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Stephan Lessenich, 09.11.2020: Grenzen der Solidarität. COVID-19 und die Strukturen globaler sozialer Ungleichheit
Die global anstehende Bewältigung der Pandemie eröffnet bzw. erweitert Verteilungskämpfe zwischen den Nationen, für die reiche und ärmere Gesellschaften ungleich gerüstet sind.
Die Corona-Krise hat zu einer ungeahnten Renaissance gesellschaftlicher Solidaritätsdiskurse geführt. Ob nun aus dem Munde der Bundeskanzlerin oder jenem der Präsidentin der Europäischen Kommission, ob mit Blick auf die aufopferungsvollen Dienste der „Corona-Helden“ oder die besonders schützenswerten Gruppen der „Vulnerablen“: Wohl seit Jahrzehnten nicht mehr wurde der Wert der Solidarität so nachdrücklich und so vielstimmig beschworen wie in den vergangenen Monaten.
In aller Regel wurde bei der Einforderung zu leistender und der Würdigung geleisteter Solidarität allerdings mit einem ganz spezifischen Verständnis dieses Hochwertbegriffs operiert. Auf die verbreitete Krisenwahrnehmung folgte als politischer Reflex die Anrufung gesellschaftlicher Einheit, im Angesicht einer so noch nie dagewesenen äußeren Bedrohung hatte der Appell an das Zusammenrücken der gesellschaftlichen Gemeinschaft Hochkonjunktur.
Zwar ist die Deutung des Coronavirus und der durch dieses ausgelösten Pandemie als einer Gefahr, die von „außen“ kommt, durchaus zweifelhaft, denn die gegenwärtige Krise ist nicht weniger gesellschaftlich produziert als zuvor die Finanzmarkt- oder die Migrationskrise; vielmehr ist sie aufs engste verbunden mit der ökologischen Krise und daher mit dem konkreten Reproduktionsmodus der fortgeschrittenen industriekapitalistischen Gesellschaften. Zugleich muss es durchaus paradox erscheinen, wenn gerade das soziale Abstandhalten zum Inbegriff des gesellschaftlichen Zusammenrückens erhoben wird. Und dennoch: Der „gesellschaftliche Zusammenhalt“, in der Geschichte des modernen Industriekapitalismus immer wieder Gegenstand politischer Sorge, steht gegenwärtig pandemiebedingt wieder ganz hoch im Kurs.
Die Corona-Solidarität ist exklusiv
Dass die Corona-Solidarität aber eine exklusive, ausschließende ist, dass der soziale Zusammenhalt sich immer auch gegen etwas richtet, und zwar letztlich nicht etwa gegen das Virus als abstrakte, außersoziale Entität, sondern gegen andere, de facto als gegnerisch konstruierte Sozialeinheiten: Dieser Sachverhalt wird öffentlich kaum thematisiert. Entweder, weil er nicht der Rede wert zu sein scheint, weil es eben selbstverständlich, ja geradezu alternativlos erscheint, dass das „Wir“ des solidarischen Zusammenstehens ein begrenztes – genauer: ein national begrenztes – sein muss. Oder aber, weil es politisch aussichtslos, nicht opportun, im Zweifel sogar selbstschädigend anmutet, auf die soziale Problematik und sozialethische Fragwürdigkeit einer nationalstaatlich formatierten Solidarität hinzuweisen.
Und doch gilt es, genau diese Problematik und Fragwürdigkeit hervorzuheben. Das Coronavirus verstärkt eben nicht nur im nationalgesellschaftlichen Kontext bestehende bzw. schafft neue Ungleichheiten zwischen ressourcenreichen und ressourcenarmen, gesicherten und prekären, mobilen und immobilen Personen, Haushalten und Sozialmilieus. Es produziert nicht nur multiple soziale Spaltungen in den reichen Gesellschaften des euroatlantischen Raums: Zwischen Soloselbstständigen und Beamten, oberen Mittelklassen und Dienstleistungsproletariat, Stamm- und Randbelegschaften, in den Produktionsstätten und im Homeoffice Tätigen, Haushalten mit und ohne Betreuungsbedarfen, großzügig und beengt Wohnenden, zwischen Männern und Frauen, Weißen und Schwarzen, Einheimischen und Migrant*innen usw. usf. Die COVID-19-Pandemie offenbart und verschärft insbesondere auch die zwischengesellschaftlichen Machtdifferentiale – schon innerhalb Europas und der Europäischen Union, mehr aber noch im globalen Zusammenhang.
Gerade im Weltmaßstab ist das Virus nicht etwa – wie zu Beginn der Pandemie vielfach behauptet und auch heute noch allzu häufig unterstellt – der große Gleichmacher, sondern eine ungeheure Triebkraft sozialer Ungleichheit. Und zwar nicht nur in dem Sinne, dass die genannten Ungleichheitsbeziehungen in den ärmeren Ländern der Welt noch deutlich ausgeprägter sind als hierzulande und es dort nicht selten eine Frage existenzieller Not ist, auf der „falschen“ Seite der gesellschaftlichen Spaltungslinien zu leben. Auch auf der Ebene zwischengesellschaftlicher Ungleichheitsrelationen ist das Coronavirus ein großer Ungleichmacher. Auch hier initiiert es eine fatale, selbstverstärkende Dynamik, indem es soziale Ungleichheiten befördert, die wiederum seine Verbreitung befördern.
Verteilungskämpfe zwischen den Nationen
Wenn hier von zwischengesellschaftlichen Ungleichheitsrelationen gesprochen wird, dann mit Bedacht, verweist dieser Begriff doch nicht nur auf die vergleichsweise größeren oder geringeren Chancen einzelner Länder, die sozialen und ökonomischen Herausforderungen der Pandemie zu bewältigen. Er sucht darüber hinaus deutlich zu machen, dass die national ungleichen – größeren oder geringeren – Chancen einer erfolgreichen Bewältigung der Pandemie und ihrer Folgen miteinander in Beziehung stehen, dass also die besseren Bewältigungschancen mancher Länder die schlechteren Bewältigungschancen anderer Länder bedingen. Die global anstehende Bewältigung der Pandemie eröffnet neue bzw. erweiterte Verteilungskämpfe zwischen den Nationen, für die reiche und ärmere Gesellschaften ungleich gerüstet sind. Und wenn die gesellschaftlichen Gemeinschaften der reichen Länder in diesem Verteilungskampf zusammenstehen, dann bedeutet das, dass die gesellschaftlichen Gemeinschaften der ärmeren Länder das Nachsehen haben – und damit intern nochmals ungleich härteren Verteilungskämpfen entgegensehen.
Das beginnt mit dem praktisch seit dem Tag des Überspringens des Coronavirus auf die Gesellschaften des euroatlantischen Raums eröffneten Rennen um den Zugang zu medizinischer Ausrüstung, zu Testkapazitäten und zu einem Impfstoff, dessen zukünftige Verteilung absehbar den globalen sozioökonomischen Machthierarchien folgen wird. Es geht weiter mit den äußerst ungleichen – und in ihrer Ungleichheit miteinander zusammenhängenden – Möglichkeiten einzelner Staaten zum pandemiebezogenen „deficit spending“ und zur (erweiterten) Schuldenaufnahme. Eine Ungleichheitsrelation, die sich schon innerhalb Europas, und selbst nach der Einigung auf einen „Europäischen Aufbauplan“ auch innerhalb der EU, sehr deutlich zeigt – wo zudem die von den Kernstaaten, namentlich von Deutschland, ausgehende Austeritätspolitik den südeuropäischen Gesellschaften ein durch Sparzwänge entkerntes Gesundheitswesen beschert hat. Und die verkoppelten Ungleichheiten enden noch lange nicht mit den strukturellen Problemen, welche die abhängige Integration in die globale Arbeitsteilung vielen Ländern des globalen Südens auch bei der Bewältigung der Pandemiefolgen bereiten wird: Allen voran die vom Reisewillen und nun vor allem der Reisefähigkeit der westlichen (und chinesischen) Mittelschichten lebenden Tourismusregionen dieser Welt, aber auch die industriellen Sektoren der peripheren Länder, werden durch die coronabedingten Reisebeschränkungen und die erwartbaren Wachstumseinbrüche in den ökonomischen Zentren hart getroffen werden. Die insbesondere von den USA befeuerte, aber auch von anderen westlichen Regierungen betriebene Delegitimierung von Organisationen wie der Weltgesundheitsorganisation WHO und deren finanzielle Austrocknung geht zusätzlich unmittelbar zu Lasten der ärmeren Weltregionen.
Vieles spricht daher dafür, dass die COVID-19-Pandemie die im Weltmaßstab herrschenden krassen sozialen Ungleichheiten weiter vertiefen wird. Wie für die kapitalistische Weltordnung selbst, so gilt auch für die Pandemie, dass sie zwar im Grundsatz „alle“ betrifft, aber eben nicht alle gleichermaßen, sondern in durchaus unterschiedlicher Weise – die einen mehr, die anderen weniger, differenziert entlang der jeweiligen Position, die Personen, Haushalte, Klassen und Länder in der Struktur bzw. den Strukturen sozialer Ungleichheit einnehmen.
Internationale Solidarität!
Das Strohfeuer der Solidarität, das Corona in den Öffentlichkeiten der reichen industriekapitalistischen Gesellschaften angefacht hat, ändert an diesen Zusammenhängen gar nichts. Eher im Gegenteil: Je enger diese Gesellschaften intern zusammenrücken, um so weiter driften reiche und arme Länder, Zentrum und Peripherie in ihrer ökonomischen Chancenstruktur und ihrer sozialen Kohäsionsfähigkeit auseinander. Diesen Sachverhalt zumindest zu thematisieren, idealerweise aber auch zu politisieren und zum Bezugspunkt sozialer Mobilisierung zu machen, wäre die ureigene Aufgabe einer sich als solidarisch verstehenden Gewerkschaftsbewegung. Hoch die internationale Solidarität: Womöglich noch nie, in jedem Fall aber schon lange nicht mehr, war diese Losung politisch so angemessen wie in Zeiten der Pandemie.
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Weitere Beiträge sind in Vorbereitung.
Autor
Stephan Lessenich ist Professor am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Theorie des Wohlfahrtsstaats, vergleichende Makrosoziologie, die poltiische Soziologie sozialer Ungleichheit, Kapitalismusanalyse und die Soziologie des Alter(n)s.