Quelle: WSI
Jennifer Eckhardt, 01.08.2024: Von wegen Hängematte: Zur Unzugänglichkeit von Sozialleistungen
Seit Einführung des Bürgergelds wird wieder viel diskutiert über „Missbrauch“ und die vermeintliche Möglichkeit, sich auf den Leistungen auszuruhen. Übergangen wird, wie viele Menschen Sozialleistungen trotz Bedürftigkeit gar nicht in Anspruch nehmen.
Seit der Einführung des Bürgergeldes treten Sozial- und Transferleistungen wieder verstärkt als Arena zur Durchsetzung unterschiedlichster Interessenlagen hervor. Viel diskutiert wird dabei der Missbrauch von Leistungen im Sinne ihres unrechtmäßigen Bezugs und die vermeintliche Möglichkeit, sich im Leistungsbezug auszuruhen.
Dabei werden die Debatten meist wenig fundiert geführt und sind von Fehlannahmen und zum Teil populistischen Falschbehauptungen geprägt. Der Bezug von Sozialleistungen würde demnach z.B. Inaktivität und ein Verharren in der Abhängigkeitssituation bewirken und die Leistungen würden durch ihre leichte Verfügbarkeit oft unrechtmäßig bezogen. Ihre Höhe bedinge fehlende Arbeitsanreize und führe dazu, dass bestehende Arbeitsverhältnisse gekündigt werden. Die Beschränkung der Sanktionspraxis ziehe zudem einen immensen Schaden für den Bundeshaushalt nach sich. Viele dieser Aussagen wurden von verschiedenen Seiten einer Überprüfung unterzogen (z.B. IFO; IAB; ZDF) und als unzutreffend beurteilt. Dennoch prägen sie weiterhin die öffentliche Meinung und scheinen in politischen, medialen und Alltagsdiskursen einen fruchtbaren Resonanzboden zu finden. Zwei der am häufigsten vorgebrachten Behauptungen sind der vermeintliche „Missbrauch“ von Sozialleistungen, sowie das Bild der „sozialen Hängematte“.
Mythos Missbrauch
Häufig untermauert durch anekdotische Einzelfallgeschichten erhält der Missbrauch von Sozialleistungen viel Aufmerksamkeit und provoziert Empörung. Er wird nicht nur als Ausdruck einer Dysfunktionalität des sozialen Leistungssystems interpretiert, sondern auch weitgehend als moralisch verwerflich verurteilt. Verschiedene Institutionen und Behörden sind in Deutschland für die Kontrolle von Leistungsmissbrauch zuständig. Durch das Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz (SchwarzArbG) und das Gesetz zur Bekämpfung von Leistungsmissbrauch (LeistBMG) fällt es in das Aufgabengebiet des Zolls, die Rechtmäßigkeit von Leistungsbezügen zu überwachen. Dabei kooperiert er eng mit Institutionen des Sozialleistungssystems, wie unter anderem den Arbeitsagenturen und Jobcentern, den Familien- und Rentenkassen sowie den kommunalen Sozialämtern, hat jedoch weitreichendere Ermittlungsbefugnisse.
Das ZDF hat für das Jahr 2022 durch Anfrage an die Bundesagentur für Arbeit und den Zoll festgestellt, dass im Bereich der Grundsicherung für Arbeitssuchende rund 119.000 Fälle von Leistungsmissbrauch oder Verdacht auf Leistungsmissbrauch dokumentiert worden sind. Hierzu gehören das Verschweigen von Einkommen durch Vermögen oder ungemeldeten Beschäftigungen, das Unterlassen der Meldung von Änderungen in den persönlichen Verhältnissen, der Missbrauch von Kindergeld oder nicht gemeldete Mitbewohner*innen oder Haushaltsmitglieder. Auch Leistungsbezug während einer Ortsabwesenheit ohne Genehmigung kann als Leistungsmissbrauch betrachtet werden. Bloße Versäumnisse von Terminen werden hingegen erst einmal nicht als gesetzeswidrig eingeordnet. Der Zoll gab für dasselbe Jahr etwa 85.700 eingeleitete und knapp 86.700 erledigte Ermittlungsverfahren an, wobei hier Grundsicherung und das Arbeitslosengeld einbezogen wurden. Eine Missbrauchsquote liegt demnach – gemessen an fünf Millionen Leistungsberechtigten – bei etwa vier Prozent.
Bei der gegenwärtigen Fokussierung auf den Sozialleistungsmissbrauch wird häufig nicht mitgedacht, dass bzw. wie viele Menschen Sozialleistungen trotz vorliegender formaler Bedürftigkeit gar nicht in Anspruch nehmen. Dies aber ist ebenfalls ein Ausdruck sozialstaatlicher Dysfunktionalität. Die statistische Bezifferung dieser Gruppe schwankt dabei aufgrund der Anwendung unterschiedlicher Schätzungs- und Simulationssysteme teilweise erheblich, liegt aber immer deutlich über der Missbrauchsquote und betrifft einen großen Teil der potenziellen Bezieher*innen. Für die Grundsicherung im Alter wird sie auf etwa 60 Prozent der Haushalte geschätzt (Buslei et al. 2019). Im Arbeitslosengeld II (heute Bürgergeld) lagen die Schätzungen bei über einem Drittel Nicht-Nutzung (Bruckmeier et al. 2019).Noch höher sind die Werte beim „Bildungs- und Teilhabepaket“ für Kinder, das das Alg II ergänzt: Dort lag die Nicht-Inanspruchnahme bei 85 Prozent (Paritätischer Gesamtverband 2019).
Es scheint also eine beträchtliche Anzahl von Personen zu geben, die von ihrem Anspruch nichts wissen oder dem Leben in der „sozialen Hängematte“ einen Alltag in zumeist prekären Situationen vorziehen. Ein Blick in die Lebenswelten dieser Personen, hier entnommen aus einer qualitativen Studie zum Verzicht auf Sozialleistungen (Eckhardt 2023), verrät etwas darüber, welche Barrieren im Sinne einer Verfügbarkeit, Zugänglichkeit, Annehmbarkeit und Akzeptierbarkeit tatsächlich einer Inanspruchnahme entgegenstehen, und kann die Behauptung der leichten Verfügbarkeit weiter entkräften.
Aspekte der Verfügbarkeit und Zugänglichkeit
Zunächst lassen sich initiale Hürden ausmachen, die dafür verantwortlich sind, dass eine Beantragung nicht stattfindet, weil zum Beispiel die erwarteten persönlichen Kosten den Nutzen übersteigen, Missverständnisse oder Unsicherheiten bezüglich der Anspruchsberechtigung bestehen oder schlicht Ängste ob der dann eintretenden Veränderungen vorherrschen. Hier ist nicht immer von einem bewussten Verzicht auszugehen, schließlich lässt sich mangelnde Verfügbarkeit oder Zugänglichkeit auch in physischen oder sprachlichen Barrieren verorten. Für manche Personen sind überdies bürokratische Hürden unüberwindbar, manche waren schon einmal im Bezug und haben den Kontakt zu den distribuierenden Institutionen einseitig abgebrochen, manche scheitern am Formularwesen und manche waren nie in Kontakt mit der Sozialverwaltung. Andere glauben, dass sie sofort zu Maßnahmen der Arbeitsintegration verpflichtet werden können, dass Hausbesuche unangekündigt vollzogen werden würden oder dass verpflichtende Drogentests in ihrem Fall ohnehin wieder zum Leistungsentzug führen würden. Auch aus biografischen Gründen und negativen Vorerfahrungen versuchen Betroffene mitunter, die Distanz zwischen sich und jeglichen administrativen Stellen so groß wie möglich zu halten.
Aspekte der Annehmbarkeit und Akzeptabilität
Während Forderungen nach Zugänglichkeit und Verfügbarkeit eher auf grundsätzliche Erreichbarkeit, gute und transparente Informationslagen sowie auf die Beseitigung von oben genannten Fehlannahmen zum Leistungsempfang abheben, verweisen Aspekte der Annehmbarkeit und Akzeptabilität darüber hinaus stärker auf das sozio-kulturelle Klima und damit auf die Art und Weise, wie Sozialleistungen gesellschaftlich wahrgenommen werden und ob sie z.B. mit kulturellen, ethischen und sozialen Normen übereinstimmen. Viel hängt hier damit zusammen, wer eigentlich als würdig angesehen wird, Hilfe aus den gesamtgesellschaftlich erwirtschafteten Ressourcen zu erhalten, und wie diese Bilder von den potentiellen Adressat*innen internalisiert werden. In das Blickfeld geraten so die gesellschaftlich-moralischen Strukturen, die das Ansehen und die Legitimität von Sozialleistungen prägen. Diese, in ihrer historischen Entwicklung zu verstehenden Narrative, beeinflussen wiederum individuelle Tendenzen des (Nicht-) Inanspruchnahmeverhaltens. Es lassen sich verschiedene Diskurslinien nachzeichnen, die vor allem das gesellschaftliche Bemühen widerspiegeln „würdige“ von „unwürdigen“ Armen zu trennen und diese Trennung mit Indikatoren zu unterlegen (siehe dazu Eckhardt 2023, S. 26-36). In der oben erwähnten Studie wurde herausgearbeitet, dass sich potentielle Leistungsempfänger*innen u.a. von einem Bild der Bedürftigkeit abgrenzen, das der Folie der „sozialen Hängematte“ entspricht. Sie haben damit ein Verständnis der Sozialleistungen und des Sozialleistungsbezug verinnerlicht, das die Inanspruchnahme als illegitim oder sogar verwerflich, sie selbst als „unwürdig“ erscheinen lässt.
Das Dilemma der Bedürftigkeit
Zugrunde liegt bei den interviewten Personen mehrheitlich ein Verständnis von Bedürftigkeit, das unter anderem durch das gesellschaftliche Ideal der Eigenverantwortung sowie durch das Aktivitäts- und Mitwirkungsparadigma der Sozialpolitik geprägt wurde. Demnach gilt individuelle Bedürftigkeit als grundsätzlich durch ausreichend Eigeninitiative und Selbstverantwortlichkeit und zum Wohle der Gesamtgesellschaft „vermeidbar“ und „überwindbar“. In diesem Verständnis ist Bedürftigkeit eine Eigenschaft, die administrativ festgestellt werden muss, sie ist Gegenstand der Arbeit von Professionellen, wird durchgerechnet, vermessen, normativ an Vergleichsgruppen ausgerichtet und statistisch manifestiert. Durch ein weit ausdifferenziertes institutionelles Gefüge wird sie an die Bevölkerung vermittelt. Als genuin menschliche Eigenschaft tritt Bedürftigkeit auf diese Weise in den Hintergrund und es entsteht ein kontinuierliches Spannungsfeld zweier entgegengesetzter Verständnisse. Würde Bedürftigkeit als anthropologische Konstante anerkannt, ginge damit ein existenzielles Angewiesensein einher. Wird sie jedoch als soziale Kategorie verstanden, die durch eigenverantwortliches Handeln verändert werden kann, rückt die natürliche Abhängigkeit hinter das Prinzip der Selbstverantwortlichkeit zurück. Während ersteres Verständnis noch eher eine Anspruchsberechtigung auf Sozialleistungen im Sinne eines Menschenrechts impliziert, weist zweiteres die Entgegennahme sozialstaatlicher Hilfen als Praxis aus, die zu Lasten aller anderen geht. Wahrhaftig bedürftig sind hier nur die Personen, die nicht arbeitsfähig sind, wobei auch hier zunehmend Einschränkungen gemacht werden.
Zur Hartnäckigkeit der Mythen
Die überpräsente Thematisierung des Missbrauchs von Sozialleistungen und die Stigmatisierung der Inanspruchnahme durch das Bild der sozialen Hängematte knüpft an hergebrachte und neue Negativbilder an und beeinflusst das Ausmaß ihrer Annehmbarkeit und Akzeptabilität. Aus der Genese des Bedürftigkeitsbegriffs lässt sich auf einen Teil des erwähnten Resonanzbodens schließen, auf dem sich diese Behauptungen nachhaltig halten können. Überdauernd stabil ist dabei insbesondere die Aufsplittung der Armutsbetroffenen in würdige und unwürdige Arme. Irreführende oder skandalisierende Medienberichterstattungen und politische Instrumentalisierung trifft hier auf eine vorhandene Empfänglichkeit für einfache Erklärungen komplexer sozioökonomischer Probleme und lenkt von strukturellen Ursachen oder finanziell schadhafteren Problemen (wie z.B. Steuerhinterziehung) ab.
Indem Bedürftigkeit als nicht normal stigmatisiert wird, wird gleichzeitig die vermeintlich nicht-bedürftige Mehrheitsgesellschaft sukzessive von der Last befreit, sich mit Fragen der eigenen natürlichen Verletzbarkeit und die der anderen zu beschäftigen. So ist zu vermuten, dass schon das Zugeständnis von Bedürftigkeit an sich selbst und die Ausbildung der Bereitschaft, Hilfe anzunehmen, mit Belastungen und Denormalisierungsängsten verbunden ist. Die Verbreitung und Aufnahme von diskreditierenden Narrativen gegenüber Armutsbetroffenen, wie sie aktuell wieder vermehrt strategisch in der politischen Kommunikation platziert wird, kann so als Distinktionsstrategie gelesen werden. So wird gewissermaßen mikrowirksam die gesellschaftliche Unterstützung für Sicherungssysteme geschwächt und eine zögerliche Haltung zur Inanspruchnahme gefördert, wodurch letztlich nicht nur das Vertrauen in gesellschaftliche Institutionen Schaden nehmen kann, sondern auch die Beförderung einer gerechten und solidarischen Gesellschaft unterminiert wird. Statt diese Hebel zu bedienen, sollten die leistungsübergreifend niedrigen Missbrauchsquoten lieber als Ansporn genutzt werden, um den Schutz und die Unterstützung für Armutsbetroffene nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern aktiv zu fördern.
Zum Weiterlesen
Nähere Informationen zu den Berechnungsschwierigkeiten der Nichtinanspruchnahmequote und der letzte Stand auf europäischer Ebene finden sich hier: Marc, Celine et al.: Non-take-up of minimum social benefits: quantification in Europe. A salient phenomenon still not making public policy headlines (pdf). DREES REPORTS no. 94, März 2022.
Ein Bericht des UN-Sonderberichterstatters über extreme Armut und Menschenrechte, Olivier De Schutter, mit Fokus auf die Nichtinanspruchnahme weltweit ist hier zu finden: De Schutter, Olivier: Non-take-up of rights in the context of social protection - Report of the Special Rapporteur on extreme poverty and human rights. United Nations Human Rights Office of the High Commissioner, A/HRC/50/38, April 2022.
Die Gesamtstudie der Autorin zu diesem Thema ist 2023 bei Beltz-Juventa erschienen: Eckhardt, Jennifer: Spannungsfeld Nichtinanspruchnahme. Wenn Bedürftige auf den Sozialstaat verzichten. Beltz Juventa 2023.
Die Beiträge der Serie
- Florian Blank/Jutta Schmitz-Kießler/Eike Windscheid-Profeta: Mythen der Sozialpolitik: Eine Blogserie (30.07.2024)
- Camille Logeay/Florian Blank: Das Generationenkapital – alle profitieren? (30.07.2024)
- Jennifer Eckhardt: Von wegen Hängematte: Zur Unzugänglichkeit von Sozialleistungen (01.08.2024)
- Dagmar Pattloch: Das Zugangsalter in die Rente der Deutschen Rentenversicherung Bund. Eine Richtigstellung (08.08.2024)
- Johannes Geyer: Die Grundrente: Was ist das eigentlich? (15.08.2024)
- Eileen Peters/Yvonne Lott: Die unbezahlte Doppelbelastung: Warum Frauen nicht noch mehr arbeiten können (22.08.2024)
- Jutta Schmitz-Kießler: Hartnäckig, aber falsch: Die Kritik an der Bürgergelderhöhung (30.08.2024)
- Eike Windscheid-Profeta: Jung, faul, wehleidig: Hat die „Gen Z“ den Generationenvertrag gekündigt? (04.09.2024)
- Ingo Schäfer: Die Wahrheit: Warum Bundeszuschüsse zur Rentenversicherung richtig sind (27.09.2024)
- Nina Weimann-Sandig: Betreuungskrise: Warum mehr Stunden nicht helfen (04.10.2024)
- Andreas Jansen: Nein! Die Rentenangleichung ist nicht für alle Menschen in Ostdeutschland von Vorteil (29.11.2024)
weitere Beiträge in Vorbereitung
Zurück zum WSI-Blog Work on Progress
Autorin
Dr. Jennifer Eckhardt ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Sozialforschungsstelle der Technischen Universität Dortmund und aktuell Koordinatorin des Forschungsbereichs „Innovation und Bildung in der digitalen Gesellschaft“. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Ungleichheit und Teilhabe, sozialpolitische Interventionen sowie qualitative Methodologie und Methoden.