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Malte Lübker, 20.09.2021: Wie wollen die Parteien die Tarifbindung stärken?

Wie lässt sich die Erosion der Tarifbindung anhalten? Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung, bundesweite Tariftreuevorgaben und die Fortgeltung von Tarifverträgen bei Umstrukturierungen sind die Instrumente der Wahl(programme) – aber nicht alle Parteien greifen danach.

Als Angela Merkel im Jahr 2005 ihre erste Amtszeit als Bundeskanzlerin antrat, regelten Tarifverträge in Deutschland für zwei Drittel aller Beschäftigten (65 Prozent) die Löhne und andere Arbeitsbedingungen. In Frankreich und Österreich lag die Tarifbindung damals bei 98 Prozent, in Belgien bei 96 Prozent und in Dänemark bei 85 Prozent. Heute liegt die Tarifbindung in Frankreich und Österreich nach den jüngsten Daten der OECD noch immer bei 98 Prozent der Beschäftigten, in Belgien sind es 96 Prozent und in Dänemark 82 Prozent. In Deutschland erreichen Tarifverträge nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) inzwischen nur noch die Hälfte (51 Prozent) der Beschäftigten. Nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes sind es sogar deutlich weniger, gerade einmal 43 Prozent.

Wie konnte das passieren – und noch dazu ausgerechnet in dem Land, dass sich selbst gerne als Vorbild in Sachen sozialer Marktwirtschaft und Tarifautonomie feiert? Was bedeutet die für Europa beispiellose Erosion der Tarifbindung für die Beschäftigten, wie wollen die politischen Parteien den Trend nach der Bundestagswahl anhalten und umkehren? Um diese – zugegebenermaßen komplexen – Fragen zu beantworten, lohnt ein Blick in die Nachbarländer, auf die hiesige Entwicklung in den letzten 16 Jahren und auf die Lösungen, die die Parteien in ihren Wahlprogrammen für die nächste Legislaturperiode vorschlagen.

Arbeitgeber kündigen den Grundkonsens zur Selbstregulierung der Arbeitsbeziehungen

Der Reihe nach: Die hohe und stabile Tarifbindung in vielen unserer westeuropäischen Nachbarländer ist kein Zufall, sondern das Ergebnis von institutionellen Rahmenbedingungen. In Österreich sind alle gewerblichen Arbeitgeber über eine Pflichtmitgliedschaft Teil der jeweiligen Wirtschaftskammer, die mit den Gewerkschaften Tarifverträge aushandelt – die dann für fast alle Beschäftigten gelten. In Frankreich und Belgien werden Flächentarifverträge regelmäßig auf alle Arbeitgeber einer Branche erstreckt. Sie gelten also unabhängig davon, ob ein Arbeitgeber Mitglied des Arbeitgeberverbandes ist. In Dänemark sind mehr als zwei Drittel der Beschäftigten in einer Gewerkschaft organisiert – unter anderem deshalb, weil diese die Arbeitslosenkassen verwalten. Auch die Zugehörigkeit zum Arbeitgeberverband ist für dänische Unternehmen nach wie vor fast selbstverständlich (Überblick).

In Deutschland haben die Arbeitgeber den Grundkonsens aufgekündigt, der hierzulande die soziale Marktwirtschaft getragen hat. Schon im Stinnes-Legien-Abkommen von 1918 – das oft als Gründungsakte der Tarifautonomie bezeichnet wird – bekannten sich Arbeitgeber und Gewerkschaften gemeinsam dazu, „[d]ie Arbeitsbedingungen für alle Arbeiter und Arbeiterinnen […] durch Kollektivvereinbarungen […] festzusetzen“. Heute fehlt bei den Arbeitgeberverbänden das Bekenntnis zu einer allumfassenden Tarifbindung. Stattdessen betonen sie die Tarifautonomie und die „negative Koalitionsfreiheit“ – und meinen damit die Freiheit von staatlicher Regulierung, verbunden mit der Möglichkeit für Unternehmen, sich auch der Selbstregulierung durch Tarifverträge zu entziehen. Mit den OT-Verbänden (OT = ohne Tarifbindung) haben die Arbeitgeber eine Parallelstruktur geschaffen, die das „Nein“ zu Tarifverträgen zum Organisationszweck erhebt.

Dies verkennt, dass staatlicher Regulierungsverzicht eine effektive Selbstregulierung durch die Tarifvertragsparteien voraussetzt: Der Staat konnte nur deshalb lange Zeit in Deutschland auf eine tiefgreifende Regulierung der Arbeitsbeziehungen verzichten, weil die Tarifvertragsparteien diese Aufgabe selbst wahrgenommen haben. Und gerade das klappt in Deutschland immer weniger – siehe die erschreckenden Zahlen oben. Das beste Beispiel für das Versagen der Selbstregulierung ist das Anwachsen des Niedriglohnsektors in tariflosen Bereichen der Wirtschaft.

Bekenntnis zur Tarifautonomie – und Ideenlosigkeit in den ersten acht Jahren der Regierung Merkel

Liest man heute den Koalitionsvertrag der ersten Regierung Merkel von 2005, so findet sich dort ein Bekenntnis zur „Erhaltung der Tarifautonomie“ – aber keine Ideen, wie sich die schon damals erkennbare Erosion der Tarifbindung aufhalten lässt. Auch im Koalitionsvertrag der schwarz-gelben Regierung von 2009 herrscht zu diesem Thema Leere. Das ändert sich erst mit dem Wiedereintritt der SPD in die Regierung im Jahr 2013: Erstmals wird die sinkende Tarifbindung explizit als Problemen erkannt, und es werden konkrete Gegenmaßnahmen benannt. Dazu gehören die Erleichterung von Allgemeinverbindlicherklärungen nach dem Tarifvertragsgesetz, die Stärkung von tarifvertraglich vereinbarten Branchenmindestlöhnen nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz und – als wichtigstes Projekt – die Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns, der für die „weißen Flecken“ der Tariflandschaft einen Mindestschutz gewährt. Im Koalitionsvertrag von 2018 kamen Tariföffnungsklauseln und die Durchsetzung von Tariflöhnen in der Altenpflege hinzu.

Vieles hiervon hat die große Koalition umgesetzt oder angegangen – teilweise begleitet von Reibereien zwischen den Koalitionspartnern. Trotz der Teilerfolge ist auch in den vergangenen acht Jahren die Tarifbindung weiter gesunken. Für die Hälfte der Beschäftigten, die ohne Tarifvertrag auskommen müssen, bringt dies handfeste Nachteile mit sich: Laut Berechnungen des WSI auf Basis des IAB-Betriebspanels sind die Löhne in tariflosen Betrieben etwa 11 Prozent niedriger als in vergleichbaren Betrieben mit Tarifvertrag, die wöchentliche Arbeitszeit ist fast eine Stunde länger. Für den Fiskus und die Sozialversicherungen bringen die niedrigeren Löhne Einnahmeausfälle in Milliardenhöhe mit sich. Und die Politik setzt sich im Wahlkampf mit einem Thema auseinander, das sie früher an die Tarifparteien delegieren konnte: den Löhnen.

Derzeit dominiert die Forderung nach einem Mindestlohn von 12 Euro die öffentliche Debatte, wie sie von SPD und Grünen vertreten wird. Nach einer Analyse des WSI-Portals Lohnspiegel.de würden von einem solchen Schritt auch viele qualifizierte Beschäftigte profitieren – und zwar insbesondere in Betrieben, die nicht nach Tarif zahlen. Gleichzeitig würde ein höherer Mindestlohn tariftreue Unternehmen besser vor Außenseiterkonkurrenz durch Lohndumping schützen und so die Anreize zur Tarifflucht schwächen. Für die Gewerkschaften schafft ein höherer Mindestlohn Spielräume, in den unteren Tarifgruppen Abschlüsse mit einem gewissen Abstand zum Mindestlohn durchzusetzen.

Programmatische Positionen der Parteien: Wie geht es nach der Wahl weiter?

Gleichzeitig ist klar, dass der Mindestlohn allein nicht ausreicht, um gerechte Löhne durchzusetzen. Die Stärkung der Tarifbindung bleibt also auch nach der Bundestagswahl eine zentrale arbeitsmarktpolitische Aufgabe. Welche Instrumente schlagen die demokratischen Parteien hierfür vor? Mit Ausnahme der FDP (die sich stattdessen ausführlich zu Steuertarifen äußert) hat das Thema Tarifbindung in alle Wahlprogramme Eingang gefunden. Die mit Abstand breiteste Unterstützung findet die Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) von Tarifverträgen. CDU/CSU wollen dieses Instrument „stärken“, die SPD will die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen vereinfachen, Bündnis 90/Die Grünen und die Linke wollen diese leichter machen.

Lediglich die Linke äußert sich detaillierter dazu, wie dieses Ziel erreicht werden soll: Eine AVE soll „auf Antrag einer Tarifvertragspartei möglich sein“ und das „Vetorecht der Arbeitgeber*innenseite im Tarifausschuss gehört abgeschafft“. Bisher sind AVEs in Deutschland die Ausnahme, da Anträge auf AVE nur gemeinsam von beiden Tarifvertragsparteien gestellt werden können und eine Ablehnung durch die Arbeitgeberseite im Tarifausschuss zum Scheitern des Antrags führt. Verfahrensänderungen – sowohl bei der Antragstellung als auch bei der Abstimmung im Tarifausschuss – könnten diese Dynamik radikal ändern und AVEs zu einer deutlich höheren Reichweite verhelfen.

Das zweite Instrument mit relativ breiter Unterstützung ist ein Bundestariftreuegesetz, das sich in den Wahlprogrammen von SPD, Grünen und der Linken wiederfindet. Die SPD will damit erreichen, dass „[e]in öffentlicher Auftrag […] nur an Unternehmen vergeben werden [darf], die nach Tarif bezahlen“. Auch die Grünen wollen, dass „[b]ei der öffentlichen Vergabe […] im Einklang mit europäischem Recht die Unternehmen zum Zug kommen, die tarifgebunden sind oder mindestens Tariflöhne zahlen“. Nach Vorstellung der Linken soll Tariftreue ebenfalls „Voraussetzung für öffentliche Aufträge [werden] und auch von den beauftragten Firmen eingesetzte Subunternehmen einschließen“.

Ein drittes, wiederkehrendes Ziel ist die Fortgeltung von Tarifverträgen bei Umstrukturierungen. So will die SPD erreichen, dass „Tarifverträge […] auch weiter gelten, wenn Betriebe aufgespalten und ausgelagert werden“, und die Grünen fordern, dass „[b]ei Umstrukturierungen […] die bisherigen tariflichen Regelungen gelten [sollen], bis ein neuer Tarifvertrag abgeschlossen wurde“. Auch die Linke erhebt eine ähnliche Forderung: „Bei Betriebsübergängen in nicht tarifgebundene Unternehmen und bei Auslagerungen müssen die bisherigen Tarifverträge in ihrer jeweils gültigen Fassung unbefristet geschützt bleiben und auch für neu Eingestellte gelten.“

In den Wahlprogrammen finden sich außerdem noch weitere Elemente:  So betrachtet die SPD die Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung als „unanständig“ und will diese Praxis „zurückzudrängen“. Außerdem will die Partei die „Refinanzierung der Pflegeleistungen an die Geltung von Tarifverträgen binden“. Die Grünen setzen zudem auf Transparenz und „wollen Betriebe verpflichten zu veröffentlichen, ob sie Tarifvertragspartei sind“. Die Linke will zudem erreichen, dass per „Rechtsverordnung gemäß Arbeitnehmerentsendegesetz […] auch in Tarifverträgen geregelte komplette Entgelttabellen auf nicht tarifgebundene Unternehmen erstreckt werden können“.

Dieser Überblick zeigt, dass es zwischen SPD, Grünen und der Linken eine grundsätzliche Übereinstimmung in den Zielen und möglichen Instrumenten zur Stärkung der Tarifbindung gibt. Ein rot-rot-grünes Bündnis könnte in diesem Politikfeld also relativ einfach zu einem Konsens kommen. Deutlich schwieriger dürften hier die Koalitionsverhandlungen sein, wenn SPD oder Grüne gemeinsam mit CDU/CSU eine Regierung bilden wollen. Zwar bekennen sich die Unionsparteien grundsätzlich zu einer Erleichterung der AVE, erwähnen aber weder ein Bundestariftreugesetz noch die Fortgeltung von Tarifverträgen. Die Unionsparteien wollen außerdem den „Tarifpartnern möglichst großen Spielraum” zugestehen, was sich als Bekenntnis zum Regulierungsverzicht deuten lässt – nach dem Vorbild der ersten acht Jahre der Regierung Merkel. Auch das Schweigen der FDP zu dem Thema „Tarifbindung“ lässt nichts Gutes erahnen.

 

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Autor

Dr. Malte Lübker leitet das Referat Tarif- und Einkommensanalysen am WSI der Hans-Böckler-Stiftung. Arbeitsschwerpunkte: Löhne, personale und funktionale Einkommensverteilung und Umverteilung durch den Wohlfahrtsstaat

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