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WSI Blog Tarifrunde 2022

Reinhard Bispinck, 02.03.2022: Tarifrunde 2022: Zwischen Kaufkraftsteigerung und Preis-Lohn-Preis-Spirale

Die Rahmenbedingungen der Tarifrunde 2022 sind außergewöhnlich: Coronapandemie, enorme Preisanstiege vor allem für Energie, hohe Erwartungen der Beschäftigten – und die dramatische Entwicklung in der Ukraine mit nicht absehbaren Folgen.

Ausgangssituation

Die Tarifrunde 2022 hat begonnen und sie gestaltet sich für die Gewerkschaften in vielerlei Hinsicht schwierig. Zunächst zur Ausgangssituation: Im vergangenen Jahr stiegen die Tarifverdienste nach Berechnungen des WSI-Tarifarchivs lediglich um 1,7 Prozent. Das war nicht zuletzt eine Folge der anhaltenden Coronakrise, die auch im Jahr zuvor bereits die Tarifabschlüsse gedrückt hatte. Zugleich stiegen die Verbraucherpreise im vergangenen Jahr im Schnitt um 3,1 Prozent. Real schrumpften also die Tarifentgelte im Schnitt um 1,4 Prozent. Grund genug für die Gewerkschaften, für die Tarifrunde 2022 kräftige Lohnerhöhungen anzupeilen.

Welche Tarifforderung?

Doch welche Forderung ist angemessen? Traditionell orientieren sich die gewerkschaftlichen Tarifforderungen in einer Lohnrunde an der absehbaren Preisentwicklung, der zumeist steigenden Arbeitsproduktivität und einem Zuschlag, der den Anspruch auf „ein Stück mehr vom Kuchen“ dokumentiert. Die Diskussion entzündet sich in dieser Tarifrunde vor allem an der Frage, wie sich die Preise entwickeln werden. Die Antwort ist diesmal nicht einfach zu finden, weil die Verbraucherpreisentwicklung mehreren Sondereinflüssen ausgesetzt war und ist. Zum einen stiegen 2021 die Preise, weil die befristete Mehrwertsteuersenkung von 2020 Anfang 2021 zurückgenommen wurde. Zum anderen erhöhten sich die Energiepreise im Vorjahr überraschend stark um über 10 Prozent. Hartnäckige Lieferkettenprobleme taten ein Übriges. In der Folge kletterte die Inflationsrate der zweiten Jahreshälfte rasch an und erreichte im Dezember 5,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die vielfach gehegte Erwartung, dass mit Jahresbeginn eine deutliche Preisberuhigung eintreten würde, erfüllte sich nicht. Die Wirtschaftsforschungsinstitute korrigierten ihre Prognosen nach oben, die Bundesregierung rechnet in ihrem Jahreswirtschaftsbericht für dieses Jahr mit einem Anstieg der Verbraucherpreise um durchschnittlich 3,6 Prozent. Die Gewerkschaften beharren darauf, dass die Tarifsteigerungen reale Einkommenssteigerungen bringen sollen. Das würde Tarifabschlüsse von 4 Prozent und mehr erfordern.

Warnungen vor der Lohn-Preisspirale

Sofort meldeten sich Kritiker wie der neue Sonderberater von Bundesfinanzminister Lindner und frühere Wirtschaftsweise Lars Feld und warnten vor einer Lohn-Preis-Spirale. Das Institut der deutschen Wirtschaft argumentierte, die Wirkung für die Wirtschaft wäre fatal. Wenn die Gewerkschaften die erhöhte Inflationsrate zur Grundlage ihrer Tarifforderungen machten, dann seien Zweitrundeneffekte mit problematischen Folgewirkungen zu erwarten. Einer durch starke Lohnerhöhungen angetriebenen Preisentwicklung müsste die EZB mit einer entsprechenden Zinspolitik begegnen, die wiederum bremsend auf Wachstum und Arbeitsmarkt wirken würden. Die Gewerkschaften werden deshalb allenthalben zum Maßhalten aufgerufen. Die Arbeitgeber warnten darüber hinaus, dass auch die Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro zum Oktober dieses Jahres die Preise treiben werde. Die Reaktion war ebenso erwartbar wie wenig überzeugend. Wann immer gewerkschaftliche Tarifforderungen als überzogen angesehen werden, ist dieses vermeintlich schlagende Argument bei der Hand. Zunächst zur Begrifflichkeit: Wenn schon, dann sollte von einer Preis-Lohn-Preisspirale die Rede sein. Immerhin reagieren im Zweifelsfall die Löhne auf die vorangegangene Preisentwicklung. Ignoriert wird im Übrigen, dass Preissteigerungen keineswegs die automatische (!) Folge von (Lohn-)Kostensteigerungen sein müssen. Deren komplette Weitergabe ist kein Naturgesetz und es gibt auch kein Grundrecht auf eine bestimmte Gewinnmarge. Es geht also immer um Löhne, Preise und Profite.
 

 

Lohn-Preis-Spirale – der blinde Fleck im Wirtschaftsmodell

Ausgerechnet in der Financial Times (!) war jüngst eine Kritik an den „Class warriors at the Bank of England“ zu lesen. Der Gouverneur der Bank of England, Andrew Bailey, hatte die Arbeitnehmer aufgefordert, die aktuelle Inflation nicht mit hohen Lohnforderungen zu bekämpfen. Martin Sandbu, prominenter Kommentator des Blatts, schrieb: „Warum ermutigt der Gouverneur der Bank von England zur Zurückhaltung bei den Lohnforderungen, ruft aber nicht zur Zurückhaltung bei den Versuchen der Unternehmen auf, ihre Gewinnspannen zu schützen?“ Er kritisierte den „blinden Fleck“ im Wirtschaftsmodell der meisten wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger und hielt ausdrücklich fest: „Theoretisch kann man eine Lohn-Preis-Spirale verhindern, indem man eine der beiden Verbindungen unterbricht: den Versuch der Arbeitnehmer, ihren Reallohn zu schützen (oder zu erhöhen), oder den Versuch der Unternehmen, ihre Gewinnspanne oder ihre reale Rendite zu schützen (oder zu erhöhen).“

 

Die Lektüre des Kommentars ist auch deutschen Leser:innen sehr zu empfehlen. Nicht nur angesichts der hervorragenden wirtschaftlichen Entwicklung in vielen Branchen sind Lohnsteigerungen oberhalb der erwartbaren Inflationsrate verkraftbar und auch angeraten.

Langfristige Tariflohnentwicklung

Ein Blick auf die Entwicklung der Tarifentgelte in den vergangenen zwei Jahrzehnten zeigt überdies, dass von einer überschießenden Lohnentwicklung keine Rede sein kann. Als Maßstab sei hier die EZB-Stabilitätsregel für die Lohnentwicklung genommen. Sie gibt als Orientierung die Zielinflationsrate und die Trendproduktivität vor. Die Abbildungen zeigen: In den 2000er Jahren ergab sich infolge niedriger Abschlüsse zunächst ein großer Rückstand der Tarifentgelte, in den 2010er Jahren folgte die Tarifentwicklung überwiegend der EZB-Regel. Die Lücke konnte allerdings nicht geschlossen werden, die Tarifentwicklung während der beiden Coronajahre hat sie wieder größer werden lassen.

Vor diesem Hintergrund erscheinen Tarifabschlüsse für 2022 und 2023, die deutlich oberhalb der EZB-Regel liegen, als unproblematisch. Es sollte auch nicht vergessen werden, dass es sich bei dieser Regel um eine gesamtwirtschaftliche Orientierungsgröße für die Lohnentwicklung handelt. Tarifverhandlungen in einzelnen Branchen sind nicht lediglich ein formelgestütztes Rechenspiel, sie folgen einer eigenen Logik, in der die wirtschaftliche Situation der Branche und die gewerkschaftliche Verankerung in den Betrieben eine große Rolle spielen. Tarifpolitik ist immer auch ein Verteilungskampf, dessen Ergebnis auch vom Kräfteverhältnis der Tarifvertragsparteien abhängt. Es gibt also keineswegs von vornherein eine branchenübergreifende einheitliche Sichtweise. Die Zeiten, in denen Pilotabschlüsse in wichtigen Industriebranchen den Trend einer gesamten Lohnrunde bestimmten („Geleitzugprinzip“), sind lange vorbei. Die Lohnentwicklung hat sich ausdifferenziert. Von 2000 - 2021 stiegen beispielsweise die Tarifentgelte in der Metall- und Elektroindustrie um etwa 70 Prozent, im öffentlichen Dienst um 60 Prozent, im Einzelhandel um gut 50 Prozent und in der Druckindustrie knapp 38 Prozent.   

Tarifrunde 2022: Entgeltsteigerung und mehr

Was fordern nun die Gewerkschaften konkret? Bislang bewegen sich die tariflichen Entgeltforderungen zwischen 5 und 6,5 Prozent auf 12 Monate bezogen. Das ist keineswegs dramatisch mehr als in den Vorjahren (2021: 4,0 – 6,0 % | 2020: 4,8 – 6,8 % | 2019: 5,0 – 6,0 %). Nicht alle Gewerkschaften haben ihre Forderungen schon beschlossen. Offen ist zum Beispiel die Situation in der Metallindustrie, wo die Verträge erst Ende September auslaufen. Aber die Aussage des IG Metall-Vorsitzenden Jörg Hofmann ist klar: „Die IG Metall wird sich auch in diesem Jahr an den Kernpunkten der Tarifpolitik weiter orientieren: Gesamtwirtschaftliche Produktivität, Zielinflationsrate der EZB und eine gerechte Verteilung sind und bleiben unsere tariflichen Leitplanken in allen Branchen.“ Für die chemische Industrie, wo die regionalen Verhandlungen Anfang März beginnen, gibt es bereits ein Forderungspaket, aber die IG BCE hat bislang ihre Entgeltforderung nicht konkret beziffert. Die Kaufkraft soll „nachhaltig“ gesteigert werden, lautet das Ziel. Eine solche eher qualitative Forderung ist selten, aber nicht völlig ungewöhnlich. Bereits in der vergangenen Tarifrunde 2019 hatte die Gewerkschaft eine „spürbare reale Erhöhung der Entgelte“ gefordert.

  • Tarifrunde 2022 Entgeltforderungen

Die Anforderungen an eine angemessene Tariferhöhung hängen nicht zuletzt auch davon ab, ob durch entsprechende Maßnahmen der Bundesregierung zumindest teilweise ein Ausgleich für die enorme Steigerung der Energiepreise erreicht wird. Die Pläne reichen von der vorgezogenen Abschaffung der EEG-Umlage über einen Heizkostenzuschuss für Wohngeldempfänger bis zur Erhöhung der Pendlerpauschale. Große Wirkung hätte auch die Einführung eines Gaspreisdeckels, wie er von Sebastian Dullien und Isabella Weber vorgeschlagen wurde.

Die Tarifrunde 2022 ist mehr als eine „normale Entgeltrunde“. Im Oktober dieses Jahres wird der gesetzliche Mindestlohn auf 12 Euro angehoben. Das hat unmittelbare Auswirkungen auf die Tarifverhandlungen in einigen Niedriglohnbranchen, weil hier manche Tarifverträge Entgelte vorsehen, die noch darunter liegen. Der gewerkschaftliche Anspruch ist außerdem, dass die Tarifverträge ein Verdienstniveau garantieren, das deutlich über dem Mindestlohn liegt. Ein prominentes positives Beispiel dafür ist der jüngst im Januar vereinbarte Tarifabschluss der Gewerkschaft NGG für das nordrhein-westfälische Gastgewerbe. Zum 1. Mai klettert der Einstiegslohn in der Branche auf 12,50 Euro pro Stunde – 28 (!) Prozent mehr als bislang. Fachkräfte in der Küche, im Service oder Hotelmanagement kommen auf ein Plus von 17 Prozent. Ebenfalls entgeltrelevant sind die Tarifverhandlungen im Sozial- und Erziehungsdienst (SuE). Dort will Ver.di vor allem durch verbesserte Eingruppierungsregeln eine finanzielle Aufwertung der Berufe in diesem Bereich durchsetzen.

Ukraine-Krise und ihre unabsehbaren Folgen

Der Angriffskrieg von Putin in der Ukraine und die Sanktionsmaßnahmen des Westens werden negative Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung weltweit und insbesondere in Europa haben. Mit Sicherheit wird auch die deutsche Wirtschaft betroffen sein, die Energiepreise werden steigen, einzelne Unternehmen werden in Schwierigkeiten geraten. Die weiteren Konsequenzen sind heute in ihrem Ausmaß noch gar nicht absehbar. Die Tarifrunde 2022 wird davon nicht unberührt bleiben, aber welche konkreten Auswirkungen dies in den einzelnen Branchen haben wird, bleibt abzuwarten. Es ist nicht auszuschließen, dass Situationen entstehen können, die durch die Tarifpolitik nicht gelöst werden können. Dann würden politische Maßnahmen zum möglichen Ausgleich von Reallohnverlusten noch nötiger werden.

Zum Weiterlesen:

Schulten, Thorsten / WSI-Tarifarchiv (2022): Tarifpolitischer Jahresbericht 2021 – Tarifpolitik im zweiten Jahr der Corona-Pandemie, Düsseldorf

Bispinck, Reinhard (2022): Mindestlohnerhöhungsgesetz - 12 Euro Mindestlohn: Wer profitiert, was bleibt zu tun?

Bundesministerium für Wirtschaft und Transformation (BMWT) (2022): Jahreswirtschaftsbericht 2022 – Für eine Sozial-ökologische Marktwirtschaft – Transformation innovativ gestalten, Berlin

Feld, Lars (2022): „Die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale ist groß“, in: Die Welt vom 18.02.2022,

Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) (2022): Tarifabschluss Gastgewerbe NRW Turbo-Tarif: Gastro-Löhne ziehen kräftig an, 19.01.2022

Hofmann, Jörg (2022): Statement Jahrespressekonferenz 2022 der IG Metall, Frankfurt, 27. Januar 2022

IG BCE (2022): Forderungsbeschluss Chemietarifrunde 2022: Mehr Kaufkraft, mehr Wertschätzung, mehr Sicherheit

Lesch, Hagen, Institut der deutschen Wirtschaft (IW) (2021): Die hohe Inflation ist kein Argument für höhere Löhne, Gastbeitrag für FOCUS Online 29.12.2021

Sandbu, Martin (2022): The class warriors at the Bank of England, Financial Times, 10.2.2022 

tagesschau.de (2022): Hohe Energiepreise: Wie Verbraucher entlastet werden könnten

Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (Ver.di) (2022): Verhandlungen für Sozial- und Erziehungsdienst sind gestartet

WSI-Tarifarchiv (2022): Tarifrunde 2022 – Aktueller Überblick, Kündigungstermine, Forderungen, Abschlüsse, https://www.wsi.de/de/tarifrunde-2022-37239.htm

 

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Autor

Dr. Reinhard Bispinck, Studium der Volkswirtschaftslehre an der Universität Köln, Promotion 1986. Ab 1979 wissenschaftlicher Referent am WSI, von 1989 bis 2017 Leiter des WSI-Tarifarchivs, 2013 bis 2017 Abteilungsleiter des WSI der Hans-Böckler-Stiftung. Forschungsschwerpunkte: Tarifpolitik, Industrielle Beziehungen, Sozialpolitik.

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