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Susanne Wixforth/Lukas Wiehler, 13.09.2021: Die Konferenz zur Zukunft Europas: eine Chance für ein soziales Europa?
Die Bürger:innen der EU sind aufgerufen, ihre Ideen in eine digitale Plattform einzubringen. Kann diese neue Form demokratischer Beteiligung ein Wendepunkt sein, weg von einer reinen Wirtschaftsunion hin zu einer Europäischen Union der sozialen Rechte?
Am 9. Mai dieses Jahres wurde im Europäischen Parlament in Straßburg die Konferenz zur Zukunft Europas eröffnet. Sie soll ein Meilenstein in der demokratischen Beteiligung der EuropäerInnen sein. Die Bürgerinnen und Bürger sind aufgerufen, ihre Ideen in eine digitale Plattform einzubringen, an Bürgerforen teilzunehmen und ihre Forderungen in einer abschließenden Plenarsitzung im Frühjahr 2022 zu formulieren. Aber kann die Konferenz auch ein Wendepunkt sein, weg von einer reinen Wirtschaftsunion hin zu einer Europäischen Union der sozialen Rechte, die das Wohlergehen ihrer Bürger gewährleistet?
Die Corona-Pandemie war für europäische Arbeitnehmer:innen eine Belastungsprobe und brachte eine europäische Krisengesellschaft hervor. Armut, Arbeitslosigkeit und Ungleichheit haben in der gesamten EU deutlich zugenommen. Unter Kurzarbeit, prekären Beschäftigungsverhältnissen und Arbeitsplatzverlust litten dabei überproportional ungelernte und atypisch Beschäftigte (Selbstständige, Teilzeit- und Zeitarbeiter:innen), Frauen und junge Menschen - während Milliardäre durch Kapitalgewinne scheinbar nichts besseres mit ihrem Geld anzufangen wussten, als sich ins All zu schießen.
Diese absurde Anhäufung von Reichtum wird auch durch Steuersparmodelle der EU-Mitgliedstaaten begünstigt. Die Pandemie hat einmal mehr bewiesen, dass die EU nicht strategisch autonom und krisenfest ist. Neue Gesetzgebungsinitiativen müssen dringend gute Standards für den sozialen Schutz setzen und die Steuerlast von Arbeitnehmer:innen und kleinen Unternehmen senken. Eine Rückkehr zum Brüsseler "business as usual" kann keine Option sein.
Neben den Fragen zu Gesundheit, Digitalisierung, Migration oder Rechtsstaatlichkeit ist die Konferenz zur Zukunft Europas eine wichtige Möglichkeit, den fragmentierten und wenig entwickelten europäische Arbeits- und Sozialschutz in den Fokus zu nehmen. Mit den richtigen Impulsen könnte die Konferenz ein Momentum für soziale Gerechtigkeit und die effektive Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte sein und schließlich den Weg zu einer Sozialunion ebnen.
Wichtige Meilensteine zur Sozialunion
Auf dem Weg zur Sozialunion ist der Europäische Aufbauplan 2020, Next Generation EU (NGEU), ein wichtiger Meilenstein. Zum ersten Mal haben sich die Mitgliedstaaten für Konvergenz und gegen Austeritätspolitik entschieden, um eine Krise zu bekämpfen. Mit dem Programm können gemeinsame Schulden aufgenommen werden, um mit Investitionen aus der Krise „herauszuwachsen“ statt sich weiter in die Krise „hineinzusparen“. So wird die Last der Krise auf die Mitgliedstaaten verteilt und nicht über Sozialstaatskürzungen nur den ärmeren Ländern auferlegt. Für die Gewerkschaften ist das ein starkes Zeichen der Solidarität.
Leider fehlen dem NGEU-Budget wesentliche Indikatoren, um die soziale Leistungsfähigkeit und die gerechte Verteilung des Aufbauprogramms zu garantieren und nachzuprüfen. Die nationalen Aufbauprogramme werden durch den Prozess des Europäischen Semesters vorgegeben. Letzteres zielt grundsätzlich darauf ab, Haushaltsausgaben zu begrenzen, was zu Lasten der Arbeitsbeziehungen und des Sozialschutzes geht. Indikatoren zur Überwachung und Bekämpfung von sozialen Ungleichheiten, zur tarifvertraglichen Abdeckung und zur betrieblichen Mitbestimmung bleiben unterentwickelt. Gewerkschaften sehen die Konferenz zur Zukunft Europas als wichtige Gelegenheit, eine Rechenschaftspflicht über die sozialen Auswirkungen der nationalen Aufbauprogramme zu fordern - zum Beispiel durch die Integration von geeigneten Indikatoren und zielgenauen Maßnahmen.
Freizügigkeit braucht Schutz
Die Freizügigkeit der europäischen Bürger:innen ist einer der Hauptpfeiler des Binnenmarktes. Doch Beschäftigte, die in anderen Mitgliedstaaten arbeiten, werden oft ihrer Rechte beraubt, leiden unter Lohndumping oder werden ohne Einhaltung von Arbeitsschutzbestimmungen beschäftigt. Viel zu häufig missbrauchen Konzerne die Dienstleistungsfreiheit und mogeln sich um Arbeits- und Sozialstandards herum.
Die Reform der EU-Richtlinie zur Entsendung von Arbeitnehmer:innen war ein wichtiger Schritt, um diese Praxis zu bekämpfen. Auf dem Papier garantiert sie entsendeten Arbeitnehmer:innen den gleichen Lohn und die gleichen Lohnbestandteile wie sie für Arbeitnehmer:innen des Gastlandes durch nationale Gesetze oder Tarifverträge festgelegt wurden. Diese Garantie ohne Kontrollen und stringente Durchsetzung bleibt aber oftmals ein Papiertiger.
Die EU Verordnung zur Umsetzung der Entsenderichtlinie wurden zudem durch verschiedene Urteile des Europäischen Gerichtshofs verwässert, indem Kontrollmaßnahmen als administrative Belastung der Dienstleistungsfreiheit angesehen wurden. Ein bedauerliches Ergebnis dieser Rechtsprechung ist unter anderem, dass Nicht-EU-Länder wie die Schweiz von einer weiteren Annäherung an die EU absehen, um ihren starken Schutz der Beschäftigten zu erhalten.
Die Konferenz über die Zukunft Europas sollte auf eine effektive Anwendung der Entsenderichtlinie drängen. Die Delegierten der Konferenz könnten zum Beispiel die schweizerischen flankierenden Maßnahmen gegen Schwarzarbeit, das österreichische Gesetz zur Bekämpfung von Lohn- und Sozialdumping oder das französische Dekret vom Juni 2019 zu den Arbeitgeberpflichten als Blaupause für die konsequente Umsetzung der Entsenderichtlinie vorschlagen.
Vernachlässigung und Niedergang - Kein Weg für Europa
Der Binnenmarkt hat den europäischen Unternehmen zweifellos Vorteile gebracht und war Motor für das Wirtschaftswachstum in Europa. Anders sieht es mit der Arbeitnehmer:innenfreizügigkeit aus. Hier fehlt es immer noch an europäischen sozialen Rechten und ihrer Durchsetzbarkeit. Die Konferenz zur Zukunft Europas sollte deswegen Handlungsempfehlungen zu Mindeststandards für die nationalen Arbeitslosenversicherungen, zu einer EU-weiten Arbeitslosenrückversicherung und zu einem europäischen Grundeinkommen abgeben. Eine weitere Priorität muss die konsequente Umsetzung der vorgeschlagenen Richtline über angemessene Mindestlöhne sein.
Das Ziel all dieser Maßnahmen ist es sicherzustellen, dass die europäischen Bürger in sozialen Härtefällen nicht in die Armut abrutschen, sie durch gute Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen geschützt sind und, dass sich die Mitgliedstaaten insgesamt besser für zukünftige Krisen wappnen. Schließlich haben gerade die Mitgliedstaaten mit hohen Sozialschutzstandards, einer guten Abdeckung durch Tarifverträge und starker Mitbestimmung in Krisenzeiten mehr Stabilität und Resilienz bewiesen.
Auch für den Umgang mit der Klimakrise sind Sozialstandards von zentraler Bedeutung. Mit dem europäischen Green Deal will die EU bis 2050 CO2-neutral werden. Der Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaft braucht jedoch auch die Unterstützung und Akzeptanz der Arbeitnehmer:innen und darf nicht zu einer Prekarisierung der Arbeit, steigender Arbeitslosigkeit und dem Abhängen einiger strukturschwacher Regionen führen. Der "Brexit" hat gezeigt, dass Ignoranz gegenüber Arbeitnehmer:innen und die Stilllegung von ganzen Industriesektoren zum Pulverfass werden könnte.
Die Delegierten der Konferenz müssen daher einen gerechten Übergang zu einer klimaneutralen Wirtschaft fordern, der die Beschäftigten in den vom Strukturwandel betroffenen Sektoren nicht diskriminiert. Der neu geschaffene Just Transition Fund muss ausgebaut und Umstrukturierungsmaßnahmen in Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern erarbeitet werden.
Die Konferenz zur Zukunft Europas ist eine wichtige Chance, auf die Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte zu drängen und einen Übergang zu einer Sozialunion einzuleiten.
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Autor:in
Susanne Wixforth ist Referatsleiterin in der Abteilung Internationale und Europäische Gewerkschaftspolitik des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB).
Lukas Wiehler ist Masterstudent am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz und an der Hertie School of Governance in Berlin. Derzeit arbeitet er in der Abteilung Internationale und Europäische Gewerkschaftspolitik des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB).