Quelle: Björn Laczay
Christof Wittmaack, 07.03.2024: Bürgergeld-Kürzungen und öffentliche Meinung - was lehrt uns die Vergangenheit?
Die Bürgergeldreform sollte ein großer Erfolg der Regierung werden. Nun befürworten viele Bürger*innen Einsparungen bei dem Programm. Wie sind diese Umfrageergebnisse zu bewerten?
In der jüngsten Debatte über Einsparungen im Bundeshaushalt wurden auch Leistungskürzungen für Langzeitarbeitslose gefordert. Im Dezember 2023 befürworteten 64 Prozent der Befragten des ARD-Deutschlandtrends, dass beim Bürgergeld gespart werden sollte. Das Bürgergeld hatte erst im Januar 2023 das umstrittene „Hartz IV“ (Arbeitslosengeld II) mit dem Ziel abgelöst, Langzeitarbeitslosen „mehr Chancengerechtigkeit und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.“ Davor war das Hartz IV-System in den 16 Jahren Amtszeit Angela Merkels bemerkenswert stabil geblieben. Welche Aussagekraft haben Umfrageergebnisse wie die eingangs genannten? Wann und wie blickte die Öffentlichkeit in der Vergangenheit auf Hartz IV und die soziale Sicherung von Arbeitslosen? Und welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus für die gegenwärtige Debatte ziehen? Ein Rückblick auf Meinungsumfragen zur sozialen Sicherung von Arbeitslosen, die zwischen 2005 und 2021 durchgeführt wurden, gibt Antworten.
Meinungsumfragen als Indikator für die öffentliche Meinung
In der politischen Berichterstattung und der politikwissenschaftlichen Forschung sind Meinungsumfragen der prominenteste Indikator für die öffentliche Meinung. Sie messen den politischen Puls einer Gesellschaft oder versuchen dies zumindest. Mediale Meinungsumfragen unterscheiden sich insoweit von klassischen wissenschaftlichen Befragungen, als sie die Meinung zu Themen erheben, die zum Erhebungszeitpunkt öffentlich diskutiert werden. Sie sind Momentaufnahmen, die kurz nach ihrem Erscheinen wieder an Relevanz verlieren, da die Fragen regelmäßig angepasst werden.
Die bekanntesten medialen Meinungsumfragen in Deutschland sind das von der Forschungsgruppe Wahlen erhobene ZDF-Politbarometer (PB) sowie der von Infratest dimap erhobene ARD-Deutschlandtrend (DT). Beide Umfragen enthielten in den vergangenen Jahren zahlreiche Fragen zu konkreten Reformpräferenzen in Bezug auf „Hartz IV“, etwa zu Anpassungen der Leistungshöhe, des Leistungszugangs oder der Leistungsdauer. Zudem wurden allgemeinere Fragen zur Bewertung großer Reformprogramme wie der Hartz-Gesetze und der Agenda 2010 sowie der allgemeinen Absicherung von Arbeitslosen gestellt. Zeitpunkt und Häufigkeit dieser Umfragen verdeutlichen die Bedeutung des Themas in der öffentlichen Debatte. Eine Analyse der Antworten erlaubt ein differenziertes Verständnis der öffentlichen Bewertung des Hartz-IV-Systems im Zeitverlauf.
Der Fokus der Öffentlichkeit lag auf anderen Themen
Der Blick auf Inhalt und Häufigkeit von Umfragen zur sozialen Sicherung von Arbeitslosen zeigt ein deutliches Bild: Die meiste Zeit der Ära Merkel lag die öffentliche Aufmerksamkeit auf anderen Themen – zumindest im Spiegel der Umfragen der Meinungsforschungsinstitute (siehe Abbildung). Während in den ersten Jahren noch verhältnismäßig viele Fragen zur Einführung und zu ersten Korrekturen des gerade erst eingeführten Hartz IV sowie der Arbeitslosenversicherung gestellt wurden, griffen die Fragen in den letzten Jahren nur noch vereinzelt Reformvorschläge aus den Reihen von SPD und Grünen sowie Debattenbeiträge der CDU zum Erhalt des Status quo auf. Zwischen 2012 und 2016 wurde keine einzige Frage zu konkreten Reformmaßnahmen gestellt.
Angesichts der rückläufigen Arbeitslosenzahlen sowie der abnehmenden Bedeutung von Arbeitslosigkeit in der öffentlichen Problemwahrnehmung (gemessen an der Frage nach dem wichtigsten Problem in Deutschland) ist diese Entwicklung nicht sonderlich überraschend. Sie verdeutlicht jedoch zugleich, dass Parteien, Verbänden oder Gewerkschaften entweder der Wille oder die Durchsetzungskraft fehlte, öffentliche Unterstützung für Verschärfungen oder Erleichterungen der sozialen Sicherung von Arbeitslosen zu mobilisieren. Tiefgreifende Reformen des Systems wurden nicht realisiert. Selbst die umfassenden, wenngleich befristeten, Erleichterungen für Hartz-IV-Beziehende während der Covid-19-Pandemie oder die Debatte über eine Bürgergeld-Einführung während des Bundestagswahlkampfes 2021 wurden nicht in den Umfragen thematisiert. Erst nach der Einführung des Bürgergeldes wurden wieder vermehrt Fragen zur Grundsicherung gestellt.
Hartz IV unbeliebter als die Summe seiner Teile
Nicht zuletzt aufgrund der Massenproteste bei ihrer Verabschiedung, galten die Hartz-Reformen als unpopulär. Die Umfrageergebnisse der vergangenen 16 Jahre deuten jedoch darauf hin, dass „Hartz IV“ unbeliebter war als die Summe seiner Teile. Ein Jahr nach Inkrafttreten bewerteten nur elf Prozent der Befragten die Hartz-Reformen positiv (PB 2006). Zwar verbesserte sich die Bewertung im folgenden Jahr (34 Prozent im Jahr 2007), doch auch 2018 stimmte eine Mehrheit der Aussage zu, dass Hartz IV grundlegend reformiert werden sollte (PB). Dagegen genossen wesentliche Kernbestandteile von Hartz IV wie Sanktionen oder die Verschärfung von Zumutbarkeitskriterien im Beobachtungszeitraum hohe Zustimmungswerte von jeweils mehr als 70 Prozent – ganz gleich, ob Verschärfungen der Regelungen zur Vorbeugung von Missbrauch der Sozialleistungen, Leistungskürzungen bei Ausschlagung eines Jobangebotes oder Verpflichtung von Arbeitslosen zu gemeinnützigen Tätigkeiten abgefragt wurden. Folgerichtig lehnte eine Mehrheit von 63 Prozent die Abschaffung von Sanktionen im Februar 2019 ab (DT). Weite Teile der Bevölkerung akzeptierten demnach das Grundprinzip und Einzelelemente von Hartz IV, das den Leistungsbezug an Bedingungen knüpfte, obwohl Hartz IV insgesamt unbeliebt blieb. Diese Akzeptanz zeigt sich nun auch wieder in der Debatte um das Bürgergeld.
Keine Mehrheiten für weitere Kürzungen
Bei der Einordnung der aktuellen Umfrageergebnisse ist jedoch ein Aspekt besonders wichtig: Die grundlegende Unterstützung des Hartz-IV-Systems sollte keineswegs mit einer mehrheitlichen, pauschalen Zustimmung zu Leistungskürzungen für Langzeitarbeitslose verwechselt werden! Die Bewertungen der arbeitsmarktpolitischen Komponente („Fördern und Fordern“) und der sozialpolitischen Grundsicherungs-Komponente fallen vielmehr auseinander. Erstens zeigte sich dies an der großen Zustimmung zur Frage, ob soziale Härtefälle bei einer Reform stärker berücksichtigt werden sollten (PB 2006). Sowohl im öffentlichen Diskurs als auch in Meinungsumfragen bekommen jedoch damals wie heute Aussagen zur Aktivierung von Arbeitslosen mehr Aufmerksamkeit als soziale Härtefälle und die negativen sozialen Auswirkungen des Grundsicherungssystems. Zweitens blieb die Öffentlichkeit in der Bewertung der Leistungshöhe gespalten. Aus den Umfrageergebnissen lässt sich durchaus ein Bewusstsein für das niedrige Leistungsniveau am Rande des Existenzminimums ablesen. Im März 2018 bewerteten beispielsweise 55 Prozent der Befragten die Leistungen als nicht ausreichend „für das, was man zum Leben braucht“ (PB). Leichte Leistungserhöhungen wurden unterstützt und die Forderung nach Leistungskürzungen nur von Minderheiten vertreten. Zwar blieb ein klares Signal für deutliche Leistungssteigerungen aus, die Forderung nach Leistungskürzungen im System der Grundsicherung ist allerdings, wenn überhaupt, erst seit kurzer Zeit wieder mehrheitsfähig.
Momentaufnahme oder nachhaltiger Einstellungswandel?
Wenn nun Ausgabenkürzungen beim Bürgergeld im Dezember 2023 bei 64 Prozent der Befragten Zustimmung fanden, stellt sich die Frage, ob dies einen grundlegenden Wandel in der Wahrnehmung des Grundsicherungssystem belegt. Schließlich hatten sich 66 Prozent der Befragten ablehnend geäußert, als während der Eurokrise 2010 letztmalig gefragt wurde, ob bei Hartz IV gekürzt werden solle (PB 2010). Das Antwortverhalten hat sich somit umgekehrt. Ein Teil dieses Wandels lässt sich durch den geänderten politischen Kontext erklären, in dem die Umfragen erhoben wurden. Während Deutschland 2010 die Finanzkrise gerade relativ unbeschadet überstanden hatte, befindet sich das Land heute im Dauerkrisenmodus (Covid-19-Pandemie, Ukraine-Krieg, Energiekrise, Haushaltskrise). Zudem standen die Befragten 2010 eventuell noch unter dem Eindruck der Hartz-Reformen, der anschließenden Verschärfungen und der lautstarken Kritik. Dass allein der Krisenmodus und ein Gewöhnungseffekt eine Umkehr des Antwortverhaltens erklären, ist jedoch unwahrscheinlich. Ein weiterer möglicher Erklärungsfaktor ist die in der gegenwärtigen Debatte von Unions-Politiker*innen und in Medienberichten suggerierte Unpopularität der Bürgergeldreform. Angesichts der Tatsache, dass die Reform letztlich nur moderate Veränderungen im Vergleich zum Hartz-IV-System bewirkte, scheint ein derartiger Stimmungsumschwung als direkte Reaktion auf die Reform jedoch unverhältnismäßig.
Wenn die Mücke zum Elefanten wird
Vielmehr drängt sich eine andere Erklärung für die gegenwärtigen Umfrageergebnisse auf: die Diskrepanz zwischen Darstellung und Realität des Systems der Grundsicherung in der politischen Debatte. Schon die Präsentation der Bürgergeldreform als „die größte Sozialstaatsreform seit 20 Jahren“ durch Arbeitsminister Heil war nicht gerade unbescheiden. Umgekehrt fordern Unions-Politiker*innen die baldige Rückabwicklung des Bürgergeldes mit einem solchen Nachdruck, als handele es sich um ein bedingungsloses Grundeinkommen. Ob sich die öffentliche Meinung infolge dieser verzerrten Darstellung langfristig verändert oder ob es sich bei den gegenwärtigen Umfrageergebnissen lediglich um eine Momentaufnahme handelt, werden die nächsten Monate zeigen – wenn denn das Thema weiter in den Umfragen vorkommt. In der Zwischenzeit ist es ratsam, die Umfragen kritisch zu betrachten.
Zum Weiterlesen
Wittmaack, Christof (2023): „Hartz IV“ im Spiegel der Öffentlichkeit – Öffentliche Meinung als Erklärungsfaktor für die Stabilität der sozialen Sicherung von Arbeitslosen in der Ära Merkel, in: Sozialer Fortschritt 72 (7-8), 649-666.
DATEN
ARD-Deutschlandtrend: infratest dimap https://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/ard-deutschlandtrend/
ZDF-Politbarometer: Forschungsgruppe Wahlen https://www.forschungsgruppe.de/Umfragen/Politbarometer/
Auf die im Beitrag verwiesenen Daten wurde über GESIS zugegriffen. Eine Übersicht über die verwendeten Datensätze finden Sie hier: https://doi.org/10.3790/sfo.72.7-8.653.
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Autor
Christof Wittmaack ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen. Von 2020 bis 2023 arbeitete er dort in der Nachwuchsforschergruppe „Der ‚aktivierende Sozialstaat‘ – eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte deutscher Sozialpolitik, 1979–2017“ der Abteilung Politische Ökonomie des Wohlfahrtsstaates. Seit April 2023 ist er für das Forschungsdatenzentrum Qualiservice tätig.