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Uhr mit ungeordneten Zahlen als Symbol für Verwirrung

Dagmar Pattloch, 08.08.2024: Das Zugangsalter in die gesetzliche Rente: Eine Richtigstellung

Häufig liest man in politischen Debatten Aussagen wie „In Deutschland geht man im Durchschnitt mit xx Jahren in Rente“. Diese Aussagen wirken einfach und verständlich, aber methodisch sind sie falsch.

Stellen Sie sich vor, vom Rathausturm schlägt eine Uhr, nur ist diese leider kaputt. Sie zeigt irgendetwas an, geht vorwärts, geht rückwärts, mal schnell, mal langsam. Sie bewegt sich auf ihrem Zifferblatt natürlich immer zwischen 0 und 12. Das scheint manchen Menschen genau genug, sodass sie sich zufriedengeben, solange es nicht gerade dreizehn schlägt. Um zu wissen, dass es gerade zwischen 0 und 12 ist, braucht es allerdings gar keine Uhr. Es wäre besser, die Uhr stillzulegen, denn der Glockenschlag – an der Grenze zur Beliebigkeit – bringt die Leute durcheinander. Noch besser wäre ein Ersatz.

Bei der „kaputten Uhr“, über die ich hier schreibe, handelt es sich um eine Kennzahl: das durchschnittliche Alter beim Zugang in Altersrente. Diese Kennzahl wird von der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV) jährlich aktuell herausgegeben (z.B. hier). Die Kennzahl ist so prominent, dass sie u.a. regelmäßig im Bericht zur Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre erscheint. Zu dieser Berichterstattung ist die Bundesregierung nach § 154 SGB VI alle vier Jahre verpflichtet, denn schließlich ist die Evaluation der im Jahr 2007 beschlossenen und im Jahr 2012 begonnenen Anhebung der Regelaltersgrenze ein Politikum ersten Ranges.

Es ist eine gute Idee, den Effekt der Anhebung dort zu suchen, wo er primär eintreten müsste: beim Beginn der Altersrente. Verschiebt die Anhebung der Altersgrenze den durchschnittlichen Beginn der Altersrente tatsächlich in ein höheres Alter, und lässt sich dieser Aufschub quantifizieren?

Es ist jedoch eine schlechte Idee, die Antwort auf diese Frage in der Kennzahl durchschnittliches Alter beim Zugang in Altersrente zu suchen. Die DRV selbst fügt der Kennzahl regelmäßig eine Anmerkung bei, ein echtes Warnsignal: „Das durchschnittliche Zugangsalter ist für jedes Jahr als Querschnitt berechnet und durch Rechtsänderungen ... und durch sich im Zeitablauf ändernde Altersstrukturen beeinflusst“. Da wir ständig sowohl Rechtsänderungen als auch eine sich ändernde Altersstruktur erleben, ist ein Zeitvergleich für diese Kennzahl nutzlos, denn sie kann die zwei Einflüsse nicht voneinander trennen. Jede Verwendung, die einen Zeitvergleich beinhaltet, führt in die Irre. Ob es einen Trend gibt, nach oben, nach unten, darf uns nicht kümmern, so kaputt ist die Uhr. Eigentlich sollte ich die Abbildung 1 gar nicht zeigen. Aber ich nutze die Gelegenheit, um in der Bildunterschrift alle Einwände gegen die Kennzahl aufzuführen: Die Werte sind beeinflusst durch Rechtsänderungen und durch die sich wandelnde Altersstruktur der Bevölkerung. Es sind nur vollendete Lebensjahre berücksichtigt. Aus ereignisanalytischer Sicht sind die Durchschnitte verzerrt, da nur die Ereignisse selbst, nicht aber die zensierten Fälle berücksichtigt sind.

  • Durchschnittliches Zugangsalter in Altersrente
Eine Lösung

Die Anhebung der Regelaltersgrenze, dieses Politikum ersten Ranges, verdient stattdessen ein Monitoring oder eine Evaluation mit statistisch geeigneten Methoden. Ein Verfahren ist hier besonders naheliegend: Man kann und soll die Statistik der Rentenzugänge der DRV nach Geburtsjahr (Kohorte) auswerten. Dadurch verschwindet der Altersstruktureffekt. Übrig bleibt, unverfälscht und Kohorte für Kohorte, das Verhalten der Versicherten in den für sie geltenden rechtlichen und praktischen Verhältnissen. Einige Forschende (z.B. hier und hier) arbeiten mit Kohortendaten. Was bisher fehlt, ist eine simple, berichtstaugliche Übersicht, wie sie in Tabelle 1 dargestellt ist, als Teil der Routinepublikationen der DRV.

  • Rentenzugangsalter nach Kohorten

Hier ein Vorschlag, wie man diese Tabelle lesen kann:
Im unteren Teil bilde ich Differenzen zwischen aufeinanderfolgenden Geburtsjahrgängen. Die Anhebung der Regelaltersgrenze erfolgt pro Geburtsjahrgang um den Betrag eines Monats (Spalte ganz rechts). Es stellt sich heraus, dass die von der Anhebung der Regelaltersgrenze betroffenen Geburtsjahrgänge (1947-1955) im Mittel ihren Rentenzugang nicht nur um je einen, sondern sogar zwei Monate aufgeschoben haben (Zeile ganz unten). Das bedeutet auch, dass der Abstand zur steigenden (!) Regelaltersgrenze kleiner geworden ist. Lauter Gründe zum Feiern für die Bundesregierung, die das nur leider nicht gemerkt hat.

Grafisch sieht das so aus:

  • Rentenzugangsalter nach Geburtsjahr
Schlussfolgerungen
  1. Der Beginn von Rente wurde von den Geburtsjahrgängen 1947 bis 1955 tatsächlich aufgeschoben, im Mittel sogar stärker, als die Regelaltersgrenze angestiegen ist.
  2. Das kohortenspezifische durchschnittliche Zugangsalter in die Altersrente ist so aussagefähig und brisant, dass es in die regulären Berichte der DRV aufgenommen werden sollte.
  3. Das durchschnittliche Zugangsalter nach Berichtsjahr sollte – speziell in der Darstellung als Zeitreihe – aus diesen Berichten verschwinden. Denn solange die DRV die ungeeignete Kennzahl nicht selbst aufgibt, fürchte ich, wird sie hier, hier, hier, hier und anderswo die Öffentlichkeit, Politik, Medien und Wissenschaft weiter zu Fehlschlüssen verleiten.


Danksagung: Mit herzlichem Dank an Tino Krickl, DRV, für die Sonderauswertung und die geduldige Beantwortung von Fachfragen.

Zum Weiterlesen

Brussig, M. (2024). Späte Renteneintritte von langjährig Versicherten. Altersübergangs-Report 2024-02. Duisburg: Institut Arbeit und Qualifikation.

Mika, T., Krickl, T. (2020). "Entwicklung des Übergangs in die Altersrente bei den Geburtsjahrgängen 1936 bis 1952." Deutsche Rentenversicherung 75: 522-551.

Pattloch, D. (2021). "Altersrente: Innovative Kennzahlen zur Beschreibung von Beginn und Dauer von Rente 2012 – 2018." Sozialer Fortschritt 70(9): 549–568.

Pattloch, D. (2024): Was bringt die Anhebung des gesetzlichen Rentenalters? Beginn und Dauer von Rente in Deutschland: Analysen mit der Sullivan-Methode. easy_social_sciences, 2024(Mixed 3): 1-12.

 

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Autorin

Dr. Dagmar Pattloch ist Soziologin und Gesundheitswissenschaftlerin. Der Beitrag entstand unabhängig vom Arbeitsplatz und gibt allein die Position der Autorin wieder.

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