Quelle: WSI
TarifarchivTarifrunde 2015: Chemische Industrie
In der chemischen Industrie kann die IG BCE auf erfolgreiche Tarifrunden der vergangenen Jahre zurückblicken. Mit überdurchschnittlichen Abschlussraten und vergleichsweise kurzen Laufzeiten zwischen 11 und maximal 18 Monaten fällt die Bilanz seit 2010 rundum positiv aus.
Tarifsteigerungen in der chemischen Industrie seit 2010
Jahr |
Tarifanhebung |
Laufzeit in Monaten |
2010 |
Pauschalzahlung 550 € 1 |
11 |
2011 |
4,1 % |
14 |
2012 |
4,5 % |
18 |
2014 |
3,7 % |
14 |
1 Für Beschäftigte in Normalschicht.
Quelle: WSI-Tarifarchiv
In der diesjährigen Tarifrunde wollte die IG BCE daran anknüpfen. Im November 2014 legte der Hauptvorstand seine Forderungsempfehlung vor. Die Bundestarifkommission beschloss im Januar 2015 die endgültigen Forderungen. Die Entgelte sollten bei einer Laufzeit von 12 Monaten um 4,8 % erhöht werden. Die Forderung lag damit am unteren Rand der diesjährigen Tarifforderungen. Außerdem sollte der Tarifvertrag „Lebensarbeitszeit und Demografie“ weiterentwickelt sowie der Demografiefonds ausgebaut werden. Zur Begründung der Entgeltforderung verwies die Gewerkschaft darauf, dass sich die Wirtschaft in einer guten Verfassung befinde und zu Panik und Schwarzmalerei überhaupt kein Anlass bestehe. Um die wirtschaftliche Situation auf hohem Niveau zu stabilisieren sei es notwendig, mehr zu investieren und für mehr Nachfrage zu sorgen. „Dazu brauchen wir eine Entgeltsteigerung, die auch soziale Komponenten berücksichtigt“ (Pressemeldung vom 10.11.2014).
Die Arbeitgeber reagierten bereits auf die Forderungsempfehlung schroff ablehnend. „An einem tarifpolitischen Wunschkonzert mit großem Orchester wollen wir nicht einmal als Zuhörer teilnehmen“, erklärte der Verhandlungsführer des Bundesarbeitgeberverbandes Chemie (BAVC), Hans-Carsten Hansen. Bei stagnierender Produktivität und einer Inflation im Null-Komma-Bereich gebe es den Verteilungsspielraum für die geforderte Tariferhöhung nicht einmal ansatzweise (Pressemeldung vom 10.11.2014). Bereits der letzte Abschluss von 3,7 % habe sich rückwirkend als „bei weitem zu hoch“ erwiesen. Es werde ein Flächentarif verhandelt, den alle Unternehmen der Branche verkraften müssten. Der BAVC sprach sich zugleich gegen flächendeckende Frühverrentungsmodelle aus.
Vor der 1. Tarifrunde, die in der chemischen Industrie traditionell auf regionaler Ebene geführt wird, kritisierte IG BCE-Verhandlungsführer Peter Hausmann, mancher Arbeitgeber führe sich bereits im Vorfeld „wie ein Rambo“ auf. Die Gewerkschaft rechne mit einer langen und harten Tarifrunde. Der Auftakt erfolgte am 26.01. im Tarifgebiet Nordrhein und endete ohne Ergebnis, ebenso wie die weiteren regionalen Verhandlungen zwischen dem 27.01. und 04.02.
Die Tarifrunde wurde am 24.02. in Kassel auf Bundesebene fortgesetzt, ohne dass es zu Annäherungen kam. Die Einschätzungen der wirtschaftlichen Lage blieb total unterschiedlich, ein Angebot für eine Entgelterhöhung legten die Arbeitgeber nicht vor: Die Schere zwischen kräftigen Tariferhöhungen in den letzten Jahren und stagnierender Produktivität dürfe nicht weiter auseinandergehen. Auch in Sachen Demografie zeigten sich die Arbeitgeber nicht verhandlungsbereit. Die IG BCE organisierte in der Folge an über 300 Chemie-Standorten Tarifdemonstrationen an denen sich 60.000 Beschäftigte beteiligten.
In der Verhandlungsrunde am 12.03. legten die Arbeitgeber ein erstes Angebot vor. Danach sollten die Entgelte nach zwei bis drei Leermonaten um 1,6 % angehoben werden. Die Gesamtlaufzeit sollte 15 Monate betragen. Außerdem wollten die Arbeitgeber für das Jahr 2016 pro Beschäftigten 200 € zusätzlich in den betrieblichen Demografiefonds einzahlen. Die IG BCE qualifizierte dieses Angebot als Provokation, es sei „ein Dokument der Ignoranz und der Arroganz“ (Pressemeldung vom 19.03.2015). Ein Arbeitskampf sei nicht länger ausgeschlossen. Die Gewerkschaft organisierte daraufhin in fünf Städten Großdemonstrationen, an denen sich nach Gewerkschaftsangaben mehr als 100.000 Menschen beteiligten. Der IG BCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis forderte die Arbeitgeber auf, ihren „Krawallkurs“ zu beenden.
In der 4. Verhandlungsrunde am 27.03. gelang dann ein Abschluss mit folgenden Inhalten:
- nach einem Nullmonat eine Erhöhung der Entgelte um 2,8 %, regional unterschiedlich ab April, Mai bzw. Juni, für 16 Monate
- Laufzeit 17 Monate bis Ende Juli, August bzw. September 2016
- für Unternehmen mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten ist eine Verschiebung der Erhöhung um 2 Monate möglich
- der Demografiefonds, in den derzeit 338 € pro Jahr und Beschäftigten eingezahlt werden, wird in zwei Schritten aufgestockt: im Jahr 2016 auf 550 € und 2017 auf
750 € - der Fonds kann aus wirtschaftlichen Gründen bis auf 350 € abgesenkt werden.
Die Aufstockung des Demografiefonds um insgesamt 412 € entspricht nach Angaben der IG BCE einer Entgelterhöhung von rund 0,9 %. Bis zur nächsten Tarifrunde soll eine Analyse und die Weiterentwicklung des Demografie-Tarifvertrags erfolgen.
Die IG BCE wertete den erreichten Abschluss als „tragfähigen Kompromiss“. Das Gesamtvolumen „geht in Ordnung“. Verhandlungsführer Peter Hausmann sprach von einer „außergewöhnlichen Tarifrunde“, die gewiss nicht in jedem Jahr zu einer Wiederholung geeignet sei (Pressemeldung vom 27.03.). Nach Einschätzung der Arbeitgeber behält der Abschluss die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen genauso im Blick wie die Interessen der ArbeitnehmerInnen. Über eine längere Laufzeit und die Flexibilität zu Beginn der Tariferhöhung sei der Abschluss für alle Unternehmen in der Fläche noch verkraftbar. Trotz der teils sehr scharfen Auseinandersetzung habe sich die „starke Chemie-Sozialpartnerschaft“ bewährt (Pressemeldung vom 27.3.2015).
Quelle: WSI Tarifpolitischer Halbjahresbericht 2015