Quelle: WSI
TarifarchivTarifrunde 2009: Ein kurzer Überblick
Die deutsche Wirtschaft bewegte sich im 1. Halbjahr 2009 mit hoher Geschwindigkeit in die tiefste Krise der Nachkriegszeit. Der weltweite wirtschaftliche Absturz traf den "Exportweltmeister" Deutschland härter als die meisten anderen hoch entwickelten Volkswirtschaften. Umso auffälliger ist die Tatsache, dass die Tarifpolitik keineswegs mit gleicher Dynamik in einen Abwärtsstrudel gerissen wurde.
Die Tarifabschlüsse zeigen zwar zum Teil deutlich sichtbare Krisenspuren, aber die Abschlussraten für dieses Jahr bewegen sich überwiegend zwischen 2,5 und 3 % und liegen damit deutlich über der erwarteten Preissteigerungsrate von rund 0,5 %. Allerdings belegen vielfach vereinbarte "Nullmonate" ohne Tariferhöhung und Pauschalzahlungen statt dauerhaft wirksamer Tabellenerhöhungen sowie Öffnungsklauseln, dass die Arbeitgeber die günstige Gelegenheit der Rezession nutzten, um die (dauerhaften) Kostenwirkungen der Abschlüsse zu begrenzen.
War das Tarifjahr 2008 in den letzten Monaten im Wesentlichen von der Finanzmarktkrise bestimmt, stand das 1. Halbjahr 2009 unter dem Eindruck des Übergreifens der Krise auf die Realwirtschaft (IMK 2009, Gemeinschaftsdiagnose 2009). Das Bruttoinlandsprodukt, das bereits im 3. Quartal 2008 kräftig schrumpfte, stürzte dann im 1. Quartal dieses Jahres regelrecht ab. Wider Erwarten spiegelte sich dies auf dem Arbeitsmarkt bislang begrenzt wieder. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen stieg nur relativ verhalten an, die Unternehmen fingen Auftragseinbrüche und Produktionsrückgang überwiegend mit internen flexiblen Personalanpassungsmaßnahmen auf. Abbau von Arbeitszeitkonten und extensive Nutzung von Kurzarbeit trugen wesentlich dazu bei, dass sich der Arbeitsplatzverlust bis zur Jahresmitte, gemessen an der Schrumpfung der realen Wirtschaftsleistung, in Grenzen hielt.
Es gehört zu den hervorstechenden Momenten dieser Tarifrunde, dass sich die Lohn- und Gehaltsforderungen der Gewerkschaften trotz der dramatischen Krisenentwicklung überwiegend auf einem hohen Niveau bewegten. Dafür sind verschiedene Gründe maßgeblich: Im öffentlichen Dienst forderte die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) für die Beschäftigten der Länder eine Tarifanhebung von 8 % mindestens jedoch 200 € und orientierte sich damit exakt an der Vorjahresforderung für den Bereich Bund und Gemeinden. Bei der Deutschen Telekom (8,5 % mindestens 220 €) und der Deutschen Bahn (10 %) argumentierten die Gewerkschaften mit den (immer noch) guten Unternehmensbilanzen. Im Handel beliefen sich die Forderungen zwischen 6,5 % (Einzelhandel) und 8 % (Großhandel). In den übrigen Bereichen bewegten sich die Forderungen überwiegend zwischen 5 und 5,5 %. In verschiedenen Branchen zielten die Gewerkschaften mit Sockelbeträgen auf eine stärkere Tarifanhebung für die unteren Einkommensgruppen (siehe Übersicht 1). Maßgebliche Begründung für die Tarifforderungen war neben den Verteilungsansprüchen der Beschäftigten auch die gesamtwirtschaftlich notwendige Stabilisierung der Binnennachfrage, um einen Ausgleich für die wegbrechende Exportnachfrage zu schaffen.
Nach dem Kündigungsterminkalender liefen die Tarifverträge im öffentlichen Dienst (Länder) Ende Dezember 2008 als erste aus, zeitgleich auch in einigen Energiebereichen (RWE, Vattenfall) sowie bei der Deutschen Telekom. Ende Januar 2009 folgte die Deutsche Bahn, Ende Februar die Textil- und Bekleidungsindustrie (West) und Ende März das Bauhauptgewerbe, die Druckindustrie und die Eisen- und Stahlindustrie. Die verschiedenen regionalen Tarifbereiche des Einzelhandels sowie des Großhandels standen ebenfalls Ende März bzw. Ende April zu Verhandlungen an. Noch nicht beendet waren zu Beginn der Tarifrunde 2009 die Verhandlungen im Bankgewerbe, die im Oktober 2008 angesichts der Finanzkrise unterbrochen worden waren.
Übersicht 1: Tarifforderungen in der Tarifrunde 2009
in ausgewählten Tarifbereichen
Tarifbereich | Gewerkschaft | Forderung |
Bauhauptgewerbe |
IG BAU |
6 % |
Deutsche Bahn AG |
Transnet |
10 % |
Deutsche Telekom AG |
ver.di |
8,5 %. mind. 220 € |
Druckindustrie |
ver.di |
5 % |
Eisen- und Stahlindustrie |
IG Metall |
4,5 % |
Elektrohandwerk NRW |
IG Metall |
5,5 % |
Einzelhandel NRW |
ver.di |
6,5 %, mind. 135 € |
Energiewirtschaft Tarifgruppe RWE |
IG BCE/ver.di |
8 % |
Groß- und Außenhandel NRW |
ver.di |
8 %, mind. 175 € |
Holz- und Kunststoffindustrie |
IG Metall |
5,5 % |
Maler- und Lackiererhandwerk |
IG BAU |
7,2 % |
Nahrung-Genuss-Gaststätten |
NGG |
5 - 7 % |
Öffentlicher Dienst (Länder) |
ver.di |
8 %, mind. 200 € |
Textil- und Bekleidungsindustrie West |
IG Metall |
5,5 % |
Textilreinigungsgewerbe |
IG Metall |
5,5 % |
Aus Tarifrunde 2008: |
||
Bankgewerbe |
ver.di |
8 %, mind. 260 € |
Quelle: WSI-Tarifarchiv
Eine wichtige Vorgabe für die Tarifrunde 2009 bildete der Abschluss für die Metallindustrie. Im November 2008 hatten sich die Tarifparteien auf einen 18-monatigen Tarifabschluss geeinigt, der neben einer Pauschalzahlung von 510 € für die ersten drei Monate eine Tariferhöhung in zwei Stufen um jeweils 2,1 % im Februar und Mai 2009 sowie eine weitere Sonderzahlung von 122 € im September 2009 vorsah.
Ebenfalls bereits im vorigen Jahr erfolgte ein Abschluss in der Energiewirtschaft. Er sah für die Tarifgruppe RWE eine Tarifanhebung von 4 % ab Januar 2009, eine Stufenanhebung um 2,2 % ab Beginn nächsten Jahres sowie zwei Einmalzahlungen von 1.200 € (2009) und 800 € (2010) mit einer Laufzeit bis 31.10.2010 vor. Ende Januar (31.1.2009) vereinbarten die Tarifparteien bei der Deutschen Bahn AG einen zweistufigen Abschluss mit einer Anhebung um 2,5 % ab 1.2.2009 und einer Stufenerhöhung um 2 % ab 1.1.2010 sowie einer Einmalzahlung von 500 €, Laufzeit bis 31.7.2010. Außerdem wurden verbesserte Arbeitszeitregelungen vereinbart. Bei der Deutschen Telekom AG sah der Abschluss eine Tarifsteigerung von 3 % ab 1.1.2009 und weitere 2,5 % ab 1.1.2010 vor. Für den Großteil der Beschäftigten im Bereich der Service-Gesellschaften der Deutschen Telekom AG erhöhen sich die Vergütungen zu den gleichen Zeitpunkten um 5 bzw. 3,6 %. Hier ist jedoch der Wegfall der in 2007 im Rahmen der Tarifeinigung zu T-Service vereinbarten Ausgleichszahlungen von jeweils 2,2 % gegenzurechnen (s. Tarifpolitischer Jahresbericht 2007), so dass effektiv ein Plus von insgesamt 4,2 % verbleibt. Die Laufzeit endet jeweils zum 31.12.2010.
Den ersten großen Flächenabschluss gab es am 1.3.2009 im öffentlichen Dienst für die Länder (ohne Hessen und Berlin). Er sieht die Anhebung der Tarifentgelte um einheitlich 40 € sowie um 3 % ab 1.3.2009 vor. Am 1.3.2010 folgt eine Stufenerhöhung um 1,2 % mit einer Laufzeit bis 31.12.2010. Damit konnte ver.di im Wesentlichen die Einkommensentwicklung bei Bund und Gemeinden nachvollziehen (siehe Punkt 3.1).
In der Textil- und Bekleidungsindustrie (West) sah der Abschluss vom 10.3.2009 nach zwei Nullmonaten eine Pauschalzahlung für Mai bis Dezember in Höhe von insgesamt 340 € vor. Ab 1.1.2010 folgt eine Tarifanhebung um 1,5 %, ein Sockelbetrag von 40 € sowie eine zusätzliche Einmalzahlung von 99 € für Januar und Februar 2010. Auch im Abschluss der Eisen- und Stahlindustrie vom 1.4.2009 ist für die erste Phase eine Pauschalzahlung enthalten. Sie beträgt für April bis Dezember 2009 insgesamt 350 €, gefolgt von einer Tarifanhebung um 2 % ab 1.1.2010 bei einer Laufzeit bis 31.8.2010 (siehe Punkt 3.2). Eine ähnliche Struktur hat auch der Abschluss in der Druckindustrie vom 3.6.2009 mit einer Pauschale von 280 € für April 2009 - März 2010 und einer Tarifsteigerung von 2 % ab 1.4.2010 bei einer Laufzeit bis 31.3.2011.
Anders in der Süßwarenindustrie, wo die Gewerkschaft NGG in Nordrhein-Westfalen einen bemerkenswerten Abschluss erzielen konnte. Er sieht nach zwei Nullmonaten eine Tarifanhebung um 3 % ab dem 1.6.2009 sowie eine Stufenerhöhung von 1,9 % ab dem 1.4.2010 bei einer Laufzeit bis zum 31.3.2011 vor.
Im Bauhauptgewerbe (West) vereinbarten die Tarifparteien am 23.5.2009 einen Abschluss mit einer Pauschalzahlung von 60 € für April und Mai 2009, einer anschließenden Tariferhöhung von 2,3 % und einer Stufenanhebung von erneut 2,3 % ab 1.4.2010 bei einer Laufzeit bis 31.3.2011. Im Osten fällt die Anhebung etwas höher aus. Die Mindestlöhne werden stufenweise angehoben (siehe Punkt 3.3)
Im Einzelhandel erreichte ver.di am 11.6.2009 in Nordrhein-Westfalen einen ersten Abschluss, der auch zur Übernahme in den anderen Tarifbereichen empfohlen wurde: Nach vier Nullmonaten gibt es ab dem 1.9.2009 eine Tarifanhebung um 2 % und zum 1.9.2010 eine Stufenanhebung um weitere 1,5 % bei einer Laufzeit bis zum 30.4.2011. Im April 2010 erfolgt eine Einmalzahlung von 150 € (siehe Punkt 3.4).
Übersicht 2: Ausgewählte Lohn- und Gehaltsabschlüsse
West und Ost für 2009
Abschluss | Tarifbereich | Ergebnis |
12.11.2008 |
Metallindustrie Baden-Württemberg |
510 € Pauschale insg. für November 2008 - Januar 2009 2,1 % ab 01.02.09 2,1 % ab 01.05.09 (auf Basis des Entgelts Nov. 2008) 122 € Einmalzahlung im September 2009, Laufzeit bis 30.04.10 0,4 % Einmalzahlung jeweils für Januar - April 2010 (Finanzierung Altersteilzeit) |
12.12.2008 |
Tarifgruppe RWE |
4,0 % ab 01.01.09 2,2 % Stufenerhöhung ab 01.01.10 1.200 € Einmalzahlungen für 2009 und weitere 800 € für 2010 Laufzeit bis 31.10.10 |
31.01.2009 |
Deutsche Bahn AG |
2,5 % ab 01.02.09 2,0 % Stufenerhöhung ab 01.01.10 500 € Einmalzahlung im Dezember 2009, Laufzeit bis 31.07.10 |
01.03.2009 |
Öffentlicher Dienst Länder |
40 € Pauschale insg. für Januar und Februar 2009 40 € Sockelbetrag ab 01.03.09 3,0 % ab 01.03.2009 1,2 % Stufenerhöhung ab 01.03.10, Laufzeit bis 31.12.10 |
10.03.2009 |
Textil- und Bekleidungsindustrie West |
nach 2 Nullmonaten (März und April) 340 € Pauschale insg. für Mai - Dezember 1,5 % sowie 40 € Sockelbetrag ab 01.01.10 99 € Einmalzahlung insg. für Januar und Februar 2011 |
13.03.2009 |
Deutsche Telekom AG |
3,0 % ab 01.01.09 2,5 % Stufenerhöhung ab 01.01.10, Laufzeit bis 31.12.10 |
01.04.2009 |
Eisen- und Stahlindustrie Niedersachsen, Bremen, Nordrhein-Westfalen |
350 € Pauschale insg. für April - Dezember 2009 2,0 % ab 01.01.10, Laufzeit bis 31.08.10 |
22.04.2009 |
Bankgewerbe |
nach 4 Nullmonaten (Juli - Oktober 2008) 2,5 % ab 01.11.08 200 € Einmalzahlung im Februar 2010, Laufzeit bis 30.04.10 |
12.05.2009 |
Süßwarenindustrie |
nach 2 Nullmonaten (April und Mai) 3,0 % ab 01.06.09 1,9 % Stufenerhöhung ab 01.04.10, Laufzeit bis 31.03.11 |
18.05.2009 |
Energie- und Versorgungswirtschaft Ost (AVEU) |
100 € Pauschale für Mai 3,62 % ab 01.06.09, Laufzeit bis 30.06.10. |
23.05.2009 |
Bauhauptgewerbe |
60 € Pauschale insges. für April - Mai West und Berlin: 2,3 % ab 01.06.09 2,3 % Stufenerhöhung ab 01.04.10, Laufzeit bis 31.03.11 Ost: Anhebung um Cent-Werte der West-Anhebung stufenweise Anhebung der Mindestlöhne |
02./03.06.2009 |
Druckindustrie |
280 € Pauschale insg. für April 2009 - März 2010 2,0 % ab 01.04.10, Laufzeit bis 31.03.11 |
11.06.2009 |
Einzelhandel Nordrhein-Westfalen |
nach 4 Nullmonaten (Mai - August) 2,0 % ab 01.09.09 1,5 % Stufenerhöhung ab 01.09.10 150 € zusätzliche Einmalzahlung im April 2010, Laufzeit bis 30.04.11 |
12.06.2009 |
Versicherungsgewerbe |
250 € Pauschale insg. für Oktober 2009 - März 2010 2,5 % ab 01.04.10, Laufzeit bis 31.03.11 |
Quelle: WSI-Tarifarchiv Stand: Juni 2009
Im Bankgewerbe konnte am 23.5.2009 endlich die bereits im Juni 2008 begonnene Tarifrunde abgeschlossen werden: Auf vier Nullmonate (Juli bis Oktober 2008) folgt eine Tariferhöhung um 2,5 % ab 1.11.2008 mit einer Laufzeit bis 30.4.2010. Zusätzlich gibt es im Februar 2010 200 € als Einmalzahlung. Im Versicherungsgewerbe schloss ver.di am 12.6.2009, also bereits drei Monate vor Auslaufen des Tarifvertrages, ein Tarifabkommen das neben einer Pauschalzahlung von insgesamt 250 € für Oktober 2009 bis März 2010 eine Tarifanhebung von 2,5 % ab 1.4.2010 bei einer Laufzeit bis 31.3.2011 vorsieht.
Der Konflikt im Bereich des Sozial- und Erziehungsdienstes im öffentlichen Dienst hatte eine besondere tarifpolitische Qualität. Er drehte sich um die bessere Eingruppierung der Beschäftigten dieses Tätigkeitsbereichs und um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Im letztgenannten Bereich forderten die beteiligten Gewerkschaften, GEW und ver.di, einen eigenständigen Tarifvertrag zur Gesundheitsförderung. Zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses war der Konflikt noch nicht beendet.
Quelle: WSI-Tarifbericht Stand: Juli 2009