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Florian Blank, 23.10.2020: Die Unordnung der Wohlfahrtsproduktion in Zeiten von Corona
Als Transfermechanismus und Sicherungssystem hat sich der Sozialstaat in der Coronakrise bewährt. Teil des Sozialstaats sind aber auch Dienstleistungen, wie Kinderbetreuung und Altenpflege. Hier ist die Arbeitsteilung zwischen Staat und Haushalten an Grenzen gestoßen.
Krisen und Krisen
Der „Sozialstaat in der Krise“ ist ein wiederkehrendes Thema in der Sozialpolitikforschung, wenngleich die Hochzeit dieser Phrase und ihrer Variationen schon einige Jahre zurückliegt. Gemeint war in der Regel entweder, dass durch äußere Umstände – etwa Globalisierung oder Massenarbeitslosigkeit – der klassische, versorgende Wohlfahrtsstaat nicht mehr die Rolle spielen könne, die er in der Arbeitsgesellschaft der Nachkriegszeit übernommen hatte. Der Sozialstaat wurde auch als Teil des Problems gesehen, da er – so die Argumentation – durch die Finanzierung von Sozialausgaben über Sozialversicherungsbeiträge zur Verteuerung von Beschäftigung und damit zur Arbeitslosigkeit beitrug. Mit der „Krise des Sozialstaats“ wurde aber auch ein zweites Phänomen beschrieben: die wiederholten Versuche nämlich, die Sozialausgaben zu begrenzen und daher Leistungen zu beschneiden sowie eine stärker Arbeitsmarktbeteiligung zu „fördern und fordern“. Diese Versuche, von Kritikern teils als „neoliberal“ bezeichnet, hatten das Ziel, Unternehmen und Menschen von Abgaben, aber auch einem vermeintlich bevormundenden Staat zu „befreien“.
Aktuell bekommt die Phrase einen anderen Beiklang – zumindest was Deutschland angeht. Mit der Corona-Krise erfasst die zweite große Krise in rund einem Jahrzehnt Wirtschaft und Gesellschaft. Wie schon in der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise steht der Sozialstaat für Stabilität und Verlässlichkeit. Die Krise findet auf den ersten Blick rings um ihn herum statt. Zwar ist und bleibt richtig, dass soziale Sicherung nur beschränkt gegen oder ohne die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt gestaltet werden kann: Die zu verteilenden Leistungen, also Transfers und Dienstleistungen, aber auch Rechtsansprüche wie der Anspruch auf Elternzeit müssen erwirtschaftet werden bzw. können nur in einem bestimmten Kontext wie dem Beschäftigungsverhältnis eingelöst werden. Die Krise hat also mit Sicherheit Rückwirkungen auf die soziale Sicherung, auf Sozialleistungen und ihre Finanzierung. Dennoch spricht einiges dafür, dass der Sozialstaat zum derzeitigen Zeitpunkt nicht selber in der Krise steckt. Vielmehr hebt die Corona-Krise seine Notwendigkeit hervor: Der Sozialstaat trägt dazu bei, Einkommen zu sichern, Stabilität zu vermitteln und volkswirtschaftlich gesehen Konsum sicher zu stellen. Und nach einigen guten Jahren steht zumindest auf mittlere Sicht auch die Finanzierungsseite bisher nicht unter großem Druck. Hier ist auch ein Unterschied zu den früheren „Krisen des Sozialstaats“ zu sehen: Damalige Analysen gingen von lang anhaltenden, strukturellen Krisen aus. Die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise und hoffentlich auch die Corona-Krise wirken dagegen eher als kurzfristige Schocks, denen beispielsweise mit dem Kurzarbeitergeld begegnet werden kann.
Allerdings ist dieser Blick auf den Sozialstaat verkürzt. Denn der Sozialstaat ist Teil eines Systems von Institutionen und sozialen Beziehungen. Und mit Blick auf dieses System, das auch durch den Sozialstaat und seine Leistungen strukturiert wird, ist einiges in Unordnung geraten.
Ein weiterer Blick auf den Sozialstaat
Der Sozialstaat ist nicht nur ein Transfermechanismus zur Umverteilung von Einkommen, sondern er übernimmt oder finanziert auch die Erbringung von Dienstleistungen. Sowohl mit den Transfers als auch mit den Dienstleistungen wirkt er in die Gesellschaft hinein: Er ermöglicht, reflektiert und begünstigt bestimmte Formen des Zusammenlebens, er begleitet und standardisiert Lebensläufe. Deutlich wird das beispielsweise an der Rente, die ja nicht nur ein einfacher Einkommenstransfer ist, sondern einen ganzen Lebensabschnitt definiert, oder an der Familienmitversicherung in der Krankenversicherung, durch die nicht erwerbstätige Gatten und Partnerinnen ohne eigene Beiträge abgesichert werden. Sichtbar wird das aber auch an den sozialen Dienstleistungen, bei deren Schaffung und Regulierung es immer auch darum geht, wer der geeignete „Dienstleister“ ist und wo diese Dienstleistungen erbracht werden sollten: Was sollen Familie allein leisten? Wo wird professionelle Unterstützung gebraucht? Wer soll von Sorgearbeit entlastet werden?
In der Sozialstaatsdiskussion ist nun immer wieder auf die Möglichkeit oder Notwendigkeit des Ausbaus sozialer Dienstleistungen hingewiesen worden, auch mit dem Ziel, Sozialpolitik „investiv“ zu gestalten. Diese Diskussionslinie wurde teils zur Rechtfertigung sozialer Sicherung angesichts von Sozialstaatskritik vorgebracht, teils aber auch aus der Überzeugung, dass Investitionen in „Humankapital“ letztlich die Voraussetzung anderer sozialpolitischer Maßnahmen darstellen: Gut ausgebildete Arbeitskräfte sind die Grundlage einer stabilen Wirtschaft und für Umverteilung. Für den Ausbau der sozialen Dienstleistungen spricht nicht nur diese – durchaus kritisierbare – Perspektive, sondern auch die Einsicht, dass gut ausgebildete Fachkräfte Dinge können, die Familien nicht immer schaffen, dass „unsichtbare“ Erziehungs- und Sorgearbeit durch Professionalisierung sichtbar gemacht wird, dass neue Arbeitsplätze entstehen und dass Menschen – meist Frauen – von informeller Arbeit entlastet werden und selber einer Erwerbstätigkeit nachgehen können. Soziale Dienstleistungen führen in einem erheblichen Umfang dazu, dass Arbeit aus privaten Haushalten in öffentliche, gemeinnützige oder privatwirtschaftliche Einrichtungen verlagert wird. In Deutschland ist in der jüngeren Vergangenheit die Kinderbetreuung ausgebaut worden. Auch in der Altenpflege ist es in Folge der Einführung der Pflegeversicherung in den 1990er Jahren zu einer Professionalisierung der Pflegearbeit gekommen. Menschen passen sich an die vorhandenen Angebote an, sie organisieren ihre Erwerbsarbeit und die Arbeitsteilung in ihren Haushalten auch in Reaktion auf diese sozialstaatlichen Dienstleistungsangebote, die ihnen Sorgearbeit abnehmen.
Der Sozialstaat: doch in der Krise?
Und hier ist der Sozialstaat in der Corona-Krise im Frühjahr an Grenzen gestoßen. Die Schließung von Kindergärten und Schulen samt Ganztagsbetreuung – bzw. die Beschränkung auf eine Notversorgung – setzt den Teil der Sozialpolitik, der darauf abzielt, Familien von der Sorgearbeit zu „entlasten“, zumindest für eine gewisse Zeit aus. Die Schließung von Kinderbetreuung und Schulen bedeutet damit den Wegfall einer entscheidenden Rahmenbedingung der eingespielten familiären Arbeitsteilung und der Balance von Familie und Beruf. Und es zeigte sich: Der Haushalt bzw. die Familie sind die Rückfalloption bei der Nicht-Erbringung von professionellen sozialen Dienstleistungen in dieser Krise – mit Folgen für den Bildungserfolg von Kindern, das Einkommen von Haushalten, das innerfamiliäre „Mikroklima“, die Gesundheit und das Wohlbefinden von Kindern und Eltern.
In der Alten- und Krankenpflege stellte sich die Lage anders dar. Zunächst hat die Corona-Krise (wieder) auf die Arbeitsbedingungen und Einkommen der Beschäftigten aufmerksam gemacht. Sie hat in Bezug auf die Versorgung mit Schutzmasken und Medikamenten außerdem zu Fragen geführt, die den lange verfolgten Weg der möglichst niedrigen Kosten und der möglichst günstigen Produktion im Gesundheitssystem betreffen. Die gesellschaftlichen Krisenfolgen haben aber darüber hinaus Spuren hinterlassen. Social distancing in der stationären Versorgung und Unterbringung hat eine Konsequenz, die der Erfahrung mit Kinderbetreuung entgegengesetzt ist. Während die Kinderbetreuung, Erziehung und Bildung wieder an die Familien verwiesen wurden, musste in Altenpflegeheimen und Krankenhäusern im Gegenteil der direkte Kontakt zu Angehörigen und Familien unterbrochen werden.
Ist der Sozialstaat damit doch in der Krise? Es ist und bleibt richtig, dass der Sozialstaat in erheblichem Maße zur Krisenbewältigung beiträgt. Die Corona-Krise hat bisher die Strukturen und die Finanzierung des Sozialstaats nicht im besorgniserregenden Maße getroffen. Der Sozialstaat wurde etwa in Hinblick auf das Kurzarbeitergeld den aktuellen Problemlagen angepasst. Die Krise hat auch bekannte Mängel im Bereich der sozialen Dienste ein weiteres Mal sichtbar gemacht. Ihr bisher aber möglicherweise stärkster sozialpolitischer Effekt besteht darin, die Arbeitsteilung in der „Wohlfahrtsproduktion“ (Franz-Xaver Kaufmann) zwischen Familien und öffentlichen Einrichtungen, freigemeinnützigen Trägern und privaten Anbietern in Unordnung zu bringen (da sich ja kaum davon sprechen lässt, dass sie neu geordnet wurden). Und damit lässt sich durchaus sagen, dass der Sozialstaat, als Teil der Gesellschaft, in die Krise geraten ist. Das wird sich auch künftig bei dieser Art Krise kaum vermeiden lassen, denn selbst wenn beispielsweise digitale Bildungsangebote ausgebaut und genutzt werden, bedeutet das ja nicht, dass Familien von Aufsicht und Betreuung entlastet werden können.
In der Krise haben wir die makroökonomische und existenzsichernde Funktion des Sozialstaates (wieder einmal) zu schätzen gelernt. Die Krise führt uns aber auch die große Entlastungsleistung der sozialen Dienstleistungen vor Augen. Es bleibt zu hoffen, dass sie in der „neuen Normalität“ angemessen gewürdigt werden.
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Die Beiträge der Serie:
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Soziale Ungleichheit in der Corona-Krise. Eine Serie im WSI-Blog Work on Progress
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Weitere Beiträge sind in Vorbereitung.
Autor
Dr. Florian Blank ist Experte für Sozialpolitik am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung und forscht insbesondere zu Fragen der Sozialversicherung in Deutschland und Europa.