Quelle: WSI
Florian Blank, 11.10.2022: Grundsicherung weiterdenken! – Herausforderungen und Perspektiven
Wie geht es mit der Grundsicherung weiter? Was steht auf der Agenda und was sollte darüber hinaus getan werden? Unsere Blogserie wirft Schlaglichter auf aktuelle Diskussionen und Herausforderungen.
Die Grundsicherung steht derzeit aus zwei Gründen im Fokus der politischen Diskussionen: Zum einen hat sich die Ampel-Koalition einiges in ihren Koalitionsvertrag geschrieben, das auf eine neue Interpretation oder Erweiterung von Instrumenten der Grundsicherung hinausläuft: Durch das Bürgergeld soll die viel kritisierte Grundsicherung für Arbeitssuchende (Hartz IV) ersetzt werden; mit einer Kindergrundsicherung soll ein Neustart in der Familienförderung gelingen; das Asylbewerberleistungsgesetz soll weiterentwickelt werden. Die Koalition macht durchaus Ernst mit ihren Vorhaben. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales legte einen Gesetzentwurf zum Bürgergeld vor, der mittlerweile als Regierungsentwurf verabschiedet wurde, also ein Konzept zur Reform der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Und schon im März wurde die „Interministerielle Arbeitsgruppe Kindergrundsicherung“ ins Leben gerufen.
Zum anderen erfordern aktuelle Ereignisse auch ad hoc Anpassungen in der Grundsicherung. Die Regelungen zum erleichterten Zugang zur Grundsicherung für Arbeitsuchende, die in der Corona-Krise beschlossen wurden, sind mehrfach verlängert worden. Hinzu kamen ein Gesetz über Sofortzuschläge und Einmalzahlungen im Bereich der Grundsicherung. Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine wurde geflüchteten Menschen der Zugang zur Grundsicherung ermöglicht.
Diese aktuellen Impulse, die aktiv aus der Politik kommen oder reaktiv von ihr bearbeitet werden müssen, sind ein Anstoß über die Grundsicherung insgesamt nachzudenken und sie weiterzuentwickeln. Das betrifft die Ausgestaltung der im Sozialgesetzbuch geregelten Leistungen der Grundsicherung und der Sozialhilfe und auch das Asylbewerberleistungsgesetz. Aber es sollte nicht nur darum gehen, die Grundsicherung weiterzudenken, sie muss auch „weiter gedacht“ werden. Es muss also über die Grenzen des Sozialgesetzbuches hinaus die Einbettung dieses Leistungssystems in den deutschen Sozialstaat reflektiert werden.
Die Grundsicherung im Sozialstaat
Über die Reform der Grundsicherung im engeren Sinne wird seit langem diskutiert. Berechtigte Kritik wurde und wird grundsätzlich an der Berechnung der Regelbedarfe geäußert. Auch gegen die Umsetzung des „Förderns und Forderns“ – also welche Pflichten Arbeitsuchenden auferlegt werden – wurde Protest laut. Und angesichts der hohen Inflation wird die Frage nach der Höhe der Regelbedarfe und dem Zeitpunkt ihrer Fortschreibung virulent. Daneben gibt es aber weitere Aspekte, die in der Debatte unterbelichtet bleiben:
Erstens ist die Grundsicherung im engeren Sinne – also Sozialhilfe, Grundsicherung für Arbeitsuchende und die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung – Teil eines weiteren sozialen Sicherungssystems. Änderungen in der Grundsicherung haben Rückwirkungen auf den weiteren Sozialstaat, Änderungen in anderen Leistungssystemen haben Rückwirkungen auf die Grundsicherung. Das betrifft insbesondere die Sozialversicherung. Beispiele sind hier die Leistungshöhen der Renten- und Arbeitslosenversicherung, etwa der Abstand einer typischen oder durchschnittlichen Leistung aus diesen Systemen zur Grundsicherung. In der Vergangenheit ist immer wieder vor einer Annäherung der Sozialversicherungsleistungen an die Leistungshöhen der Grundsicherung gewarnt bzw. sind Tendenzen einer Verschmelzung festgehalten worden. Mit den verschiedenen Systemen sind aber unterschiedliche Gerechtigkeitsverständnisse und Sicherungsaufträge und damit Erwartungen an diese Systeme verbunden. Die dringend notwendige Verbesserung der Grundsicherung muss daher auch zu einem Nachdenken über eine Verbesserung des weiteren Sozialstaats, zumindest aber über ein sinnvolles Zusammenspiel seiner Bestandteile führen.
Zweites ist es mit besseren Leistungen nicht getan, wenn mit Grundsicherung nicht nur die Linderung materieller Not, sondern auch gesellschaftliche Teilhabe verbunden wird. Und solange Arbeit den Stellenwert hat, wie es in der deutschen Gesellschaft bisher der Fall ist, und Arbeit nicht nur für Erwerbseinkommen sorgt, sondern auch für soziale Kontakte und im besten Fall Bestätigung durch gelingende Arbeit und sinnvolle Aufgaben, heißt das: Ein Nachdenken über Grundsicherung muss auch die Integration in Arbeit und durch Arbeit beinhalten. Das kann allerdings nur dann funktionieren, wenn es um gute und fair entlohnte Arbeit geht und nicht um eine Umsetzung des Diktums, dass jede Arbeit besser als keine ist. Mit dem Bürgergeld werden möglicherweise erste Schritte in diese Richtung unternommen, indem der Vermittlungsvorrang abgeschafft werden soll. In den Vordergrund sollen stattdessen Bildungsmaßnahmen treten. Das sind erste Schritte, denen aber weitere folgen müssen, um Arbeitsbedingungen und Löhne dauerhaft zu verbessern.
Drittens müssen öffentliche Infrastrukturen in den Blick genommen werden. Das hat zwei Gründe: Zum einen ist „Mehr Geld für die Leistungsbeziehenden“ dann keine Lösung, wenn die benötigten Güter und Dienstleistungen nicht einfach zu kaufen sind. Das betrifft etwa Gesundheitsdienstleistungen, Nah- und Fernverkehr, Bildung und Wohnraum. In diesen Fällen braucht es schlicht ein öffentliches Angebot. Zum anderen haben öffentliche Angebote durchaus eine Rückwirkung auf den Wert der individuell ausgezahlten Geldleistung: was günstig oder kostenfrei zur Verfügung gestellt wird, belastet das individuelle Budget nicht (oder zumindest weniger).
Die Diskussion geht weiter
Das System der Grundsicherung wird derzeit nicht mehr nur von Verbänden, Oppositionsparteien, Wissenschaftler*innen und politisch engagierten Bürger*innen diskutiert und kritisiert. Auch aufgrund dieser andauernden Diskussionen und getrieben durch wirtschaftliche und soziale Entwicklungen sind jetzt Reformschritte geplant und münden in Gesetzgebung. Wir wollen mit einer Blogserie auf einige der zur Diskussion stehenden Punkte aufmerksam machen und vor allem auch den Blick weiten. Denn Grundsicherung kann und sollte weiter diskutiert werden als nur mit einem Fokus auf einzelne Paragrafen im Sozialgesetzbuch (wobei auch kleinschrittige Verbesserungen genau das sein können: nämlich Verbesserungen).
Eine weitere Perspektive auf die Grundsicherung haben wir sowohl in einer Buchpublikation als auch auf einer Tagung eingenommen – auch unter Berücksichtigung der europäischen Dimension. Die Beiträge im Blog, die in den kommenden Wochen veröffentlicht werden, aktualisieren und ergänzen die bisherigen Beiträge: Wir beschäftigten uns mit der zentralen Frage, was eine „neue Grundsicherung“ ausmacht, und setzen uns mit dem Vorschlag eines Bürgergeldes auseinander. Wir fragen nach der zunehmenden Bedeutung der Grundsicherung im deutschen Sozialstaat im Kontext wiederkehrender Debatten um ein bedingungsloses Grundeinkommen. Und wir erweitern die Perspektive, indem wir nach der Nicht-Nutzung sozialstaatlicher Leistungen fragen und damit danach, wie denn Grundsicherung gestaltet sein muss, damit sie von ihren Adressat*innen angenommen wird.
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Die Beiträge der Serie:
Florian Blank (11.10.2022)
Grundsicherung weiterdenken! – Herausforderungen und Perspektiven
Peer Rosenthal/Regine Geraedts (13.10.2022)
Erste Reformschritte von Hartz IV zum Bürgergeld?
Mareike Sielaff/Felix Wilke (18.10.2022)
„das tue ich mir einfach nicht an“
Claus Schäfer (20.10.2022)
Was ist (die neue) Grundsicherung?
Rolf G. Heinze/Jürgen Schupp (25.10.2022)
Der beständige Wandel zum Grundsicherungsstaat: Krisen als Transformationstreiber
Thomas Zander/Martin Franke (27.10.2022)
Das neue Bürgergeld – ist es (un)möglich, Armut wirksam zu bekämpfen?
Autor
Dr. Florian Blank ist Experte für Sozialpolitik und forscht insbesondere zu Fragen der Sozialversicherung in Deutschland und Europa.