zurück
EU-Sterne, Gerichtshammer, Fragezeichen

Thorsten Schulten/Torsten Müller, 24.01.2025: Die EU-Mindestlohnrichtlinie vor dem Europäischen Gerichtshof

Annullierung der Mindestlohnrichtlinie? Das wäre ein großer Rückschlag für das Soziale Europa, mit immensen Folgen für die Akzeptanz und Unterstützung der EU insgesamt. Doch noch ist die Auseinandersetzung nicht vorbei …

Es war ein großer Schock für alle Befürworter eines Sozialen Europas, als der Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof (EuGH), der zypriotische Richter Nicholas Emiliou, am 14. Januar 2025 seine Schlussanträge zur Europäischen Mindestlohnrichtlinie vorstellte, in denen er die Position vertritt, dass die Richtlinie nicht mit dem EU-Recht vereinbar sei und daher für nichtig erklärt werden sollte. Für die Gewerkschaften ist die Europäische Mindestlohnrichtlinie die seit Jahrzehnten wichtigste arbeits- und sozialpolitische Regelung in der EU. Sollte sie tatsächlich annulliert werden, hätte dies weitreichende Folgen für die Akzeptanz und Unterstützung der EU insgesamt. Doch noch ist die Auseinandersetzung nicht vorbei …

Die Dänische Klage gegen die EU-Mindestlohnrichtlinie

Mit einer überwältigenden Mehrheit von 24 der 27 EU-Mitgliedstaaten hat der Europäische Rat im Herbst 2022 die „Richtlinie (EU 2022/2041) über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union“ angenommen, die europaweit ein angemessenes Mindestlohnniveau gewährleisten und Tarifverhandlungen stärken soll. Lediglich Dänemark und Schweden stimmten gegen die Verabschiedung (Ungarn enthielt sich der Stimme), da sie befürchteten, dass die Richtlinie ihr besonderes Modell der autonomen Arbeitsbeziehungen gefährden könnte. Anfang 2023 erhob die dänische Regierung mit Unterstützung der dänischen Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften, der sich später auch die schwedische Regierung anschloss, Klage vor dem EuGH (Rechtssache C 19/23) mit der Behauptung, dass die Richtlinie gegen EU-Recht verstoßen würde. Sie stützen sich dabei vor allem auf Artikel 153(5) des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), der besagt, dass die in Artikel 153 festgelegten sozialpolitischen Kompetenzen der EU für das „Arbeitsentgelt“ keine Gültigkeit haben.

In seinen Schlussanträgen, die eine Art Rechtsgutachten darstellen, hat sich der Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof nun im Wesentlichen der Argumentation der dänischen Klage angeschlossen und eine vollständige Annullierung der Richtlinie vorgeschlagen. Die Einschätzung des Generalanwalts steht dabei in direktem Widerspruch zu den früheren Rechtsgutachten, die die juristischen Dienste des Parlaments, des Rates und der Europäische Kommission zur Prüfung der Rechtsgrundlage der Richtlinie abgegeben haben.

Der Rechtsstreit um die Ausnahmeregelung zum Arbeitsentgelt in Artikel 153 (5) AEUV

Der Hauptstreitpunkt liegt in der genauen Auslegung der Ausnahmeregelung zum Arbeitsentgelt in Artikel 153 (5) AEUV. In Artikel 153(1b) AEUV, der die offizielle Rechtsgrundlage der Europäischen Mindestlohnrichtlinie bildet, heißt es, dass die EU rechtliche Initiativen im Bereich der „Arbeitsbedingungen“ durchführen darf. Da das „Arbeitsentgelt“ offensichtlich ein wichtiger Teil der „Arbeitsbedingungen“ ist, hat der Europäische Gerichtshof bereits in einem anderen Urteil (Del Cerro, Rechtssache C-307/05, RN 41) argumentiert, dass die Ausnahmeregelung zum „Arbeitsentgelt‘“ in Artikel 153(5) AEUV „nicht auf alle Fragen, die mit dem Arbeitsentgelt in irgendeinem Zusammenhang stehen, ausgedehnt werden [kann], ohne dass einige in [Artikel 153(1) AEUV] aufgeführte Bereiche großenteils ihrer Substanz beraubt werden.“

In der Begründung der Europäische Mindestlohnrichtlinie weisen der Rat und das Europäische Parlament explizit darauf hin, dass kein Verstoß gegen Artikel 153(5) vorliegt, da die „Richtlinie weder darauf ab[zielt], die Höhe der Mindestlöhne in der Union zu vereinheitlichen, noch einen einheitlichen Mechanismus für die Festsetzung von Mindestlöhnen zu schaffen“ (Richtlinie EU 2022/2041, Erwägungsgrund Nr. 19). Stattdessen definiert die Richtlinie im Wesentlichen prozedurale Regelungen für die Festlegung und Anpassung gesetzlicher Mindestlöhne und die Förderung von Tarifverhandlungen, die in voller Autonomie der nationalen Akteure entsprechend den nationalen Systemen umgesetzt und konkretisiert werden sollen. Der Generalanwalt legt Artikel 153 (5) jedoch wesentlich weiter aus und argumentiert, dass jede Form einer direkten Regulierung des Arbeitsentgelts nicht mit dem EU-Recht vereinbar sei. Hierbei vertritt er eine rechtlich höchst umstrittene Unterscheidung, wonach nur indirekte Auswirkungen auf das Arbeitsentgelt mit EU-Recht kompatibel seien (wie z.B. in der Richtlinie über befristete Arbeitsverträge, der Richtlinie über Leiharbeit und der Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern), während Regelungen, die direkt das Arbeitsentgelt beeinflussen wollen – wie dies für die Europäische Mindestlohnrichtlinie angenommen wird – als nicht europarechtskonform angesehen werden. Die Unterscheidung ist allerdings alles andere als trennscharf, wie z.B. der Blick auf die Europäische Entgelttransparenzrichtlinie deutlich macht. Wenn die Unterscheidung aber die anderen Richter*innen am EuGH nicht überzeugt, dann bricht die gesamte Argumentation des Generalanwalts in sich zusammen.

Darüber hinaus verkennt der Generalanwalt, dass in der Europäischen Mindestlohnrichtlinie zahlreiche Garantien enthalten sind, die die volle autonome Handlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten und der nationalen Tarifvertragsparteien sicherstellen. Dies zeigt sich auch bei der laufenden Umsetzung der Richtlinie auf nationaler Ebene. So nutzen z.B. die Mitgliedstaaten nach wie vor sehr unterschiedliche Kriterien bei der Festlegung der Mindestlöhne, und selbst dort, wo sich die Länder dafür entschieden haben, bestimmte Referenzwerte zu berücksichtigen, sind diese sehr unterschiedlich und reichen von 46 Prozent des Durchschnittslohns in Lettland bis zu 60 Prozent in der Slowakei. Selbst die dänische und die schwedische Regierung haben mittlerweile eingeräumt, dass die Europäische Mindestlohnrichtlinie keine praktischen Auswirkungen auf ihr nationales Lohnfindungssystem hat und sie ihre Klage nur noch aus prinzipiellen Gründen aufrechterhalten.

Was wird der Europäische Gerichtshof als nächstes tun?

Es ist wichtig zu wissen, dass die Schlussanträge des Generalanwalts nicht rechtlich bindend sind. Obwohl der Europäische Gerichtshof in seiner Rechtsprechung häufig den Schlussanträgen folgt, gibt es auch zahlreiche Fälle, in denen er eine andere Auffassung vertreten hat. Dies gilt vor allem dann, wenn es sich bei dem Rechtsstreit nicht um eine nationale, sondern um eine europäische Rechtsvorschrift handelt, da der Gerichtshof in der Regel danach strebt, eher einen „pro-europäischen“, integrationsfreundlichen Standpunkt zu vertreten. Da die juristischen Argumente des Generalanwalts alles andere als eindeutig und kohärent sind, und die Gegenargumente in zahlreichen anderen juristischen Gutachten schon entwickelt wurden, besteht für den Gerichtshof ein großer Spielraum, um zu einem anderen Ergebnis zu kommen.

Darüber hinaus wird sich der Europäische Gerichtshof auch der politischen Tragweite seiner Entscheidung in dieser Rechtssache bewusst sein. Eine vollständige Annullierung der Europäischen Mindestlohnrichtlinie wäre eine große Enttäuschung für die Beschäftigten in Europa, für die die Richtlinie ein Beleg sein sollte, dass sich die EU tatsächlich auch um ihre Interessen kümmert und bestrebt ist, ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern. Mit dem Scheitern der Europäischen Mindestlohnrichtlinie würde sich die Idee des Sozialen Europas einmal mehr als Illusion entpuppen und stattdessen das Bild der EU als einem primär an Wirtschaftsinteressen orientierten Elitenprojekt weiter fördern. Darüber hinaus würde die EU ihre Fähigkeit verlieren, die Löhne und Arbeitsbedingungen vor dem Wettbewerb zu schützen, und damit einem weiteren Sozialdumping Vorschub leisten.

Die Europäische Mindestlohnrichtlinie war ausdrücklich als Projekt für einen sozialen Paradigmenwechsel gedacht, nachdem die EU während der Finanzkrise Anfang der 2010er Jahre sehr stark negativ in die nationalen Mindestlöhne und Tarifverhandlungssysteme eingegriffen hatte. Ein Scheitern der Richtlinie wäre ein großer Rückschlag und würde die antieuropäische Stimmung unter den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie deren Unterstützung für nationalistische und rechtspopulistische Kräfte weiter verstärken.

Die nationalen Auseinandersetzungen gehen weiter ...

Die Schlussanträge des Generalanwalts ändern zunächst nichts am derzeitigen Rechtsstatus der Europäischen Mindestlohnrichtlinie, was bedeutet, dass die Mitgliedstaaten sie weiterhin innerhalb der festgelegten Fristen umsetzen müssen und alle Überwachungs- und Einhaltungsverfahren der Europäischen Kommission weiterhin gelten. In vielen Ländern – darunter auch in Deutschland – ist die Europäischen Mindestlohnrichtlinie zu einem wichtigen Bezugspunkt für Debatten und Initiativen zur Gewährleistung angemessener Mindestlöhne und zur Förderung von Tarifverhandlungen geworden. Sie hat auch bereits praktische Auswirkungen auf andere Politikbereiche, z.B. bei der Definition eines „angemessenen Lohnniveaus“ im Zusammenhang mit den europäischen Standards für die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen.

Selbst wenn der Europäische Gerichtshof beschließen sollte, die Richtlinie insgesamt für nichtig zu erklären, sind alle mit der Richtlinie verfolgten Ziele zur Verwirklichung angemessener Mindestlöhne weiterhin gültig. Die Wirksamkeit der Richtlinie hing in dieser Hinsicht immer von ihrer Umsetzung auf nationaler Ebene ab. Mit ihrer demokratischen Entscheidung für die Richtlinie haben sich die Regierungen von 24 EU-Mitgliedsstaaten verpflichtet, den sozialen Zusammenhalt zu fördern, die Armut trotz Erwerbstätigkeit zu bekämpfen und unfairen Wettbewerb auf der Grundlage von Lohndumping und Niedriglöhnen zu verhindern. Unabhängig von der künftigen Entwicklung der Richtlinie bleibt diese politische Verpflichtung, die Ziele der Richtlinie auf nationaler Ebene zu verfolgen, bestehen. Den Mitgliedstaaten steht es frei, klare Kriterien für angemessene Mindestlöhne, wie 60 Prozent des Medianlohns und 50 Prozent des Durchschnittslohns, in ihre nationalen Mindestlohngesetze aufzunehmen. So hat sich z.B. die deutsche Mindestlohnkommission unlängst eine neue Geschäftsordnung gegeben, wonach bei zukünftigen Anpassungen des Mindestlohns der Schwellenwert von 60 Prozent des Medianlohns berücksichtigt werden soll. Auch die Aufstellung konkreter Aktionspläne zur Erhöhung der Tarifbindung könnte unabhängig von der Richtlinie erfolgen.

Die Annullierung der Richtlinie wäre ein großer Rückschlag für das Soziale Europa. Allerdings gäbe es auch dann keinen Grund, den Kopf in den Sand zu stecken, denn auch die nationale Auseinandersetzung um angemessene Mindestlöhne und Tarifbindung wird weitergehen. So, it’s not all over now, Baby Blue.
 

Die englischsprachige Fassung dieses Beitrags wurde am 22.01.2025 auf Social Europe veröffentlicht.
 

Zum Weiterlesen

Daniel Seikel, Der europäische Rückenwind für armutsfeste Mindestlöhne wäre dahin. Interview zur drohenden Annullierung der Mindestlohnrichtlinie

 

Zurück zum WSI-Blog Work on Progress

Autoren

Prof. Dr. Thorsten Schulten ist Leiter des Tarifarchivs des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung und Honorarprofessor an der Universität Tübingen

Dr. Torsten Müller ist Senior Researcher zum Thema Tarifpolitik und Gewerkschaften in Europa am Europäischen Gewerkschaftsinstitut (ETUI) in Brüssel.

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrem Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen