Quelle: WSI
TarifarchivTarifrunde 2011: Ein kurzer Überblick
Die Tarifrunde 2011 stand eindeutig im Zeichen der starken wirtschaftlichen Erholung. Im Vorjahr war das Bruttoinlandsprodukt um 3,6 % gestiegen und auch für das laufende Jahr wurde eine - wenn auch etwas abgeschwächte - Aufwärtsentwicklung prognostiziert. Bereits im zweiten Halbjahr 2010 hatte sich daher auch in den Tarifrunden bereits eine Verbesserung der Tarifabschlüsse abgezeichnet. Die Tarifforderungen der Gewerkschaften fielen angesichts der günstigen ökonomischen Rahmenbedingungen höher aus als im Vorjahr und auch die Abschlüsse zeigten eine deutliche Aufwärtstendenz. In einer Reihe von Branchen wurden für dieses Jahr Tarifsteigerungen von 3 % und mehr vereinbart. Die steigenden Verbraucherpreise zehrten diesen Zuwachs jedoch zum Teil wieder auf.
Seitens der Politik gab es in der diesjährigen Tarifrunde vielfältig Unterstützung für die gewerkschaftlichen Forderungen nach einer Beteiligung der Beschäftigten an der positiven wirtschaftlichen Entwicklung. Bundeswirtschaftsminister Brüderle beispielsweise betonte bereits im Herbst 2010, dass sich bei einem XL-Aufschwung auch die Arbeitnehmer 2011 auf deutliche Lohnerhöhungen freuen könnten. Auch eine Reihe von Ökonomen signalisierte einen aus ihrer Sicht gestiegenen Verteilungsspielraum von bis zu 3 % und mehr. Insgesamt bilden dauerhafte Tarifsteigerungen das prägende Element der diesjährigen Abschlüsse. Pauschalzahlungen, die noch in der vergangenen Tarifrunde eine sehr große Rolle gespielt hatten, traten in den Hintergrund.
Die Lohn- und Gehaltsforderungen der Gewerkschaften bewegten sich in der diesjährigen Tarifrunde überwiegend zwischen 5 und 7 %. Lediglich im Steinkohlenbergbau fehlte eine bezifferte Forderung, die Gewerkschaft forderte eine "reale Einkommenserhöhung". Am unteren Rand bewegten sich Branchen wie die Textil- und Bekleidungsindustrie (5 %), die Druckindustrie, die Brauereien, der Großhandel in Baden-Württemberg (jeweils 5,5 %). Im Mittelfeld lagen Bereiche wie das Bauhauptgewerbe (5,9 %) sowie Volkswagen und das Versicherungsgewerbe (jeweils 6 %). Die höchste Tarifforderung für eine größere Industriebranche stellte in dieser Tarifrunde die IG BCE in der chemischen Industrie, wo sie eine Tarifanhebung von 7 % verlangte. Auffällig war, dass in einigen Branchen und Bereichen auch Mindest-, Sockel- und Festbeträge gefordert wurden. Im Transport- und Verkehrsgewerbe NRW forderte ver.di einheitlich 95 € für alle Beschäftigten, im Einzelhandel NRW belief sich die Forderung auf 6,5 %, mindestens 130 €/Monat, und bei der Deutschen Telekom AG auf 6,5 %, mindestens 170 €. Im öffentlichen Dienst der Länder sollten die Tabellenvergütungen einheitlich um 50 € und anschließend um 3 % erhöht werden (Übersicht 1).
Nach dem Kündigungsterminkalender liefen Ende Dezember 2010 die Tarifverträge im öffentlichen Dienst (Länder) und bei der Deutschen Telekom aus. Ende Januar 2011 folgte die Volkswagen AG. Ende Februar 2011 endete die Laufzeit der Verträge in der chemischen Industrie Nordrhein, Hessen und Rheinland-Pfalz. Die übrigen Regionen folgten Ende März und April. Ende März folgten das Bauhauptgewerbe, die Druckindustrie, das Versicherungsgewerbe und einige Regionen des Einzel- und Großhandels und der Süßwarenindustrie. Weitere Bereiche des Einzel- und Großhandels standen Ende April, Mai und Juni auf der Tagesordnung. Auch in der Holz und Kunststoff verarbeitenden Industrie und in der Systemgastronomie wird seit Ende April verhandelt.
Keine Tarifrunde findet in diesem Jahr in der Metall- und Elektroindustrie statt. Der Abschluss aus dem Jahr 2010 sah eine Tarifanhebung von 2,7 % ab April 2011 vor. Die Laufzeit des Vertrages reicht bis Ende März 2012 (siehe Bispinck/WSI-Tarifarchiv 2011, Ohl 2011).
Übersicht 1: Lohn- und Gehaltsforderungen in der Tarifrunde 2011 in ausgewählten Tarifbereichen
Tarifbereich |
Gewerkschaft |
Forderung |
Bauhauptgewerbe |
IG BAU |
5,9 % |
Brauereien NRW |
NGG |
5,5 % |
Chemische Industrie |
IG BCE |
7 % |
Deutsche Telekom AG |
ver.di |
6,5 % , mind. 170 € |
Druckindustrie |
ver.di |
5,5 % |
Einzelhandel NRW |
ver.di |
6,5 % , mind. 130 € |
Energiewirtschaft NRW |
ver.di |
6,5 % |
Gebäudereinigung |
IG BAU |
60-90 Cent/Stunde |
Groß- und Außenhandel Baden-Württemberg |
ver.di |
5,5 % |
Holz- und Kunststoffverarbeitung Niedersachsen, Sachsen-Anhalt |
IG Metall |
5,8 % |
Nahrung-Genuss-Gaststätten |
NGG |
5-6 % |
Öffentlicher Dienst Länder |
ver.di |
50 € + 3 % (Ø 5 %) |
Privater Transport und Verkehr NRW |
ver.di |
95 € |
Steinkohlenbergbau |
IG BCE |
reale Einkommenserhöhung |
Textil- und Bekleidungsindustrie West |
IG Metall |
5 % |
Textile Dienstleistungen |
IG Metall |
5 % |
Versicherungsgewerbe |
ver.di |
6 % , mind. 150 € |
Volkswagen AG |
IG Metall |
6 % |
Quelle: WSI-Tarifarchiv
Ein Blick auf die Tarifabschlüsse zeigt für das erste Halbjahr folgendes Bild: Bei der Volkswagen AG erzielte die IG Metall am 8.2.2011 vor dem Hintergrund hervorragender Geschäftszahlen eine Tariferhöhung von 3,2 % ab 1.5.2011 bei einer Laufzeit bis Ende Mai 2012. Für die Monate Februar bis April wurde als Pauschale 1 % des Jahresentgelts (mind. 500 €) gezahlt. In verschiedenen Energieunternehmen (RWE, Vattenfall) wurden Tarifanhebungen um 3,4 % bei 13 Monaten Laufzeit vereinbart. In der Textil- und Bekleidungsindustrie Westdeutschland sieht der Abschluss vom 21.2.2011 nach zwei Nullmonaten (März und April) eine Pauschalzahlung von 250 € für Mai bis September vor, gefolgt von einer Tarifanhebung um 3,6 % ab 1.10.2011 bis Ende Oktober 2012. Für das Hotel- und Gaststättengewerbe Baden-Württemberg erreichte die Gewerkschaft NGG am 23.2.2011 nach drei Nullmonaten (Januar bis März) eine Tarifsteigerung von 2,9 % ab 1.4.2011 und weitere 2,4 % ab 1.7.2012 bei einer Laufzeit bis Ende Juni 2013.
Im öffentlichen Dienst der Länder (ohne Hessen und Berlin) erfolgte ein Tarifabschluss am 10.3.2011. Für die Monate Januar bis März wurde eine Pauschale von insgesamt 360 € vereinbart. Darauf folgte eine tarifliche Entgelterhöhung von 1,5 % ab dem 1.4.2011 und eine Stufenerhöhung von 1,9 % zuzüglich 17 € Sockelbetrag ab dem 1.1.2012. Die Laufzeit reicht bis Ende 2012. Einen vergleichbaren Abschluss erzielte ver.di am 5.4.2011 für das Land Hessen (vgl. Abschnitt 3.1).
Der Abschluss in der chemischen Industrie erfolgte am 31.3.2011. Er sieht nach einem Nullmonat eine Tarifanhebung von 4,1 % für jeweils 14 Monate regional unterschiedlich bis 31.5./30.6./31.7.2012 vor. Mit dieser relativ kurzen Laufzeit unterscheidet sich der Abschluss deutlich von den übrigen Abkommen (vgl. Abschnitt 3.2). Die Tarifvertragsparteien haben sich darüber hinaus auf die Fortführung und Ausweitung des Förderprogramms "Start in den Beruf" geeinigt.
Im Bauhauptgewerbe verständigten sich die Tarifparteien erst nach einer Schlichtung am 14.4.2011 auf einen Abschluss: Die Tarifvergütungen werden im Westen und in Berlin nach einem Nullmonat (April) um 3,0 % ab 1.5.2011 erhöht, ab 1.6.2012 gibt es eine Stufenerhöhung von 2,3 %. Im Osten gibt es nach 2 Nullmonaten (April und Mai) etwas stärkere Erhöhungen. Die Tarifverträge laufen insgesamt 24 Monate bis Ende März 2013. Ebenfalls erhöht werden die Mindestlöhne West, Berlin und Ost ab Januar 2012 und 2013 mit einer Laufzeit bis zum 31.12.2013 (vgl. Abschnitt 3.3).
Im Einzelhandel erreichte die ver.di einen ersten regionalen Abschluss am 10.6.2011 für den Tarifbezirk Baden-Württemberg: Er sieht nach 2 Nullmonaten Tarifsteigerungen von 3,0 % ab Juni 2011 und weiteren 2,0 % ab Juni 2012 bei einer Gesamtlaufzeit von 24 Monaten vor. Außerdem wurden Vereinbarungen zur Überarbeitung von manteltariflichen Regelungen getroffen, die mit dem Allgemeinen Gleichstellungsgesetz nicht vereinbar waren (vgl. Abschnitt 3.4).
Ein besonderer Tarifkonflikt betraf 2010/2011 die Deutsche Bahn AG und ihre privaten Konkurrenten. Die aus der Fusion von Transnet und GDBA hervorgegangene Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) einigte sich mit der DB AG in zwei Schritten, im Dezember 2010 und Januar 2011, auf einen Entgeltabschluss. Er sah zunächst Einmalzahlungen von insgesamt 500 € für August bis Dezember 2010 vor. Nach 2 Nullmonaten (Januar und Februar) folgte eine Tarifanhebung um 1,8 % ab 1.3.2011 sowie eine Stufenanhebung um weitere 2,0 % ab 1.1.2012 mit einer Laufzeit bis Ende 2012. Darüber hinaus vereinbarten die Tarifparteien u.a. eine Verbesserung der Entgeltstruktur, eine Dynamisierung des Urlaubsgeldes sowie eine Erhöhung der Zulagen für Arbeiten zu sozial ungünstigen Zeiten.
Außerdem einigte sich die EVG Mitte Januar 2011 mit der DB AG und ihren sechs großen privaten Konkurrenten im Schienenpersonen-Nahverkehr nach einer Schlichtung unter Vorsitz des SPD-Politikers Peter Struck erstmals auf einen einheitlichen Branchentarifvertrag. Er soll die bislang bestehenden unterschiedlichen Tarifverträge ersetzen und einheitliche Tarifbedingungen für die bei den Ausschreibungen konkurrierenden Unternehmen schaffen. Der Vertrag gilt für neue Ausschreibungen ab Mai 2011 und hat eine Laufzeit bis Ende 2015. Die Entgelte sind bis Ende Januar 2013 geregelt.
Die konkurrierende Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) hatte sich den Tarifverhandlungen nicht angeschlossen, sondern separat verhandelt. Sie forderte einen Bundesrahmen-Lokomotivführertarifvertrag für den Personen- und Güterverkehr. Nach mehreren Streikwellen konnte sich die GDL am 15.4.2011 nur mit der DB AG auf einen solchen Vertrag einigen. Der Tarifkonflikt mit den privaten Anbietern blieb trotz mehrfacher Streikaktionen im Berichtszeitraum ungelöst.
Ein harter Tarifkonflikt entwickelte sich bei den ZeitungsredakteurInnen. Bereits im Juni 2010 hatten die beiden Journalistengewerkschaften (dju in ver.di und DJV) fristgerecht die Gehaltstarifverträge gekündigt und eine Tarifanhebung von 4 % gefordert, um einen Ausgleich der Preissteigerungen und einen Anteil an der positiven Konjunkturentwicklung zu gewährleisten. Die Verleger kündigten im Gegenzug den Manteltarifvertrag zum Ende 2010 und forderten drastische Einschnitte, darunter die Streichung des Urlaubsgeldes sowie zusätzliches Tarifwerk für neu eingestellte Redakteurinnen und Redakteure mit Absenkungen im Vergleich zum bisherigen Gehalts-, Mantel- und Altersversorgungstarifvertrag im Volumen von rund 15 % sowie zusätzlich eine Verlängerung der Arbeitszeit auf 40 Stunden.
In der Druckindustrie forderte ver.di eine Tarifanhebung von 5,5 % sowie eine tarifliche Equal-Pay-Regelung für Leiharbeitsbeschäftigte in der Branche. Außerdem verlangte die Gewerkschaft einen Arbeitgeberbeitrag von 400 € pro Jahr für die betriebliche Altersvorsorge sowie die Möglichkeit der Arbeitszeitverkürzung für über 55-Jährige um bis zu 7 Stunden mit Teillohnausgleich. Die Druckarbeitgeber formulierten ihrerseits Gegenforderungen, u.a. eine Flexibilisierung und Ausweitung der Wochenarbeitszeit auf bis zu 40 Stunden, eine Absenkung der tariflichen Löhne für Hilfskräfte sowie eine Lockerung der Maschinenbesetzungsregeln.
In beiden Branchen konnte bis zum Redaktionsschluss dieses Berichts (15.6.2011) keine substanzielle Annäherung erzielt werden. An zahlreichen Warnstreiks in Druckereien und Zeitungsredaktionen im gesamten Bundesgebiet beteiligten sich zehntausende Beschäftigte.
Quelle: WSI Tarifpolitischer Halbjahresbericht 2011 - Stand: Juli 2011