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Florian Blank/Daniel Seikel, 06.10.2020: Soziale Ungleichheit in der Corona-Krise
Die Corona-Krise hat unser Leben auf den Kopf gestellt. Doch die Krise trifft längst nicht alle gleich schwer. Der Grund dafür ist soziale Ungleichheit. Unsere Blog-Serie nimmt die Auswirkungen auf Arbeit, Wirtschaft und Leben in den Blick.
Wie tiefgreifend die Corona-Krise ist, lässt sich schon an den Spuren erkennen, die sie in der Sprache hinterlassen hat. Zu Beginn der Pandemie machte die Aufforderung „flatten the curve“ die Runde. Das gesellschaftliche Leben wurde in einen „Lockdown“ versetzt. In Europa sorgte die Forderung nach einem „Corona-Bond“ für Streit. Kaum eine Metapher wurde so überstrapaziert wie die der Krise als „Brennglas“, das altbekannte soziale Probleme nun umso deutlicher hervortreten lässt. Man müsse zu einer „neuen Normalität“ kommen, hieß es bald aus den Reihen der „Lockerer“. Die Kanzlerin prägte daraufhin das Wort der „Lockerungsorgie“. In der öffentlichen Wahrnehmung stehen „Corona-Helden“ in „systemrelevanten Berufen“ „Covidioten“ gegenüber, die sich auf „Corona-Partys“ vergnügen. Demonstrant*innen gegen Corona-Schutzmaßnahmen wie die Pflicht, einen „Mund- und Nasenschutz“ zu tragen, werden als „Aluhutträger“ bezeichnet – eine Metapher für Anhänger*innen von Verschwörungstheorien. Schon in den sprachlichen Bildern zeigt sich die ganze Vielfalt von gesellschaftlichen Problemen und Auseinandersetzungen, die wir in den vergangenen Monaten beobachten konnten.
Die Corona-Krise hat unser Leben auf den Kopf gestellt. Wir sorgen uns um unsere Gesundheit und die von Freunden und Angehörigen. Viele Menschen haben Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren. Die meisten mussten ihr Leben, die Erwerbs- und Sorgearbeit neu organisieren. Eltern mussten ihre Kinder zuhause „beschulen“. Soziale Kontakte mussten eingeschränkt werden. Angehörige in Pflegeheimen konnten über Monate nicht besucht werden. Manche Lebensmittel und Haushaltswaren wurden knapp – eigentlich undenkbar in unserer Überflussgesellschaft –, als die Menschen sich auf eine mögliche häusliche Quarantäne vorbereiteten. Urlaubsplanungen mussten auf Eis gelegt werden. Allerdings gab es nicht nur negative Erfahrungen. Manche konnten der Krise auch durchaus positive Seiten abgewinnen wie etwa den Zeitgewinn bei der Arbeit im Homeoffice im Vergleich zum täglichen Pendeln zur Arbeitsstätte, die gegenseitige Unterstützung im Bekanntenkreis und der Nachbarschaft oder die geringere Lärmbelastung durch Straßen- und Flugverkehr.
In der Krise sind nicht alle gleich
Allerdings braucht es schon ein erhebliches Maß an materieller und persönlicher Unabhängigkeit, um der Krise positive Seiten abzugewinnen: Der Rückgang von Flug- und Verkehrslärm lässt sich deutlich besser genießen, wenn man sich eine sonnendurchflutete Wohnung mit Balkon oder Garten leisten kann, wo sich das vom Arbeitgeber genehmigte Homeoffice gut überstehen lässt. Weniger angenehm werden den geringeren Fluglärm diejenigen empfinden, die die Sorge um den eigenen Arbeitsplatz bei einem Luftfahrtsunternehmen quält. Homeschooling ist deutlich einfacher, wenn ein Elternteil gar nicht zur Arbeit muss oder das Privileg echter Flexibilität in der Erwerbsarbeit nutzen kann – und wenn zuhause genügend Ruhe und Platz vorhanden sind. Gänzlich anders sieht es für Familien aus, die mit beengten Wohnverhältnissen zurechtkommen müssen. In den so unterschiedlichen persönlichen Krisenerfahrungen spiegelt sich nicht zuletzt die Ungleichheit von Einkommen und Lebensbedingungen wider. Die Krise trifft die Ärmeren härter als die Reicheren.
Wir wollen in einer Serie des WSI-Blogs „Work on Progress“ das Thema der Ungleichheit in der Corona-Krise näher beleuchten. Ungleichheit drückt sich während der Corona-Krise in vielfältigen Formen und Zusammenhängen aus. Das betrifft schon die Gesundheitsrisiken: Männer haben ein doppelt so hohes Sterberisiko wie Frauen, ältere sind ebenso wie Menschen mit Vorerkrankungen am stärksten gefährdet. Das individuelle Infektionsrisiko hängt aber nicht nur von gesundheitlichen Voraussetzungen ab, sondern auch von der sozialen Lage und den jeweiligen Arbeitsbedingungen. Kann die Arbeit im Homeoffice erfolgen oder muss sie in engem Kontakt mit anderen verrichtet werden? Auch die ökonomischen Auswirkungen sind ungleich verteilt. Unternehmen und ganze Wirtschaftssektoren sind unterschiedlich stark von der Krise betroffen. Luftfahrtindustrie, Veranstaltungsbranche und Tourismus sind deutlich härter betroffen als etwa Supermarktketten und Baumärkte. Dementsprechend haben Arbeitnehmer*innen ein unterschiedlich hohes Risiko, ihren Arbeitsplatz zu verlieren oder in Kurzarbeit geschickt zu werden – mit den damit verbundenen Einkommenseinbußen. Beeinflusst wird die persönliche Betroffenheit auch davon, ob und wie die Kurzarbeit in Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen geregelt ist. Und schließlich hängt viel von der sozialen Lage der Menschen ab: Diejenigen mit höheren Vermögen und Einkommen können nicht nur finanzielle Einbußen besser verkraften, sie haben auch geräumigere Wohnungen und können Einschränkungen des alltäglichen Lebens einfacher erdulden. Der Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen wird je nach sozialer Schicht unterschiedlich von den Schulschließungen beeinträchtigt werden. Auch das Geschlecht spielt eine Rolle: Frauen haben größere Einkommenseinbußen als Männer und kümmern sich vermehrt um die Kinderbetreuung. Das Problem der Ungleichheit zeigt sich schließlich auch in internationalen Zusammenhängen: Entwickelte Industriestaaten haben ganz andere Möglichkeiten, mit der Pandemie umzugehen und die Wirtschaft zu stabilisieren als ärmere Länder (und diese Möglichkeiten wiederum ganz unterschiedlich genutzt). Selbst in der reichen EU zeigen sich diese Unterschiede. So wird die Corona-Krise die Ungleichheit zwischen nord- und südeuropäischen Ländern weiter vergrößern.
Was sind die Folgen?
Fragt man nach den zu erwartenden gesellschaftlichen Langzeitfolgen und den notwendigen politischen Schlussfolgerungen, liegen die Positionen in der öffentlichen Debatte weit auseinander. Einige Beobachter sehen in der Corona-Krise eine Chance: Eine Chance, die bisherigen Lebensweisen und die Wirtschaftsordnung auf den Prüfstand zu stellen, um das Klima zu retten, den Kapitalismus sozialer zu machen oder die Europäische Integration voranzutreiben. Soziale Berufe sollen aufgewertet, die Verkehrswende herbeigeführt, der Konsum verringert, das eigene Leben entschleunigt und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert werden. Da in der Krise vieles möglich geworden zu sein scheint, was vorher fast schon undenkbar war – riesige staatliche Hilfs- und Konjunkturpakete, staatliche Unternehmensbeteiligungen, Sonderzahlungen für Pflegekräfte, Verbot von Werkverträgen in der Fleischindustrie, gemeinsame europäische Anleihen – erkennen einige Beobachter darin einen Ausblick auf (wenn nicht gar schon einen Auftakt für) eine sozialere, nachhaltigere Welt.
Dem steht allerdings der Wunsch vieler Menschen gegenüber, so schnell wie möglich zur Vorkrisen-Normalität zurückzukehren. Natürlich ist verständlich, dass große Teile der Bevölkerung lieber heute als morgen zum Status quo ante zurückkehren wollen. Das ist schon deswegen nachvollziehbar, weil die Menschen schlicht auf ihre Arbeitsplätze und öffentliche Dienstleistungen angewiesen sind. Ist aber die Rückkehr zum Ausgangszustand ohne weiteres möglich? Ist sie überhaupt wünschenswert? Lässt sich etwas aus der Krise für die Zeit nach der Krise lernen? Und lässt sich das Gelernte auch politisch umsetzen? Oder ist die einzige Lehre, dass sich die Menschen auch in den westlichen Industrienationen an wiederkehrende Krisen gewöhnen müssen? Dem Wunsch nach einer besseren Welt stehen nämlich auch die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse entgegen. Schon während der Finanzkrise hofften nicht Wenige angesichts der auf einmal möglich gewordenen staatlichen Eingriffe in die Wirtschaft, nun würde der globale Finanzmarktkapitalismus endlich in seine Schranken gewiesen. Stattdessen setzten sich – gerade in Europa – die politischen Kräfte durch, die eine strenge Finanzmarktregulierung verhindern wollten und eine harte, unsoziale Sparpolitik befürworteten, die die soziale Ungleichheit befeuerte.
Die Blog-Serie
In einer Reihe von Beiträgen werden Autor*innen aus dem WSI sowie Gastautor*innen die verschiedenen Dimensionen von Ungleichheit in der Corona-Krise beleuchten. Wie wirkt sich die Krise auf Ungleichheit – in der ganzen Breite ihrer Erscheinungsformen – aus? Welche politischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen erwachsen daraus für unsere Gesellschaft? Welche politischen Schlussfolgerungen müssen gezogen werden?
Ein Schwerpunkt der Beiträge liegt auf dem Thema Arbeit und Arbeitsbedingungen, also auf Einkommen und Arbeitszeiten, auf Arbeits- und Gesundheitsschutz, auf Homeoffice und Kurzarbeit. Darüber hinaus werden fiskal- und europapolitische Gesichtspunkte, sozialpolitische Fragestellungen und auch grundsätzliche gesellschaftspolitische Fragen diskutiert werden. Den Auftakt machen Bettina Kohlrausch und Andreas Hövermann. Sie analysieren Daten der Erwerbstätigenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung und zeigen, welche Arbeitnehmer*innen Arbeitszeitverkürzungen und Einkommensverluste hinnehmen mussten. Arbeitsbedingungen werden auch in einem weiteren Beitrag im Mittelpunkt stehen, der in dieser Woche veröffentlicht wird: Elke Ahlers macht auf die Probleme beim Arbeits- und Gesundheitsschutz in der Corona-Krise aufmerksam und verdeutlicht, dass die gravierende Ungleichbehandlung von Beschäftigten bessere Regeln und auch eine stärkere staatliche Kontrolle dringend notwendig macht. Der dritte in dieser Woche erscheinende Beitrag von den Gastautor*innen Phil Mader, Natascha van der Zwan und Daniel Mertens präsentiert neun Thesen, wie die Pandemie den Kapitalismus transformieren könnte.
In den kommenden Wochen wollen wir diese Serie fortsetzen. Die Beiträge weisen immer wieder auf die Vielschichtigkeit der Entwicklungen hin: Der Trend zum Homeoffice etwa hat sowohl Vor- wie auch Nachteile für Beschäftigte und Unternehmen, der Sozialstaat erweist sich als eine unverzichtbare Stütze in der Krise, stößt aber zugleich im Bereich der sozialen Dienstleistungen an Grenzen. Gemeinsam ist den meisten Beiträgen, dass sie die Gefahr einer Verfestigung oder sogar Zunahme von Ungleichheit sehen, die die Autor*innen nicht nur für ungerecht, sondern auch für dysfunktional halten. Viele Beiträge teilen außerdem die Einschätzung, dass eine Chance auf Verbesserung der Umstände besteht: die Krise hat auf existierende Probleme aufmerksam gemacht und in der Öffentlichkeit werden Wege diskutiert, wie diese Probleme behoben werden können. Einig sind sich die Autor*innen schließlich auch darüber, dass eine Verbesserung von Lebenslagen und Arbeitsbedingungen nicht automatisch auf die Krise folgen wird. Wenn die Krise Chancen bietet, dann müssen diese Chancen auch aktiv genutzt und gegen die zu erwartenden Widerstände durchgesetzt werden – und das geht nicht ohne Auseinandersetzungen.
Was die Beiträge in der Gesamtschau auch offen legen, ist, dass einerseits die Corona-Krise eine Krise von vielen aktuellen Krisen und Problemen des Kapitalismus ist – ausbeuterische Arbeitsbedingungen, erodierende industrielle Beziehungen, kaputtgesparte öffentliche Daseinsvorsorge, soziale Ungleichheit, Strukturwandel, wiederkehrende Wirtschaftskrisen, Staatsfinanzierung, Klimakrise. Was diese Krise anderseits besonders macht, ist, dass die Pandemie und die politischen Gegenmaßnahmen kurzfristig, unmittelbar und weitreichend in alle gesellschaftlichen Beziehungen hineinwirken: Die Corona-Krise verändert die Arbeitswelt, die Arbeitsteilung zwischen Staat, Wirtschaft und privaten Haushalten und den Umgang der Menschen miteinander. Diese Krise trifft alle, aber nicht alle gleich.
Die Beiträge der Serie:
Florian Blank und Daniel Seikel (06.10.2020)
Soziale Ungleichheit in der Corona-Krise. Eine Serie im WSI-Blog Work on Progress
Bettina Kohlrausch und Andreas Hövermann (06.10.2020)
Arbeit in der Krise
Elke Ahlers (07.10.2020)
Arbeitsschutz in der Corona-Krise: Hohe Standards für alle!
Philip Mader, Daniel Mertens, Natascha van der Zwan (08.10.2020)
Neun Wege, wie der Coronavirus den Finanzkapitalismus verändern könnte
Daniel Seikel (13.10.2020)
Die Corona-Krise und die Eurozone: Ausweg aus dem Nein-Quadrilemma?
Ingo Schäfer (15.10.2020)
Rente in der Krise? Keine Spur!
Maria Figueroa, Ian Greer, Toralf Pusch (16.10.2020)
Europas Arbeitsmärkte in der Corona-Krise: Kurzarbeit hat einen drastischen Einbruch verhindert
Elke Ahlers und Aline Zucco (20.10.2020)
Homeoffice - Der positive Zwang?
Lukas Haffert (22.10.2020)
Auf Nimmerwiedersehen, Schwarze Null?
Florian Blank (23.10.2020)
Die Unordnung der Wohlfahrtsproduktion in Zeiten von Corona
Toralf Pusch und Hartmut Seifert (30.10.2020)
Kurzarbeit vs. Mehrarbeit in systemrelevanten Bereichen
Martin Behrens (03.11.2020)
Besser durch die Krise mit Tarif und Betriebsrat
Stephan Lessenich (09.11.2020)
Grenzen der Solidarität. COVID-19 und die Strukturen globaler sozialer Ungleichheit
Bettina Wagner (13.11.2020)
Corona und die deutsche Fleischindustrie – seit langem überfällige Reformen?
Aline Zucco und Bettina Kohlrausch (24.11.2020)
Was bedeutet die Pandemie für die Gleichstellung zwischen Frauen und Männern?
Sonja Blum (16.12.2020)
Bildung und Betreuung in der (Corona-)Krise
Lara Altenstädter, Ute Klammer, Eva Wegrzyn (02.02.2021)
Corona verschärft die Gender Gaps in Hochschulen
Weitere Beiträge sind in Vorbereitung.
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Autoren
Dr. Florian Blank ist Experte für Sozialpolitik am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung und forscht insbesondere zu Fragen der Sozialversicherung in Deutschland und Europa.
Dr. Daniel Seikel ist wissenschaftlicher Referent für Europäische Politik am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Politische Ökonomie der europäischen Integration, Integration durch Recht und Economic Governance.