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Peer Rosenthal/Regine Geraedts, 13.10.2022: Erste Reformschritte von Hartz IV zum Bürgergeld?

Das neue Bürgergeld soll „die Würde des und der Einzelnen achten, zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen sowie digital und unkompliziert zugänglich sein.“ Reichen die geplanten Strukturen und Mittel aus für ein Bürgergeld auf Augenhöhe statt Hartz IV?

Im Koalitionsvertrag hat die Bundesregierung versprochen, die bisherige Grundsicherung für Arbeitsuchende hinter sich zu lassen und stattdessen ein Bürgergeld einzuführen. Als Rot und Grün das letzte Mal gemeinsam Regierungsverantwortung trugen, beschlossen sie die hoch umstrittene Sozialreform, die 2005 unter dem Namen „Hartz IV“ in Kraft trat und Furore machte. Sie schafften die Arbeitslosenhilfe und die bisherige Sozialhilfe ab und schufen stattdessen neben der Arbeitslosenversicherung ein Fürsorgesystem, in dem jede Arbeit als zumutbar gilt und durch den Druck eines harten Sanktionsregime anzunehmen ist. Die Arbeitslosenversicherung verlor dagegen bei der Unterstützung von Arbeitslosen an Bedeutung.

Mit einer Reform der damaligen Reform will die Ampelkoalition das Hartz IV-System nun hinter sich lassen. Das neue Bürgergeld soll, so heißt es im Koalitionsvertrag, „die Würde des und der Einzelnen achten, zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen sowie digital und unkompliziert zugänglich sein.“ 

Was sieht der Gesetzentwurf vor?

Seit Kurzem liegt nun der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Einführung eines Bürgergeld-Gesetzes vor (Entwurf eines Zwölften Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch). Er weckt Hoffnungen, dass in zentralen Fragen die Abkehr vom Hartz IV-System gelingen kann.

Mit einer Karenzzeit soll der Schrecken des schnellen sozialen Abstiegs, mit dem Hartz IV von Anfang an verbunden war, deutlich abgemildert werden. In einem Zeitrahmen von zwei Jahren sollen künftig angesparte Rücklagen von Hilfebedürftigen und die Wohnung im vertrauten sozialen Umfeld nicht mehr angetastet werden. Auch danach soll nach dem Gesetzentwurf ein höherer Vermögensfreibetrag bleiben, muss das eigene Auto nicht mehr in jedem Fall verkauft und auch die Altersvorsorge nicht verwertet werden. Die gefürchteten Sanktionen werden ebenfalls deutlich entschärft. Es wird eine Kürzungsobergrenze von 30 Prozent des Regelsatzes eingezogen und die Unterkunfts- und Heizkosten bleiben ausdrücklich von Leistungsminderungen ausgenommen. Das setzt die vom Bundesverfassungsgericht 2019 formulierten Anforderungen um und ist gegenüber dem bisherigen Sanktionsregime ein Fortschritt, auch wenn Höhe und Dauer der sanktionierenden Leistungsminderungen angesichts der Höhe der Regelsätze noch immer nicht angemessen erscheinen. Insgesamt können die Veränderungen aber das Vertrauen in den Sozialstaat stärken und das Versprechen von sozialer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit unterstützen.

Auch bei der Mitwirkung der Arbeitssuchenden werden neue Töne angeschlagen. Sie soll künftig auf Augenhöhe stattfinden und auf Vertrauen basieren. Integrationsziele und einzelne Schritte sollen im Einvernehmen vereinbart und in einem Kooperationsplan festgehalten werden. Im Anschluss beginnt eine halbjährliche Vertrauenszeit, in der nicht unmittelbar Sanktionen drohen und die in eine Kooperationszeit übergeht, wenn die Zusammenarbeit gut funktioniert. Es wäre allerdings konsequent gewesen, aus dem Kooperationsplan verbindliche Förderansprüche für die Leistungsbeziehenden abzuleiten. Denn schließlich bleiben umgekehrt Vereinbarungen zu Eigenbemühungen, Bewerbungen auf Vermittlungsvorschläge und zur Teilnahme an Maßnahmen mitwirkungspflichtig und können nach Verwarnung gleichwohl sanktioniert werden, wenn sie von den Leistungsbeziehenden nicht eingehalten werden sollten. So bleibt es trotz des deutlichen Bemühens um Kooperation doch bei einer Machtasymmetrie im Beratungsprozess.

Neue Qualität in der Arbeitsförderung

In der Arbeitsförderung verheißt das Ablösen des Vorrangs der schnellen Vermittlung durch die Stärkung nachhaltiger und dauerhafter Integration in Arbeit eine neue Qualität. Die reformierte Grundsicherung soll zur Weiterentwicklung der eigenen Potenziale ermutigen und dabei unterstützen. Sie setzt - nicht zuletzt zur Fachkräftesicherung - auf das Nachholen von Berufsabschlüssen oder das Erreichen von erforderlichen Qualifikationen. Um Zugänge zu Weiterbildung zu erleichtern, soll künftig sowohl im SGB III als auch in der Grundsicherung ein Weiterbildungsgeld in Höhe von 150 Euro gezahlt werden. Zusätzlich können die Prämienregelungen bei Aufnahme bzw. erfolgreichem Abschluss einer berufsabschlussbezogenen Weiterbildung entfristet und die sozialpädagogische Begleitung von Anfang in Maßnahmen integriert werden. Außerdem sollen Ausnahmen vom grundsätzlichen Verkürzungsgebot berufsabschlussbezogener Weiterbildungen möglich werden, wenn auch nur in individuell begründeten Ausnahmefällen. All das sind sehr positiv zu bewertende substantielle Veränderungen. Sie nähern zudem die Grundsicherung und Arbeitslosenversicherung aneinander an. Der neue Bürgergeld-Bonus von 75 Euro monatlich für definierte andere Fördermaßnahmen unterstreicht, dass künftig positive Anreize gesetzt und Bildungsanstrengungen honoriert werden sollen. Auch die Entfristung des Teilhabechancengesetzes und die dauerhafte Verankerung des Sozialen Arbeitsmarkts im SGB II sind sehr begrüßenswerte Schritte. Dabei weisen sie über klassische arbeitsmarktpolitische Zielsetzungen hinaus, denn sie stellen auch eine sozialpolitische Intervention dar.

Die Vielfalt von Lebens- und Problemlagen verlangt nach stärkeren sozialpolitischen Instrumenten

Allerdings hätte dem Bürgergeld-Gesetz eine noch stärkere sozialpolitische Konturierung in Abgrenzung zu Hartz IV gut getan, denn die Vielfalt der Menschen, die Leistungen beziehen und die in der Mehrheit aus guten Gründen gar keine Arbeit suchen, ist groß: Sie reicht von Kindern und jungen Menschen in Schule, Ausbildung oder Studium über Erwerbstätige, deren Verdienst nicht ausreicht, oder Personen mit Betreuungsverantwortung für Kinder oder zu pflegende Angehörige bis zu Menschen mit längerfristigen gesundheitlichen Problemen. Die Unterstützungsanforderungen an die Grundsicherung gehen daher weit über die klassische Arbeitsmarktpolitik zur Integration in den Arbeitsmarkt hinaus und müssten eigentlich unterschiedlichste Lebensphasen, Lebenslagen und -situationen adressieren. Das neue Instrument der ganzheitlichen Betreuung (Coaching) reflektiert diese Situation, der Entwurf des Bürgergeld-Gesetzes schafft es aber nicht, über das arbeitsmarktpolitische Ziel der Beschäftigungsfähigkeit hinauszudenken. Auch die kommunalen Eingliederungsleistungen Sucht- und Schuldenberatung, psychosoziale Betreuung und Kinderbetreuung werden mit der Reform nicht von ihrer einseitigen Bindung an arbeitsmarktpolitische Ziele befreit.

Offene Baustellen: Zumutbarkeit und Finanzierung

Doch zurück zum Arbeitsmarkt: Dort bleibt die Neufassung des Zumutbarkeitsreglements offen, die eng mit den Sanktionen verknüpft ist. Diese Frage ist deshalb zentral, weil die Zumutbarkeit die Kompromisse bestimmt, die Arbeitslose bei einer Arbeitsaufnahme eingehen müssen – etwa bei der hinzunehmenden Lohnhöhe, bei ungünstigen Rahmenbedingungen wie Pendlerzeiten und oder bei der Annahme einer Beschäftigung unterhalb des Qualifikationsniveaus. Umgekehrt könnten die Zumutbarkeitskriterien auch einen Schutz in Gestalt von Mindeststandards bieten, etwa wenn nur sozialversicherungspflichtige Jobs mit ortsüblicher Entlohnung angenommen werden müssten und die Leiharbeit von der Mitwirkungspflicht bei der Arbeitsaufnahme ausgenommen würde. Nach dem Gesetzentwurf bleibt es auch beim Bürgergeld dabei, dass im Unterschied zur Arbeitslosenversicherung jede Arbeit als zumutbar gilt. Das passt nicht zum Kooperationsversprechen des Bürgergeld-Gesetzes.

In der Gesamtbilanz zeigt der Entwurf zur Reform des SGB II viele substantielle Veränderungen und positive Ansätze, aber auch Nachbesserungsbedarfe. So oder so müssen im Bundeshaushalt die finanziellen Grundlagen dafür geschaffen werden, dass der wichtige Aufbruch bei der Weiterbildung, die positive Stärkung der sozialen Teilhabe und das neue kooperative Beratungskonzept finanzierbar sind. Angesichts des Entwurfs für den Bundeshaushalt 2023, der ausgerechnet bei den Jobcentern eine Kürzung der Eingliederungsleistungen um 609 Millionen Euro und bei der Verwaltung um weitere 51 Millionen Euro vorsieht, ist Skepsis geboten. Ein solches Einsparvolumen will nicht so recht zusammenpassen mit dem durchaus ehrgeizigen Reformvorhaben des Gesetzentwurfs.

Der wunde Punkt: Die Höhe der Regelsätze

Und ein weiteres sehr grundsätzliches Problem tut sich auf: Das vielfach kritisierte Berechnungsmodell, mit dem alle fünf Jahre die Regelsätze ermittelt werden, wird nicht reformiert. Nach dem Willen des Gesetzgebers bleibt es also dabei, dass das Bürgergeld genauso wie Hartz IV das soziokulturelle Existenzminimum nicht abdecken wird. Auch der neue Anpassungsmechanismus, der die Regelsätze in den Jahren bis zur nächsten Regelbedarfsberechnung fortlaufend an gestiegene Preise anpassen soll, reicht nicht aus, um den überdurchschnittlichen Inflationsdruck auf die Mindestsicherung auszugleichen. Wenn das Bürgergeld tatsächlich Hartz IV ablösen will, wird kein Weg an einem neuen Modus zur Berechnung der Regelsätze und einer deutlichen Erhöhung vorbeiführen. Das Bürgergeld muss so bemessen sein, dass es soziokulturelle Teilhabe ermöglicht. Sonst bleibt es trotz eines neuen Namens am Ende doch Hartz IV.

 

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Die Beiträge der Serie:

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Grundsicherung weiterdenken! – Herausforderungen und Perspektiven

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Autor*innen

Peer Rosenthal ist Hauptgeschäftsführer der Arbeitnehmerkammer Bremen.

Regine Geraedts ist Referentin für Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik an der Arbeitnehmerkammer Bremen.

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