht vieles dafür, dass Beschäftigte in der stakeholder economy weiterhin vom Schutz der Kerninstitutionen profitieren.

Mit Hilfe der Daten der Erwerbstätigenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung (Juni 2020), der zweiten Erhebungswelle eines Online-Access-Panels mit insgesamt 6.309 befragten Erwerbstätigen (zur Befragungsmethode siehe Hövermann 2020), soll nun ein näherer Blick auf das Verhältnis zwischen den etablierten Kerninstitutionen der Regulierung von Arbeit zu wesentlichen Aspekten des Schutzes von Beschäftigten und ihren Interessen geworfen werden. Wenn von Beschäftigteninteressen die Rede ist, soll hier nicht allein die Sorge um den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses und den damit verbundenen Erwerbseinkommen mit Mittelpunkt stehen, sondern darüber hinaus auch das Interesse am Erhalt der eigenen Gesundheit sowie der Weiterentwicklung der Qualifikation.

Arbeit und Einkommen

Die COVID-19 Pandemie ist vielfach als eine Krise der Angst wahrgenommen worden: Angst um die eigene Gesundheit ebenso wie um das Wohlergehen von Freunden und Familienmitgliedern, Angst um die Bewahrung der persönlichen Freiheiten und Grundrechte, aber auch Angst um die Sicherheit des eigenen Arbeitsplatzes sowie – damit verbunden – vor dem Verlust des eigenen Erwerbseinkommens. Wie die krisenhafte Entwicklung einzelner Branchen und Wirtschaftsbereiche zeigt, ist die Sorge um den Verlust des eigenen Arbeitsplatzes für eine Vielzahl von Beschäftigten allgegenwärtig und real: seien es die Beschäftigten der Luftfahrtindustrie, des Kulturbereiches oder auch des Hotel- und Gaststättengewerbes, um nur einige zu nennen. Massiver Arbeitsplatzabbau ist allerdings nicht allein auf die privaten Dienstleistungsbranchen konzentriert, auch mancher Großkonzern aus dem verarbeitenden Gewerbe hat im Zusammenhang mit der COVID-Pandemie Arbeitsplatzabbau oder sogar die Schließung einzelner Betriebe angekündigt. Zwar können Betriebsrat und die gewerkschaftliche Tarifpolitik den Abbau von Arbeitsplätzen selten vollständig verhindern. Wie die Auswertung unserer Daten belegt, vergrößern sie allerdings in den Augen der Beschäftigten jene Hürden, die im Wege stehen, bevor Arbeitgeber zum Instrument der Entlassung greifen. Gefragt, ob sie befürchten, dass sie „aufgrund der Corona-Krise in nächster Zeit arbeitslos werden“, antworteten 8,9 Prozent jener Beschäftigten, deren Arbeitsbedingungen durch einen Tarifvertrag geregelt werden, dies sei „auf jeden Fall“ oder „eher“ der Fall, jedoch 12,7 Prozent der Befragten aus Betrieben ohne Tarifbindung. Wie weitere statistische Analysen zeigen (eine ausführliche Veröffentlichung dieser Ergebnisse befindet sich in Vorbereitung), bleiben diese Unterschiede auch dann signifikant und robust, wenn die Einflüsse von Betriebsgröße und Branchenzugehörigkeit berücksichtigt werden.

Die Existenz eines Betriebsrates verringert wie die Tarifbindung ebenfalls die Furcht vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, jedoch lässt sich dieser Zusammenhang anders als bei Tarifverträgen nicht erhärten, wenn die Branchenzugehörigkeit der Beschäftigten berücksichtigt wird.

Erheblich zur Stabilisierung des Arbeitsmarktes beigetragen hat die Nutzung von Regelungen zur Kurzarbeit, welche bereits recht früh in der Entwicklung der Pandemie im großen Umfang zur Sicherung von Arbeitsplätzen beigetragen haben. Während Beschäftigte 60 bzw. 67 Prozent des letzten Nettoeinkommens als Lohnersatzleistung beanspruchen konnten (bei längerer Kurzarbeit von mehr als vier Monaten erfolgt eine Aufstockung der Leistungen), zielten die Forderungen der Gewerkschaften schon früh auf eine Aufstockung dieser Leistungen. Wie Schulten und Müller (2020) zeigten, würde eine solche Aufstockung insbesondere die Empfänger*innen von Niedriglöhnen davor bewahren, unter die Armutsschwelle zu fallen. Wie die Analyse unserer Daten belegt, profitieren von einer solchen Aufstockung besonders die Kurzarbeiter*innen in Betrieben mit Tarifbindung und Betriebsrat: In Betriebsratsbetrieben profitierten 60 Prozent der Beschäftigten in Kurzarbeit von einer Aufstockung ihrer Bezüge, jedoch lediglich 32 Prozent der Kurzarbeiter*innen in Betrieben ohne Betriebsrat. Findet ein Tarifvertrag Anwendung, können sich 58 Prozent der Kurzarbeiter*innen über die Aufstockung der Zahlungen freuen, jedoch nur 34 Prozent jener Beschäftigter in Kurzarbeit, für die kein Tarifvertrag gilt. Diese Befunde sind bemerkenswert, weil sie den großen Kontrast zwischen den Betrieben mit und ohne Abdeckung durch die Kerninstitutionen zur Regulierung von Arbeit aufzeigen und damit den anhaltenden Einfluss wesentlicher Elemente von Michel Alberts stakeholder economy. Darüber hinaus ist von Bedeutung, dass diese Befunde auch dann erhalten bleiben, wenn man Brancheneinflüsse und Betriebsgröße berücksichtigt. Auch hier üben Betriebsrat und Tarifbindung einen robusten und eigenständigen Einfluss auf die Sicherung der Einkommen von Kurzarbeiter*innen aus: Selbst wenn im Betrieb bereits ein Tarifvertrag gilt, steigert die Existenz betrieblicher Mitbestimmung zusätzlich die Wahrscheinlichkeit, dass das Kurzarbeitergeld aufgestockt wird.

Gesundheitsschutz und Vereinbarkeit

Regelungen zum mobilen Arbeiten bzw. Homeoffice dienten noch vor der COVID-19-Pandemie hauptsächlich dazu, bestimmten Gruppen von Beschäftigten größere Flexibilitätsspielräume zu ermöglichen, sei es, um die Vereinbarung von Arbeit mit Aufgaben der Kinderbetreuung, aber auch der Pflege Angehöriger zu erleichtern, sei es, um Berufspendler*innen zu helfen, die aus der Distanz von Arbeits- und Wohnort resultierenden Belastungen zu reduzieren. Mit steigender Verbreitung des Virus hat mobiles Arbeiten/Homeoffice nicht nur in quantitativer, sondern auch in qualitativer Hinsicht eine neue Bedeutung erlangt. In quantitativer Hinsicht hat sich mobiles Arbeiten von einem Privileg für überschaubare Branchen und Beschäftigtengruppen hin zu einem Massenphänomen entwickelt. In qualitativer Hinsicht dienen Formen des mobilen Arbeitens heute nicht allein dazu, die Folgen der zeitweisen Schließung von Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen zu bewältigen. Darüber hinaus erweisen sie sich als ein Instrument des betrieblichen Gesundheitsschutzes par excellence: Beschäftigte, die dem Betrieb fernbleiben, schützen sich und andere vor Ansteckung.

Zwar gibt es weiterhin einen erheblichen Anteil von Arbeitsplätzen, für welche die Präsenz der Beschäftigten an einem festen Arbeitsort zwingend erforderlich ist, jedoch sind eine Vielzahl von Arbeitgebereinwänden und -bedenken, die der Einführung von mobilem Arbeiten bislang entgegengehalten wurden, mittlerweile gefallen oder in den Hintergrund getreten. Ob im Betrieb überhaupt eine belastbare Regelung zum mobilen Arbeiten angeboten wird, ist nicht allein von den konkreten Erfordernissen der Arbeit abhängig, sondern auch vom Bestehen einer betrieblichen Interessenvertretung. Die Frage, ob es im Betrieb eine Regelung zum Homeoffice (Ausstattung mit mobilen Geräten, Fernzugriff auf interne Netze und Datenbanken) gibt, bejahten 73 Prozent der Befragten aus Betrieben mit Betriebsrat, jedoch nur 43 Prozent der Beschäftigten ohne betriebliche Interessenvertretung (von der Analyse ausgeschlossen wurden Fälle, bei denen Homeoffice nach Aussagen der befragten Personen „nicht zutreffend für meine Arbeitssituation“ ist).

Qualifizierung

Neben Einkommen und Gesundheit erweist sich auch das Interesse der Beschäftigten an der Weiterentwicklung ihrer eigenen Qualifikation als wesentliches Element zur Stärkung ihrer Position in der Erwerbsgesellschaft. Insbesondere epochale Veränderungen der Ökonomie, wie sie beispielsweise unter der Chiffre der Digitalisierung oder auch der beschleunigten Transformation in Richtung Elektromobilität verhandelt werden, sorgen für erhebliche Qualifizierungsbedarfe. Wie Pusch und Seifert (2020) zeigen konnten, schuf schon während früherer Krisen die massenhafte Nutzung von Kurzarbeit den zeitlichen Spielraum, um neue Perspektiven für die berufliche Weiterbildung zu eröffnen. Wie die folgende Abbildung zeigt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Beschäftigte während der Corona-Krise an Bildungs- oder Weiterbildungsveranstaltungen teilnehmen, deutlich an, wenn sie in einem Betrieb mit Betriebsrat beschäftigt sind. Dieser Zusammenhang bleibt selbst dann bestehen, wenn man bei der Berechnung die Auswirkungen von Betriebsgröße und Branchenzugehörigkeit berücksichtigt. Letztlich trägt also die betriebliche Mitbestimmung dazu bei, die Qualifikation der Beschäftigten zu erhalten und zu stärken und damit ihre Chancen auf betrieblichen ebenso wie überbetrieblichen Arbeitsmärkten zu verbessern. Auch die Unternehmen profitieren von diesen Maßnahmen, weil sie Produktivitätszuwächse realisieren können.

Fazit

Gesetzliche Regelungen, wie beispielsweise zur schnellen und unbürokratischen Ausweitung der Kurzarbeit, waren und sind wichtig, um viele Beschäftigte vor den zerstörerischen Auswirkungen der COVID-Pandemie auf den deutschen Arbeitsmarkt zu schützen. Wie unsere Daten aber belegen, erweisen sich die Kerninstitutionen der Regulierung von Arbeit, die gewerkschaftliche Tarifpolitik ebenso wie die Mitbestimmung durch den Betriebsrat, von herausragender Bedeutung, wenn es darum geht, Maßnahmen zum Schutz des Arbeitsplatzes, der Gesundheit und des Arbeitsvermögens in die Betriebe zu tragen und dort zu verankern. Ohne Tarif und Betriebsrat gehen Beschäftigte viel zu oft leer aus, wenn es darum geht, Einkommensverluste zu kompensieren, mobiles Arbeiten und Weiterbildung zu ermöglichen. Wirksame Schutzmechanismen stehen zur Verfügung, woran es mangelt, ist allerdings deren Verbreitung in der Fläche. So ist seit Mitte der 1990er Jahre der Anteil der Beschäftigten, die von einem Tarifvertrag profitieren, um mehr als 20 Prozentpunkte zurückgegangen, der Anteil von Beschäftigten in Betrieben mit Betriebsrat um etwa zehn Prozentpunkte. Im politischen Raum existieren viele sinnvolle Vorschläge, wie Mitbestimmung und Tarifbindung zu stabilisieren sind. Ansatzpunkte sind z.B. die gesetzliche Einschränkung tarifbindungsloser Mitgliedschaften in Arbeitgeberverbänden, die Erleichterung des Instruments der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen ebenso wie der bessere Schutz von Initiator*innen einer Betriebsratswahl, um hier nur einige zu nennen. Woran es bislang jedoch fehlt, ist der politische Wille diese Stabilisierungsmaßnahmen umzusetzen.

 

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Weitere Beiträge sind in Vorbereitung.

Autor

PD Dr. Martin Behrens leitet das Referat Europäische Arbeitsbeziehungen am WSI der Hans-Böckler-Stiftung. Seine Forschungsschwerpunkte sind komparative Industrielle Beziehungen, Mitbestimmung, Arbeitgeberverbände und Tarifpolitik.

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