zurück
Das Bild zeigt einen unbesetzten Arbeitsplatz und einen gestressten Beschäftigten bei der Arbeit am Schreibtisch.

Eike Windscheid-Profeta, 13.12.2024: Krankheitsbedingte Fehlzeiten: Zwischen Bettkanten und dünnen Personaldecken

Krankheitsbedingte Fehlzeiten auf Höchststand: Machen es Entgeltfortzahlung und Lohnersatzleistungen zu leicht, sich krank zu melden? Eine differenzierte Analyse lenkt den Blick auf Arbeitsbelastungen und Präventionsmängel.

Die krankheitsbedingten Fehlzeiten in Deutschland sind auf einem Allzeithoch angelangt: Noch nie zuvor haben sich so viele Menschen arbeitsunfähig gemeldet. Das sorgt regelmäßig für Diskussionen darum, ob Deutschland – auch im internationalen Vergleich – ein „Bettkantenproblem“ hat: Bereits bei leichtem Unwohlsein und trotz grundsätzlicher Arbeitsfähigkeit träfen Beschäftigte kurzerhand die Entscheidung, sich krank zu melden – und blieben lieber im Bett anstatt zur Arbeit zu erscheinen (siehe hier und hier).

Die Ursachen dafür seien zu suchen in Entgeltfortzahlung und Lohnersatzleitungen, die zu hohe Anreize für Krankmeldungen böten und die zu hohen wirtschaftlichen Lasten für Betriebe und zu Produktivitätsverlusten führten. Die hohen Krankenstände seien Ausdruck einer allgemeinen Arbeitsunlust unter Beschäftigten, die regelmäßig die einfachen Möglichkeiten der telefonischen Krankschreibung missbrauchten (siehe etwa hier, hier, hier und hier). Sollte man daher nicht einfach die Sozialleistungen im Krankheitsfall abbauen und Hürden für Krankmeldungen erhöhen?

Die Fehlzeitensituation: Ursachen und Hintergründe

Ein Blick in die Fehlzeitenstatistik unterschiedlicher Krankenversicherungen zeigt ein klares Bild: Krankheitsbedingte Fehlzeiten haben in den letzten Jahren und Dekaden stark zugenommen – und das über alle Branchen sowie Beschäftigten- und Altersgruppen hinweg (siehe z. B. hier, hier, hier und hier). Sowohl Arbeitsunfähigkeits-Fälle (= Krankmeldungen) als auch Arbeitsunfähigkeits-Tage (pro Fall) sind auf einem Allzeithoch: Normal sind im Schnitt etwa 160 Fälle pro 100 Versicherte im Kalenderjahr, im Herbst 2024 liegt der Wert schon bei ca. 225 Fällen pro 100 Versicherte (siehe hier). Ein Blick auf die Ursachen weist hauptsächlich Muskel-Skelett-Erkrankungen (Platz 3), psychische Leiden (Platz 2) sowie Atemwegserkrankungen (Platz 1) als die wesentlichen Treiber steigender Fehlzeiten aus (siehe hier).

Soweit die nackten Zahlen. Werden die dahinterliegenden Mechanismen betrachtet, lassen sich jedoch nicht nur die Entwicklungen der Fehlzeiten erklären, sondern auch Forderungen nach einer Kürzung von Sozialleistungen im Krankheitsfall besser einordnen bzw. verwerfen:

Ein erster wichtiger Aspekt ist die Zunahme psychischer Erkrankungen. Diese sind häufig mit längeren Ausfallzeiten verknüpft und bedingen daher eine höhere Zahl an AU-Tagen pro Fall (siehe hier). Ihre Zunahme ist u. a. zurückzuführen auf eine Zunahme an psychischen Arbeitsbelastungen (siehe z. B. hier). Dazu gehören z. B. Schwierigkeiten der Abgrenzung von Beruf und Privatleben in zunehmend digitalisierten Arbeitswelten, Arbeitsverdichtung, zunehmend entgrenzte und fragmentierte Arbeitszeiten etc. (siehe hier, hier und hier). Hinzu kommen knappe Personaldecken, die dazu führen, dass Beschäftigte in einem dauerhaften Krisenmodus agieren und immer wieder Lücken füllen müssen. Die daraus entstehende Mehrarbeit führt sie oft an oder sogar über das eigene Leistungslimit hinaus – resultiert daraus eine Erkrankung, muss diese wiederum durch das verbliebene Personal aufgefangen werden, was die Ausgangssituation weiter verschärft (siehe hier).

Auch verbesserte Diagnosemöglichkeiten sowie eine verbesserte Erfassung psychischer Erkrankungen sorgen für zunehmende Fehlzeiten (siehe hier). Allerdings muss das nicht zwingend einen tatsächlichen Anstieg psychischer Erkrankungen bedeuten: Denn nur, weil psychische Erkrankungen früher weniger gut diagnostiziert und erfasst werden konnten, bedeutet das nicht, dass sie weniger stark verbreitet waren. Zugleich ist auch heute nicht selbstverständlich, psychische Erkrankungen (korrekt) zu erfassen. Denn sie sind noch immer gesellschaftlich stark tabuisiert und stigmatisiert, was Betroffene wiederum nicht selten davon abhält, diese diagnostizieren zu lassen bzw. darüber zu berichten (siehe z. B. hier).

Darüber hinaus können nicht nur psychische Erkrankungen, sondern krankheitsbedingte Fehlzeiten insgesamt inzwischen vereinfacht und damit verbessert erfasst werden. Bislang lagen häufig unzureichenden Daten vor, denn früher wurden Erkrankungen zwar dem Arbeitsgeber gemeldet, nicht immer jedoch auch der eigenen Krankenkasse (siehe hier). Insofern liefern die aktuellen Daten zum Krankheitsgeschehen und zu Fehlzeiten mittlerweile ein umfassenderes Bild – etwa, weil die Einreichung von Krankschreibungen inzwischen digital erfolgen kann.

Steigende Fehlzeiten lassen sich branchenübergreifend identifizieren. Zugleich lassen sich jedoch Unterschiede in den jeweils zugrundeliegenden Krankheitsbildern identifizieren. Dazu gehören etwa eine hohe Verbreitung von Muskel-Skelett-Erkrankungen bei Beschäftigten im Bau-, im produzierenden oder verarbeitenden Gewerbe, oder etwa eine stärkere Verbreitung psychischer Erkrankungen bei Beschäftigten der öffentlichen Infrastruktur (siehe hier). Das ist wiederum ein Hinweis darauf, dass es ganz spezifische arbeitssystemische Bedingungen gibt, die eine Rolle für das jeweilige Krankheitsgeschehen spielen. So bestehen in vielen Tätigkeitsbereichen nach wie vor starke physische Belastungen, wie etwa ungünstige Körperhaltungen oder starke Beanspruchung von Rücken oder Gelenken (siehe hier), während an anderen Stellen bestimmte psychische Belastungen zunehmen (wie z. B. Übergriffe gegenüber Verwaltungs- oder helfendem Personal, siehe etwa hier).

Die Ursachen für steigende Fehlzeiten lassen sich nicht zuletzt auch durch Erkältungs- und Grippewellen erklären, die die hohen Zahlen an Atemwegsinfektionen bedingen. Infolge der strengeren pandemischen Schutzmaßnahmen bis zum Jahr 2022 konnten diese vergleichsweise gut eingedämmt werden; dem Robert-Koch-Institut zufolge besteht jedoch ein „Nachholeffekt“ insbesondere bei Rhinoviren, mit denen die Bevölkerung im Allgemeinen während der Corona-Pandemie kaum Kontakt hatte und insofern nur wenig Immunität aufweist (siehe hier).

Was taugen (internationale) Vergleiche von Fehlzeiten?

Wiederkehrend debattiert wird darüber hinaus die Frage, wie die Fehlzeitensituation in Deutschland im internationalen Vergleich einzuordnen ist. Dabei zeigt sich schnell: Ein einheitliches Bild dazu gibt es nicht. Denn während der OECD zufolge, die EU-weit Befragungsdaten zur krankheitsbedingten Abwesenheit auswertet, kein dramatischer Anstieg der Fehlzeiten in Deutschland weder im Vergleich mit anderen EU-Staaten, noch im Zeitverlauf besteht (siehe hier), zeigen aktuelle Querschnittsdaten zu eingegangenen Krankmeldungen in EU-Ländern, dass Deutschland hier eine Spitzenposition besetzt (siehe hier). Daraus allerdings abzuleiten, dass dies Ausdruck zu weit ausgebauter sozialer Sicherung im Krankheitsfall sei, greift jedoch zu kurz. Denn selbst, wenn man die vermeintliche Spitzenposition Deutschlands als Ausgangspunkt annimmt, stellt man schnell fest, dass die Position Deutschlands im Ländervergleich im Zeitverlauf offenkundig variiert (siehe z. B. hier), wohingegen der sozialpolitische Rahmen zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall unverändert geblieben ist.

Das passt zu empirischen Befunden, die schon im Rahmen früherer Diskussionen um Fehlzeiten darauf hingewiesen haben, dass ein Vergleich von Daten zur Fehlzeitenentwicklung auf internationaler Ebene schwierig und in der Regel unergiebig ist. Das liegt zum einen daran, dass nicht nur die Erhebungsmodi und Datenverfügbarkeit in den Ländern variiert, sondern auch die unterschiedlichen (und im Zeitverlauf variierenden!) Ursachen von Fehlzeiten unreflektiert bleiben (siehe hier). Zum anderen werden die unterschiedlichen nationalen sozialen Sicherungs- und Gesundheitssysteme, Arbeitsmarktsituationen, demografischen Strukturen etc. in der Regel nur unzureichend differenziert (siehe hier und hier). Alle diese Faktoren besitzen jedoch nicht nur einen Einfluss darauf, wie sich Beschäftigte verhalten, sondern auch wie gut und rasch Erkrankte versorgt und behandelt werden können, ob es Präventionsmaßnahmen in Betrieben gibt, wie stark jeweils das Phänomen „Präsentismus“ (siehe unten) verbreitet ist usw.

Und auch ein Vergleich zwischen einzelnen Gruppen ist voraussetzungsvoll. Dies zeigt sich beispielsweise in vermeintlichen Generationen-Unterschieden im Gesundheitsverhalten, wie das oft wiederholte, jedoch unbelegte Stereotyp der „wehleidigen und ständig kranken Gen Z“ zeigt (siehe hier). Gleichwohl ist mit Blick auf den betrieblichen Umgang und die Prävention von Erkrankungen (siehe unten) die demografische Entwicklung zu berücksichtigen, nach der immer älter werdende Belegschaften aufgrund bestimmter Krankheitsbilder zu längeren Ausfallzeiten tendieren (siehe hier).

Lohnfortzahlung im Krankheitsfall: Eine gute Idee?!

Die Hintergründe der Krankheits- und Fehlzeitenstatistik sowie ihrer Vergleiche zu kennen ist also hilfreich, wenn es um die Einordnung vermeintlich steigender Fehlzeiten insgesamt geht. Was aber ist mit den Ersatzleistungen, die v. a. Unternehmen zu schultern haben? Stellen diese Kosten nicht grundsätzlich eine hohe Belastung für Wirtschaftlichkeit und Produktivität dar?

Soziale Schutzrechte sind nicht nur nötig, um für Beschäftigte häufig existenzielle Erwerbsarbeit abzusichern, hier: gegen krankheitsbedingte Ausfälle. Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ermöglicht nämlich, dass für Beschäftigte in Krankheits- und Rekonvaleszenzzeiten tatsächlich ihre Gesundung im Mittelpunkt stehen kann. Das führt dazu, dass sie verbessert regenerieren können und beugt dysfunktionalen Ergebnissen, wie etwa schnellen Rückfällen oder „Präsentismus“ (siehe unten), vor. Insofern dient diese Form der Absicherung der Gesunderhaltung von Beschäftigten insgesamt.

Darüber hinaus sorgt Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für Bindekraft in Unternehmen und damit für Beschäftigungsstabilität. Denn damit lassen sich die bei ansonsten hoher Fluktuation – etwa aufgrund krankheitsbedingter Kündigungen – anfallenden sogenannten Transaktionskosten sparen, wie z. B. Aufwendungen für Entlassungen, Einstellungen oder Einarbeitung (siehe hier). Das bedeutet auch, dass Beschäftigte im Austausch für Arbeitsplatzsicherheit mit ihrer Qualifikation, ihrem Wissen und ihrer Arbeitskraft vor Ort erhalten werden können. Solche Formen der Beschäftigungsstabilität und -sicherung stellen – auch im internationalen Vergleich – einen großen Vorteil des deutschen Wirtschafts- und Sozialmodells dar, was sich etwa an der Handlungsfähigkeit deutscher Unternehmen in Krisenzeiten ablesen lässt (siehe z. B. hier).

Schutzlose Beschäftigte: Keine Einzelfälle

Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall lohnt sich also für Unternehmen – zugleich ist sie ein gesetzlich verbrieftes Schutzrecht für Arbeitnehmende. Dennoch gibt es in Deutschland zahlreiche ausbeuterische Arbeitsverhältnisse, die solche sozialen Mindeststandards ignorieren. Dazu gehören erstens Fälle, in denen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall de jure gezahlt werden müsste, de facto aber umgangen wird. Das passiert insbesondere in solchen Bereichen, in denen Beschäftigte oft ihre Rechte nicht kennen oder in denen sie diese aufgrund von Machtgefälle und Abhängigkeiten nicht einfordern bzw. einfordern können. Beispiele dafür sind Arbeitsverhältnisse etwa in der Saisonarbeit der Landwirtschaft oder in der sogenannte Live-In-Pflege, aber auch im Reinigungsgewerbe etc., in denen häufig Personen aus dem osteuropäischen Ausland tätig sind (siehe hier).

Zweitens gibt es die Fälle, in denen arbeitsvertraglich Arbeitsverhältnisse begründet werden, die soziale Mindeststandards de jure umgehen, obwohl sie de facto angezeigt wären. Das trifft vor allem auf Quasi-Selbstständige in der sogenannten Plattformökonomie zu (siehe hier). Diese Beschäftigten haben in aller Regel weniger formelle Rechte, sind aber zugleich stark weisungsabhängig und nur in geringem Maße autonom in ihrer Arbeit. Betroffen sind vor allem Click- und Plattformarbeiter, wie Lieferdienste und sogenannte Rider. Und dann gibt es noch diejenigen Tätigkeiten, die gar nicht versichert sind, nämlich: Care-Arbeit (siehe etwa hier). Menschen mit Sorgearbeitsverpflichtungen etwa haben keine Absicherung, wenn sie erkranken. Besonders vulnerabel sind Frauen und Mütter, die in der Hauptsache Kinder zu Hause betreuen oder Angehörige pflegen.

Arbeit trotz Krankheit: Das Problem „Präsentismus“

Schaut man in solche „rechtsfreien Zonen“, ist es nicht überraschend, dass sich dort Menschen häufig gezwungen sehen, trotz Krankheit zu arbeiten. Beachtenswert ist jedoch, dass dieses als „Präsentismus“ bekannte Phänomen auch unabhängig davon zunimmt und tatsächlich weit und über alle Branchen hinweg verbreitet ist. So gaben vor der Pandemie etwa 70 Prozent der Beschäftigten an, mindestens einmal im Jahr trotz Erkrankung zur Arbeit erschienen zu sein und im Durchschnitt fast neun Arbeitstage pro Jahr trotz Erkrankung gearbeitet zu haben (siehe hier). Dieser Trend dürfte sich in der Folge verschärft haben. Denn vor allem durch die während der Pandemie in vielen Branchen etablierten Möglichkeiten des Arbeitens von zu Hause aus bzw. des mobilen Arbeitens neigen Beschäftigte dazu, trotz Krankheit zu arbeiten und sich z. B. auch bei Erkrankungserscheinungen an den PC zu setzen (siehe hier).

Insofern nehmen offenkundig nicht nur krankheitsbedingte Fehlzeiten zu, sondern auch Präsentismus. Dessen Ursachen liegen nicht darin, dass Beschäftigte einfach nicht loslassen können oder wollen – auch wenn Begriffe wie „Krankheitsverleugnung“ oder „Selbstgefährdung“ das nahelegen. Sie befürchten vielmehr oft den Verlust des Arbeitsplatzes oder Nachteile in Karriere, Aufstiegen, Wertschätzung etc., wenn sie sich krankmelden. Oder sie haben Schuldgefühle und wollen nicht, dass Kolleg*innen ihre Arbeit mit übernehmen müssen (siehe z. B. hier, hier oder hier). Das alles sind in erster Linie jedoch Probleme mangelhafter betrieblicher Kompensationsstrategien bei Krankheit und Abwesenheit von Beschäftigten im Allgemeinen, die sich dann dysfunktional in Präsentismus niederschlagen.

Präsentismus ist dabei wirtschaftlich besonders schädlich – man rechnet gegenüber krankheitsbedingten Fehlzeiten mit etwa doppelt so hohen Folgekosten (siehe hier). Denn krank zur Arbeit zu erscheinen erhöht selbst wiederum die Gefahr für Unfälle, Fehler, Konzentrationsschwierigkeiten etc., die Produktivitätsverluste bewirken und insofern erst recht teuer zu stehen kommen – das Anstecken von Kolleg*innen einmal außen vor gelassen.

Prävention: Schlüssel zu sinkenden Fehlzeiten  

Ob es um Fehlzeiten oder Präsentismus geht: Immer liegt darin auch ein großes Reflexionspotenzial für Betriebe selbst. Nicht nur haben diese bereits aufgrund der Arbeitsgesetzgebung ihrer unternehmerischen Fürsorgepflicht nachzukommen und arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren zu vermeiden, für Prävention zu sorgen und von Erkrankung Betroffene leidensgerecht wiedereinzugliedern. Darüber hinaus können Fehlzeiten und Präsentismus auch zum Anlass genommen werden, um Arbeitssysteme, -prozesse und -verfahren auf den Prüfstand zu stellen und krankmachende Faktoren im eigenen Betrieb zu identifizieren und entsprechend vorzubeugen (siehe z. B. hier). Das erscheint schon aus unternehmerischem Eigeninteresse geboten zu sein, denn rein wirtschaftlich betrachtet lohnt es sich, in Präventionsmaßnahmen zu investieren. Das hat u. a. die DGUV bereits vor längerer Zeit mit Blick auf den sogenannten „Return on Prevention“ gezeigt, der bei etwa 2,2 liegt: Jeder in Prävention investierte Euro zahlt sich mehr als doppelt aus (siehe hier).

Betriebe kommen allerdings schon den gesetzlichen Verpflichtungen nicht immer vollständig nach, etwa bei der Umsetzung von Gefährdungsbeurteilungen oder der Erfassung von Arbeitszeiten (siehe hier, hier und hier). Zwar nehmen Präventionsmaßnahmen in Unternehmen zu – auch solche, die speziell psychische Belastungen in den Blick nehmen; aber sie sind nach wie vor unzureichend verbreitet bzw. werden nur halbherzig umgesetzt (siehe hier). Das geringe betriebliche Engagement im Bereich Prävention zeigt sich auch in den nur an wenigen Stellen über das gesetzliche Maß hinausgehenden Angeboten des Arbeitsschutzes bzw. der Gesundheitsförderung (hier). Zudem ist die konkrete Umsetzung von Präventions- und Gesundheitsmaßnahmen vielerorts lokalen Vorgesetzten anheimgestellt, die jedoch wiederum häufig über kaum Zeit, Wissen oder andere dafür hilfreiche Ressourcen verfügen bzw. andere Aufgaben priorisieren (siehe etwa hier). Das Führungsverhalten spielt in Bezug auf Fehlzeiten jedoch eine entscheidende Rolle und wird bisher zu wenig thematisiert (siehe z. B. hier).

Würden Möglichkeiten und Potenziale der arbeitsbezogenen Prävention sowohl betriebs- als auch belastungsspezifisch ausgeschöpft – etwa über vertrauensvolle und gesundheitsbasierte Führungskonzepte, engagiertere Angebote der Gesundheitsfürsorge, den Arbeits- und Gesundheitsschutz, die betriebliche Wiedereingliederung etc. – so ließe sich die Beschäftigungsfähigkeit aller verbessert erhalten können. Zahlreiche Studien belegen, dass sich krankheitsbedingte Abwesenheit damit wirksam eindämmen lässt (zusammenfassend siehe hier).

Fazit

Es stimmt: Krankheitsbedingte Fehlzeiten stehen in Deutschland auf einem hohen Niveau. Doch werden die unterschiedlichen Hintergründe differenziert, relativiert sich schnell die Einschätzung, Beschäftigte in Deutschland seien faul und hätten ein „Bettkantenproblem“. Als wesentliche Ursachen lassen sich – neben Nachholeffekten bei der Grippe und einer verbesserten Erfassungstechnik – vor allem zunehmende Arbeitsbelastungen und eine in Betrieben oft nur halbherzige Prävention identifizieren, die krankheitsbedingte Fehlzeiten bedingen.

Zugleich gewinnt Präsentismus weiter an Verbreitung. Beide Entwicklungen sind hoch problematisch und sind nicht einseitig und mutwillig durch Beschäftigte oder deren missbräuchliche Nutzung sozialer Absicherung im Krankheitsfall bedingt. Die Ursachen sind komplex. Sie können auch nicht durch einen einfachen Vergleich von Fehlzeitenstatistiken zwischen verschiedenen Ländern zurückgewiesen werden, der wiederum Sozialleistungen im Krankheitsfall in Deutschland insgesamt diskreditieren soll.

Vielmehr sind Lohnersatzleistungen, Prävention oder Wiedereingliederung wichtige Elemente für die Gesunderhaltung von Beschäftigten – und damit auch in betrieblichem Interesse, insbesondere hinsichtlich des gewinnbringenden Findens und Haltens von Fachkräften sowie einer krisensicheren Stabilität. Es sind somit nicht in erster Linie die Krankmeldungen, sondern die Erkrankungen und die krankmachenden Faktoren in Arbeit und Betrieb, die für Fehlzeiten sorgen. Für eine gesunde Arbeitswelt braucht es daher Prävention und keine Abschichtung sozialer Sicherung im Krankheitsfall.
 

Zum Weiterlesen /-hören

Ahlers, E. (2024): Was erklärt den hohen Krankenstand in den Betrieben? WSI-Kommentar

HBS-Podcast „Geschichte wird gemacht“: Streiken für die Gesundheit

Deutschlandfunk: Teilkrankschreibung geht nicht bei allen

 

Die Beiträge der Serie

weitere Beiträge in Vorbereitung

 

Zurück zum WSI-Blog Work on Progress

Autor

Dr. Eike Windscheid-Profeta leitet das Referat Wohlfahrtsstaat und Institutionen der Sozialen Marktwirtschaft in der Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung.

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrem Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen