Quelle: dpa
Florian Blank, 05.03.2024: Eine „Ära Merkel“ in der Sozialpolitik? Ein Blick zurück
Rente mit 67, Elterngeld, Mindestlohn … unter Angela Merkel wurden in der Sozialpolitik Entscheidungen von großer Bedeutung und Nachwirkung getroffen. Insgesamt lassen sie jedoch kein eindeutiges Profil erkennen.
Angesichts der aktuellen Krisen scheint die Phase der Unions-geführten Koalitionen unter Angela Merkel eine halbe Ewigkeit zurückzuliegen. Dabei wurde die Dauer der Kanzlerschaft Merkels nur durch die Helmut Kohls knapp übertroffen (laut Wikipedia um zehn Tage). Welche Spuren hat diese Phase in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik hinterlassen? Lassen sich ein eigenständiges Profil, eine klare Ausrichtung identifizieren?
In einem kürzlich erschienenen Schwerpunktheft der Zeitschrift „Sozialer Fortschritt“ steht die Sozialpolitik der „Ära Merkel“ im Mittelpunkt. Die in dem Heft versammelten Analysen der einzelnen Teilbereiche der Sozialpolitik dokumentieren eine Vielzahl von kleineren und größeren Reformen, etwa zur Alterssicherung, zur aktivierenden Arbeitsmarktpolitik, zu Sorgepolitiken oder zur Akzeptanz von „Hartz IV“. Diese politischen Entscheidungen der Jahre 2005-2021 waren und sind für das Leben der Menschen in Deutschland von erheblicher Bedeutung und beeinflussen teils auch die heutige politische Debatte noch. Einige der wichtigsten Reformen waren die schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters auf künftig 67 Jahre, die Einführung des Elterngeldes, der allgemeine Mindestlohn, aber auch der erleichterte Zugang zu Hartz IV während der Corona-Pandemie.
Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive lässt sich erstens nach Umfang und Reichweite der Reformen fragen sowie nach ihrer Einordnung – ob sie Beispiele für eine allgemeinen Tendenz der sozialstaatlichen Entwicklung sind oder ob die sozialpolitischen Entscheidungen viele, vielleicht sogar widersprüchliche Facetten hatten. So eine Zusammenfassung und Interpretation führen dann zweitens zu der Herausforderung, die vorgefundene Entwicklung zu erklären – etwa durch Verweis auf die ökonomischen Rahmenbedingungen, die handelnden Akteure und ihre Ideologie und die vorgefundenen Strukturen der sozialen Sicherung.
Reformen aus einem Guss?
Die in den verschiedenen Beiträgen des Schwerpunktheftes dokumentierten und diskutierten Einzelmaßnahmen lassen vier generelle Einschätzungen zu:
- Die Reformen der sechzehn Merkel-Jahre stellten in der Regel keine grundlegenden Einschnitte oder Neuorientierungen der Sozialpolitik dar. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive sind also keine Paradigmenwechsel zu verzeichnen – gerade im Vergleich zur rot-grünen Vorgängerregierung, die für die „Riester“- und „Hartz“-Reformen verantwortlich war. Eine Ausnahme bildet der allgemeine Mindestlohn.
- Die getroffenen Maßnahmen lassen kein eindeutiges sozialpolitisches Profil erkennen, das auf einer umfassenden Problemdefinition oder einer dominierenden ideologischen Haltung beruht. Es ist nicht möglich, die Reformschritte in der Summe als Ausbau oder Abbau zu charakterisieren oder sie insgesamt durch Begriffe wie Privatisierungspolitik, „neoliberal“ oder ähnliches zu bestimmen (was für einzelne Maßnahmen natürlich möglich ist).
- Die großen Herausforderungen und Krisen, mit denen die Bundesrepublik konfrontiert war – Finanz- und Wirtschaftskrise, verstärkte Fluchtmigration, Corona-Krise – sind sozialpolitisch bearbeitet und abgefedert worden, haben jedoch in Hinblick auf Finanzierung und Leistungserbringung des Sozialstaats kaum Spuren hinterlassen. Sie haben aber eventuell zu einer generell höheren Wertschätzung der sozialen Sicherung beigetragen. Außerdem sind in diesen Krisen einzelne sozialpolitische Instrumente erfolgreich (wieder)verwendet oder neu getestet worden, wie z.B. das Kurzarbeitergeld oder der erleichterte Zugang zur Grundsicherung.
- Es lassen sich innerhalb der Regierungszeit Merkels dennoch Phasen unterscheiden, in denen Sozialpolitik unterschiedliche Ausprägungen angenommen hat. Das betrifft vor allem den Unterschied zwischen der ersten Legislaturperiode (Große Koalition 2005-2009), in der die rot-grüne Politik der Sozialstaatskonsolidierung in gewisser Weise fortgesetzt wurde, und der dritten und vierten Legislaturperiode, die durch selektive Leistungsverbesserungen gekennzeichnet waren.
Was erklärt das fehlende Profil?
Wie lassen sich dieses (Nicht-)Profil und die Schwerpunktverlagerung zu einer – innerhalb des eingeschlagenen Pfades – großzügigeren Sozialpolitik erklären? Sozialpolitische Entscheidungen ergeben sich aus einem Zusammenspiel von institutionellen Rahmenbedingungen und Politikerbe, den politischen Mehrheiten, dem Problembewusstsein und den Vorstellungen politischer Akteure sowie den ökonomischen Rahmenbedingungen, die politisches Handeln ermöglichen bzw. durch die Akteure interpretiert werden. Entsprechend lassen sich folgende Gründe für die einzelnen Entscheidungen identifizieren:
Erstens waren die Strukturreformen der rot-grünen Koalition – insbesondere in der Renten- und Arbeitsmarktpolitik – und damit das Politikerbe, das die Union mit ihren wechselnden Koalitionspartnern antrat, durchaus mit konservativen und liberalen Vorstellungen kompatibel. SPD und Bündnis 90/Die Grünen hatten damit einen Teil der Arbeit erledigt, der eigentlich vom anderen politischen Lager erwartet worden wäre. In Verbindung mit der Erfahrung des Wahlkampfes 2005, in dem weiterreichende Forderungen der Union möglicherweise einen deutlicheren Wahlsieg verhindert hatten, und der wirtschaftlichen Entwicklung (s.u.) führte das zu einem begrenzten Reformeifer: Weitere Strukturreformen wurden kaum versucht. Die Sozialreformen bestanden zu Beginn „nur“ in der Fortsetzung und teils Verschärfung der rot-grünen Politik und milderten sie später teilweise wieder ab.
Zweitens war die Sozialpolitik der vergangenen Jahrzehnte durch eine erhebliche Kontinuität geprägt: nämlich durch die Beteiligung der SPD, die abgesehen von den Jahren 2009-2013 den Bundesminister bzw. die Bundesministerin für Arbeit und Soziales stellte. Das sind bis zum Verfassen dieses Beitrags über 21 Jahre sozialdemokratisch geprägte Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, bei der gerade in der ersten Legislaturperiode Angela Merkels mit Frank Müntefering ein Verfechter der Agenda-Politik der Vorgängerregierung das Amt des Arbeits- und Sozialministers übernahm. Angesichts dieser personellen bzw. parteipolitischen Kontinuität war ein erneuter radikaler Pfadwechsel eher unwahrscheinlich. Zugleich lässt sich die These formulieren, dass insbesondere die Neuorientierung der SPD im Zeitverlauf zu einer eher expansiven, ihre früheren Maßnahmen vorsichtig korrigierenden oder einrahmenden Politik beigetragen hat. So forderte die SPD bereits 2013 in ihrem Wahlprogramm eine Stabilisierung des Rentenniveaus bis Ende des Jahrzehnts – und damit ein Aussetzen der noch einige Jahre zuvor beschlossenen Anpassungsmechanismen.
Die politische und ökonomische Umwelt der Sozialpolitik
Drittens ist diese Neuorientierung sicher auch die Reaktion auf Wahlergebnisse sowie auf Proteste von Gewerkschaften und Verbänden und auch Teilen der SPD gegen die als ungerecht empfundenen Entscheidungen der rot-grünen Koalition und schließlich auf die Konkurrenz durch WASG und später die Linke. Der politische Protest war das eine – zugleich wurde aber an Reformen aus den Jahren 1998-2005 auch von wissenschaftlicher Seite Kritik geübt. Das betrifft bspw. die Riester-Rente, bei der erhebliche Zweifel am Erfolg der privaten Vorsorge angemeldet wurden – und das unabhängig von den jeweiligen politischen Vorstellungen zur Weiterentwicklung der Alterssicherung.
Viertens sank in der Regierungszeit der sozialpolitische Problemdruck merklich (wobei auch die Problemidentifikation und -beschreibung Gegenstand politischer Auseinandersetzungen sind). Zentrale Indikatoren wie die Arbeitslosenquote und die Erwerbsbeteiligung, aber auch die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung entwickelten sich vorteilhaft. Selbst die Wirtschafts- und Finanzkrise und die Corona-Pandemie dämpften diesen Trend eher, als dass sie ihn dauerhaft unterbrachen. Das machte nicht nur die Neuorientierung der SPD einfacher, sondern sorgte sicher auch dafür, dass die CDU/CSU die Vorhaben des kleineren Koalitionspartners tolerieren und dazu eigene Vorschläge für expansive Maßnahmen ins Spiel bringen konnte.
Was bleibt?
In der Summe scheinen damit sowohl parteipolitische als auch makroökonomische Bedingungen notwendige (jedoch jeweils für sich nicht ausreichende) Bedingungen zur Erklärung der Stabilität wie auch der milden Expansion zu sein: Die günstigen Rahmenbedingungen wären ohne die Umorientierung der zentralen politischen Akteure nicht in (etwas) großzügigere Politiken „übersetzt“ worden. Umgekehrt wäre die auch aufgrund von politischem Druck entstandene Neubesinnung der Akteure bei großen wirtschaftlichen Problemen nicht in Politik gegossen worden. Zusammengenommen wurde unter Angela Merkel einerseits der eingeschlagene Pfad der Sozialpolitik weiter beschritten – eine grundlegende Korrektur wurde durch die zentralen Akteure nicht angestrebt. Anderseits wurden im Rahmen des bestehenden Systems aber eben auch Korrekturen oder Verbesserungen zumindest für spezielle Personengruppen möglich.
Die nur kleinen Korrekturen bei allgemeiner Stabilität führten aber auch dazu, dass die grundlegende Kritik etwa an „Hartz IV“ und „Riester“ nicht abriss (jedoch leiser wurde). Was von der Ära Merkel damit geblieben ist, sind auf der Habenseite eine höhere Wertschätzung sozialer Sicherung in öffentlichen Diskursen und ein zum Zeitpunkt der Amtsübergabe positives ökonomisches Umfeld, auf der Sollseite ungelöste Strukturfragen in der Sozialpolitik, eine Infrastruktur, die vielen Anforderungen nicht gerecht wird, und schließlich auch der Befund, dass sich nicht alle Indikatoren der Sozialstaatsentwicklung positiv entwickelt haben: Die Armut ist weiterhin hoch und die gesellschaftliche Ungleichheit hat zugenommen.
Zum Weiterlesen
Auth, Diana/Blank, Florian/Schulze, Michaela/Windwehr, Jana (Hrsg.), 2023: Sozialpolitik in der Ära Merkel. Schwerpunktheft des Sozialen Fortschritts, Jg. 72 (2023), Nr. 7-8.
Blank, Florian/Schmitz-Kießler, Jutta, 2023: Sozialpolitik in der Ära Merkel – Stabilität ohne klares Profil?, in: Sozialer Fortschritt, Jg. 72 (2023), Heft 7-8, S. 561–578.
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Autor
Dr. Florian Blank ist Experte für Sozialpolitik und forscht insbesondere zu Fragen der Sozialversicherung in Deutschland und Europa.