Thorsten Schulten, 15.09.2021: Chancen für eine Reform des deutschen Mindestlohnregimes nach der Bundestagswahl
Beim Mindestlohn zeigen sich in aller Deutlichkeit die Konturen einer Richtungswahl: Während die SPD, Grüne und Linke für eine substanzielle Anhebung plädieren, sehen CDU/CSU, FDP und AfD keinerlei Anpassungsbedarf.
Der gesetzliche Mindestlohn ist seit jeher Gegenstand intensiver politischer Kontroversen. Zunächst stritten die Parteien lange Zeit darüber, ob in Deutschland überhaupt ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt werden sollte. Seit seiner Einführung im Jahr 2015 dreht sich die Debatte vor allem um das Niveau des Mindestlohns. Dabei geht es auch um den im Mindestlohngesetz vorgesehenen Anpassungsmechanismus und die gesetzlichen Vorgaben für die Arbeit der Mindestlohnkommission.
In der deutschen Mindestlohndebatte lassen sich in groben Zügen zwei Lager identifizieren: Auf der einen Seite stehen die konservativen und marktliberalen Parteien, die zusammen mit den meisten Arbeitgeberverbänden ursprünglich die Einführung des Mindestlohns ablehnten, und nun ihr Hauptaugenmerk darauf richten, das Niveau des Mindestlohns möglichst niedrig zu halten. Auf der anderen Seite stehen die eher progressiven Parteien, die zusammen mit den Gewerkschaften ursprünglich für die Einführung des Mindestlohns eintraten und nun für ein deutlich höheres Niveau plädieren.
Das bislang im Wesentlichen von der großen Koalition aus CDU/CSU und SPD geformte deutsche Mindestlohnregime ist Ausdruck eines politischen Kompromisses dieser beiden Lager. Die Einführung des Mindestlohns konnte demnach nur um den Preis eines relativ geringen Ausgangsniveaus erfolgen. Außerdem wurde ein Anpassungsmechanismus etabliert, der mit der Mindestlohnkommission das Thema „de-politisieren“ sollte und der den Arbeitgeberverbänden eine relativ starke Veto-Position einräumt, so dass strukturelle Erhöhungen des Mindestlohns kaum durchsetzbar sind.
In den letzten Jahren ist diese Grundstruktur des deutschen Mindestlohnregimes zunehmend in die Kritik geraten. Im Vorfeld der Bundestagswahl wurden nun sowohl die Kritikpunkte als auch die Konturen eines alternativen Regimes noch einmal geschärft.
Der Mindestlohn im Spiegel der Wahlprogramme zur Bundestagswahl 2021
Der Blick in die Wahlprogramme zur Bundestagswahl 2021 bestätigt beim Mindestlohn einmal mehr eine Zweiteilung entlang des traditionellen Links-Rechts-Schemas (Tabelle 1): Auf der einen Seite stehen CDU/CSU, FDP und AfD, die im Hinblick auf dem Mindestlohn keinerlei Änderungsbedarf sehen und den Status quo im Wesentlichen fortschreiben wollen. Auf der anderen Seite treten SPD, Grüne und Linke für eine strukturelle Erhöhung des Mindestlohns auf 12 bzw. 13 Euro pro Stunde ein und wollen darüber hinaus den Anpassungsmechanismus reformieren.
Die Verteidiger des alten Mindestlohnregime: CDU/CSU, FDP und AfD
In den Wahlprogrammen von CDU/CSU und FDP taucht der Begriff Mindestlohn lediglich an einer Stelle auf, an der beide Parteien fordern, bei zukünftigen Erhöhungen des Mindestlohns auch die Einkommensgrenzen für Minijobs zu erhöhen. Bei der AfD findet sich zwar ein prinzipielles Bekenntnis zum Mindestlohn. Dieses wird jedoch in erster Linie für die ausländerfeindliche Grundhaltung der Partei instrumentalisiert, indem der Mindestlohn vor allem als ein Instrument zum Schutz vor dem angeblich durch die „derzeitige Massenmigration zu erwartenden Lohndruck“ angesehen wird. Ein Reformbedarf im Hinblick auf die Höhe oder den Anpassungsmechanismus des Mindestlohns wird hingegen von der AfD nicht gesehen.
Die politische Abstinenz in Sachen Mindestlohn wird von CDU/CSU und FDP in der Regel damit begründet, dass für die konkrete Mindestlohnfestsetzung nicht die Politik, sondern die Mindestlohnkommission zuständig sei. In ähnlicher Weise argumentiert auch die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), die immer wieder vor einer „Politisierung“ des Mindestlohns warnt und die unbedingt das bisherige Anpassungsverfahren, bei dem der Mindestlohn im Wesentlichen der Entwicklung der Tariflöhne folgt, beibehalten will. Auf diese Weise sollen überdurchschnittliche Erhöhungen, die das Niveau des Mindestlohns auch im Verhältnis zu den übrigen Löhnen strukturell anheben, verhindert werden.
Zumindest die Positionierung der CDU ist insofern etwas erstaunlich, als dass noch auf dem CDU-Parteitag im November 2019 in Leipzig unter dem Titel „Der Mindestlohn muss besser werden – Beschluss Nr. C 6“ ein Antrag der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) angenommen wurde, der die Mindestlohnkommission für ihre ausschließliche Orientierung an der Tariflohnentwicklung kritisierte und sie stattdessen aufforderte, im Sinne der im Mindestlohngesetz vorgesehenen Gesamtabwägung die Spielräume für Mindestlohnerhöhungen besser auszuschöpfen. Während die CDA für einen deutlich höheren Mindestlohn eintritt (ohne einen konkreten Betrag zu nennen), hat der Wirtschaftsflügel der CDU diese Position stets abgelehnt und sich offensichtlich im Hinblick auf das CDU-Wahlprogramm mit seiner Position durchsetzen können.
Die Reformer für ein neues Mindestlohnregime: SPD, Bündnis90/Die Grünen und Die Linke
Eindeutig für eine strukturelle Anhebung des Mindestlohnniveaus sprechen sich dagegen SPD, Grüne und Linke aus, die in dieser Position auch von den Gewerkschaften unterstützt werden. Übereinstimmend gehen alle drei Parteien davon aus, dass der jetzige Mindestlohn ein Armutslohn ist, der weder in der Gegenwart noch im Hinblick auf die zukünftig zu erwartende Rente im Alter ein existenzsicherndes Einkommen ermöglicht. Deshalb soll der Mindestlohn durch einen einmaligen politischen Anpassungsschritt auf 12 Euro (SPD, Grüne) bzw. 13 Euro (Die Linke) angehoben werden.
Außerdem wollen alle drei Parteien den bisherigen Anpassungsmechanismus mit dem Ziel reformieren, die Spielräume der Mindestlohnkommission für künftige Erhöhungen weiter auszuweiten. Danach soll sich die Mindestlohnkommission in ihren Empfehlungen zukünftig nicht mehr nur an der Entwicklung der Tariflöhne orientieren, sondern zugleich auch dafür sorgen, dass der Mindestlohn ein angemessenes Mindestniveau erhält, das existenzsichernd und armutsfest ist.
Alle drei Parteien beziehen sich hierbei in ihren Walprogrammen positiv auf den im Herbst 2020 von der Europäischen Kommission vorgelegten Richtlinienvorschlag über „angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union“, der gemeinsame europäische Kriterien für die Bestimmung eines angemessenen Mindestlohnniveaus etablieren möchte. Als wichtigstes Kriterium gilt hierbei der relative Wert des Mindestlohns, der durch sein Verhältnis zu den übrigen Löhnen in einem Land bestimmt wird. Dabei hat sich international ein Schwellenwert von 60 Prozent des nationalen Medianlohns als ein pragmatischer Indikator für einen angemessenen Mindestlohn etabliert.
Auch in der deutschen Mindestlohndebatte wird immer häufiger auf diesen Indikator Bezug genommen. So wird z.B. in dem gemeinsamen Eckpunktpapier des Bundesministeriums der Finanzen und des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zur „Weiterentwicklung des Mindestlohns und Stärkung der Tarifbindung“ vorgeschlagen, dass die Mindestlohnkommission zukünftig den Schwellenwert von 60 Prozent des Medianlohns als zusätzliche Orientierungsgröße berücksichtigen soll. In ihren Wahlprogrammen sprechen sich SPD, Grüne und Linke mit ihrer positiven Bezugnahme auf den EU-Vorschlag implizit auch für ein solche Orientierungslinie aus, wobei im Programm der Linken der Schwellenwert von 60 Prozent des Medianlohns sogar explizit erwähnt wird.
Auf dem Weg zu einem angemessenen Mindestlohn in Deutschland?
Die Mindestlohndebatte in Deutschland wurde seit jeher von dem normativen Ziel eines „angemessenen“ Lohnniveaus bestimmt, das ein existenzsicherndes und armutsfestes Einkommen ermöglicht. In der Begründung des Mindestlohngesetzes wird explizit das Ziel formuliert, für alle Beschäftigte in Deutschland wieder „angemessene Arbeitsbedingungen […] sicherzustellen.“ Nach dem Mindestlohngesetz (MiLoG) ist es vor allem die Aufgabe der Mindestlohnkommission zu prüfen, „welche Höhe des Mindestlohns geeignet ist, zu einem angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beizutragen“ (MiLoG § 9, Abs. 2). Einige Anhaltspunkte dafür, was der Gesetzgeber unter einem angemessenen Mindestlohn versteht, lassen sich allerdings im Begründungstext des MiLoG finden, der auch für die Interpretation des Gesetzes maßgeblich ist. Demnach kann dann von einem angemessenen Mindestlohnniveau ausgegangen werden, wenn dieser – zumindest bei einer Vollzeitbeschäftigung – nicht mehr durch zusätzliche staatliche Leistungen aufgestockt werden muss. Zugleich soll ein angemessenes Mindestlohnniveau auch im Alter eine Rente oberhalb der staatlichen Grundsicherung ermöglichen. Wie Untersuchungen aus dem WSI gezeigt haben, erfüllt der Mindestlohn derzeit keines dieser Kriterien und wird deshalb zurecht als ein nicht-existenzsichernder Armutslohn kritisiert. Allerdings ist es relativ schwierig, mit Hilfe dieser Kriterien einen eindeutigen Orientierungswert für einen angemessen Mindestlohn zu bestimmen, da hierfür eine Reihe weiterer Kriterien, wie z.B. die Größe und Zusammensetzung des Haushaltes, die konkrete Arbeitszeit, die Anzahl der Berufsjahre usw. berücksichtigt werden müssen.
Als ein pragmatischer und vergleichsweise leicht operationalisierbarer Indikator hat sich deshalb der relative Wert des Mindestlohns im Verhältnis zum mittleren Lohn eines Landes etabliert. Während nach internationalen Konventionen ein „Niedriglohn“ als ein Lohn angesehen wird, der weniger als 2/3 des nationalen Medians beträgt, hat sich in jüngster Zeit die Marke von 60 Prozent des Medianlohns immer mehr als Orientierungswert für die „Angemessenheit“ eines Mindestlohns durchgesetzt. Folgt man dieser Definition so lag der deutsche Mindestlohn bislang stets deutlich unterhalb der Angemessenheitsschwelle (siehe Abbildung).
Bei seiner Einführung im Jahr 2015 lag der Mindestlohn von 8,50 pro Stunde bei knapp 46 Prozent des Medianlohns von Vollzeitbeschäftigten. Für einen Mindestlohn bei 60 Prozent des Medianlohns wäre bereits damals ein Betrag von 11,18 Euro notwendig gewesen. Die Anpassungen des Mindestlohns entsprachen seither in etwa den Zuwachsraten des Medianlohns, so dass sich das Verhältnis von beiden Löhnen über den gesamten Zeitraum bis 2020 kaum verändert hat. Erst mit der bereits beschlossenen Erhöhung des Mindestlohns auf 10,45 Euro ab Juli 2022 dürfte sich der relative Wert des Mindestlohns etwas erhöhen und könnte – wenn man die Prognose des IMK für die durchschnittliche Lohnentwicklung zugrunde legt – erstmals an die 50 Prozent des Medianlohns heranreichen. Eine weitere Erhöhung auf 12 Euro würde schließlich auch den relativen Mindestlohnwert deutlich anheben, so dass er schätzungsweisebei etwa bei 55 Prozent des Medianlohns läge. Um die 60-Prozent-Marke zu erreichen, wäre hingegen ab 2023 ein Mindestlohn von etwa 13,15 Euro notwendig.
Ausblick
Der Ausgang der Bundestagswahl wird einen entscheidenden Einfluss auf die zukünftige Entwicklung des deutschen Mindestlohnregimes haben. Am eindeutigsten ist die Perspektive, wenn die zukünftige Bundesregierung von einer Koalition der Mindestlohnreformer, d.h. einem rot-grünen oder rot-rot-grünen Bündnis geformt wird. In diesem Fall ist eine relativ schnelle Erhöhung auf 12 Euro und darüber hinaus eine Weiterentwicklung des Anpassungsmechanismus zu erwarten. Sollte sich die nächste Bundesregierung hingegen aus Verteidigern des alten Mindestlohnregimes und Reformern zusammensetzen, so wären wiederum neue Kompromisslinien notwendig. Diese könnten z.B. bei einer zeitlichen Streckung der Mindestlohnerhöhung oder einer finanziellen Kompensation betroffener Unternehmen liegen. Außerdem wäre in diesen Fall eine Erweiterung des Anpassungsmechanismus im Sinne eines zusätzlichen Kriteriums für die Angemessenheit des Mindestlohns, wie es die EU-Kommission vorschlägt, eher unwahrscheinlich.
Schließlich hängt nicht nur die Zukunft des deutschen Mindestlohnregimes, sondern auch die der europäischen Mindestlohninitiative am Ausgang der Bundestagswahl. Ohne eine klare Unterstützung aus Deutschland hätte wohl auch die EU-Mindestlohnrichtline kaum eine Chance, die notwendige Mehrheit im Europäischen Rat zu erreichen.
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Autor
Prof. Dr. Thorsten Schulten, Leiter des Tarifarchivs des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung und Honorarprofessor an der Universität Tübingen