Quelle: HBS
Tarifarchiv: Rechtliche Grundlagen und inhaltliche Strukturen
Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen, Struktur der Tarifvertragslandschaft, Tarifvertragsgesetz.
Tarifverträge gelten unmittelbar nur für die Mitglieder der Tarifparteien. Die bindende Wirkung von Tarifverträgen kann auch auf die nicht tarifgebundenen Arbeitgeber ausgedehnt werden. Das entsprechende Instrument, das nach § 5 Tarifvertragsgesetz angewandt werden kann, ist die sog. Allgemeinverbindlicherklärung (AVE). Der/die Bundesarbeitsminister/in kann im Einvernehmen mit dem Tarifausschuss, dem je drei Vertreter der Spitzenverbände der Arbeitgeber und der ArbeitnehmerInnen angehören, einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklären, wenn die Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen Interesse geboten erscheint.Das ist lt. TVG dann der Fall, wenn der Tarifvertrag in seinem Geltungsbereich für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen überwiegende Bedeutung erlangt hat oder
die Absicherung der Wirksamkeit der tarifvertraglichen Normsetzung gegen die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklung eine Allgemeinverbindlicherklärung verlangt.
Die klassische Funktion der AVE besteht in der Verhinderung von Schmutzkonkurrenz und Lohndrückerei durch Außenseiter, die nicht Mitglieder der Tarifparteien sind, sowie in der Schaffung sozial angemessener Arbeitsbedingungen für Außenseiter. Hinzu kommt die Sicherung der Funktionsfähigkeit gemeinsamer Einrichtungen (wie z.B. die Urlaubkasse im Baugewerbe) sowie die Umsetzung gesetzgeberischer Vorgaben (z. B. zur Altersvorsorge).
Anfang 2016 waren im Tarifregister des BMA 443 Tarifverträge als allgemeinverbindlich registriert. Die meisten Allgemeinverbindlicherklärungen (AVE) gelten für Tarifverträge des Baugewerbes (178),des Bereichs Steine, Erden, Keramik, Glas (68), Entsorgung, Reinigung und Körperpflege (38) und Textil (33). In großen Bereichen wie z.B. Energieversorgung, Chemie, Kunststoff, Druck, Banken und Versicherungen bestehen keine AVEs. Nur in ganz wenigen Tarifbereichen bestehen allgemeinverbindliche Vergütungstarifverträge, im Vordergrund stehen manteltarifliche und sozialpolitische Regelungen.
Flächen- und Firmentarifvertrag
Typisch für die Tariflandschaft in der Bundesrepublik Deutschland ist der Flächen- bzw. Verbandstarifvertrag, den eine Gewerkschaft mit einem Arbeitgeberverband abschließt. Dieser gilt für eine Branche oder Teile davon und zwar entweder für eine einzelne Region oder bundesweit. Ein solcher Tarifvertrag gilt einerseits rechtlich verbindlich für die Mitglieder des Arbeitgeberverbandes und andererseits für die Mitglieder der abschließenden Gewerkschaft. Einem tarifgebundenen Arbeitgeber steht es grundsätzlich frei, die Nicht-Gewerkschaftsmitglieder abweichend von den tariflich fixierten Bedingungen zu beschäftigen, praktisch ist diese Möglichkeit bislang nicht von großer Bedeutung.
Die sektorale Untergliederung ist mit ca. 150 verschiedenen "Tarifbranchen" sehr fein, allerdings fällt die Breite des fachlichen Zuschnitts sehr unterschiedlich aus. Während beispielsweise die Tarifverträge für die Metallindustrie gleichzeitig mehrere Branchen umfassen, darunter Fahrzeugbau, Maschinenbau, Elektroindustrie, Werften, Luft- und Raumfahrt, Gießereien u. a., bestehen allein in der überschaubaren Lederindustrie vier verschiedene fachliche Tarifbereiche.
Neben dem Flächen- bzw. Verbandstarifvertrag gibt es in Deutschland auch Firmen- bzw. Haustarifverträge, die die Gewerkschaften mit einzelnen Unternehmen abschließen, die nicht einem Arbeitgeberverband angehören. Auch wenn die Zahl der gültigen Firmentarifverträge relativ hoch ist, muss doch ihre Bedeutung gesamtwirtschaftlich gesehen relativ gering eingeschätzt werden. Dies variiert jedoch je nach Branche ganz erheblich. Viele Firmentarifverträge sind als Anerkennungstarifverträge ausgestaltet, d.h. sie übernehmen die Regelungen des entsprechenden Flächentarifvertrags.
In Westdeutschland werden rund 31 % der Betriebe und rund 59 % der Beschäftigten von Tarifverträgen erfaßt. In Ostdeutschland sind es 22 % der Betriebe und 48 % der Beschäftigten.
Angesichts des breiten Themenspektrums, das grundsätzlich tariffähig ist, hat sich eine Vielzahl unterschiedlicher Tarifvertragsarten herausgebildet, die auch je nach Gewerkschaft verschieden benannt werden. Es lassen sich jedoch folgende typische Tarifvertragsarten voneinander unterscheiden:
- Lohn-, Gehalts- und Entgelttarifverträge: In diesen Verträgen wird die Höhe der tariflichen Grundvergütung in Form von Lohn-, Gehalts- und Entgelttabellen festgelegt. Man spricht daher auch oft von Tabellenvergütung. Die Verträge können auch die Ausbildungsvergütungen enthalten; diese werden aber auch in gesonderten Abkommen vereinbart. Die Laufzeit dieser Vergütungstarifverträge beträgt in der Regel ein bis zwei Jahre.
- Lohn-, Gehalts- und Entgeltrahmentarifverträge: In diesen Tarifverträgen werden die verschiedenen Lohn-/Gehalts-/Entgeltgruppen festgelegt, die Gruppenmerkmale definiert und Regelungen zur Leistungsentlohnung getroffen. Die Zahl der Vergütungsgruppen ist je nach Wirtschaftszweig und Gewerkschaft sehr unterschiedlich. Vielfach existieren für ArbeiterInnen 7 bis l0 und noch mehr Lohngruppen, für die (kaufmännischen und technischen) Angestellten 5 bis 7 und für die Meister 1 bis 3 Gehaltsgruppen. In vielen Bereichen bestehen gemeinsame Entgelttarifverträge für Arbeiter/innen und Angestellte (Chemie, Metall, Energie, Ernährungsgewerbe u. a.)
- Manteltarifverträge: Diese Verträge enthalten die Bestimmungen über die Arbeitsbedingungen unterschiedlichen Inhalts, z.B. Probezeit, Kündigungsfristen, Dauer und Verteilung der Wochenarbeitszeit, Regelungen zu Nacht- und Schichtarbeit, Urlaub, Kurzarbeit und anderes mehr. Die Laufzeit von Rahmen- und Manteltarifverträgen beträgt in der Regel mehrere Jahre.
Zusätzlich zu diesen Tarifvertragsarten, die in der Praxis auch in Mischformen auftreten können, gibt es zahlreiche weitere Tarifverträge zu speziellen Themen z.B. zum Rationalisierungsschutz und zur Beschäftigungssicherung, über vermögenswirksame Leistungen, Altersvorsorge, Arbeits- und Gesundheitsschutz, Weiterbildung, Frauenförderung u.a.m. In vielen Tarifbereichen werden solche Fragen teilweise auch in den Rahmen- und Manteltarifverträgen geregelt.
Das Tarifregister beim Bundesarbeitsministerium registrierte Ende 2016 insgesamt rd. 73 400 gültige Tarifverträge in ganz Deutschland. In den einzelnen Wirtschaftszweigen ist die Zahl der gültigen Tarifverträge (Tarifvertragsdichte) ganz unterschiedlich. So bestehen in der Metallindustrie in Westdeutschland mehr als 150 verschiedene regionale Tarifabkommen, hingegen ist im privaten Versicherungsgewerbe die Fülle tariflicher Regelungen und Leistungen in weniger als zehn jeweils bundesweit gültigen Tarifverträgen geregelt.
Aufbau von Tarifverträgen
Tarifverträge weisen einen im Grundsatz einheitlichen Aufbau auf: Am Beginn stehen die vertragsschließenden Parteien, also bei Flächentarifverträgen der Arbeitgeberverband sowie die Gewerkschaft. In manchen Fällen sind es auch mehrere Verbände bzw. Gewerkschaften, die einen gemeinsamen Tarifvertrag abschließen. Es folgt die Beschreibung des Geltungsbereichs des Vertrages. Er ist definiert durch drei Bestandteile: den fachlichen, räumlichen und persönlichen Geltungsbereich. Der fachliche Geltungsbereich beinhaltet den Wirtschaftszweig bzw. die (Teil-)Branchen, für die das Tarifabkommen Gültigkeit hat. Häufig gibt es auch eine indirekte fachliche Beschreibung, in dem Bezug genommen wird auf die Mitgliedsbetriebe des vertragsschließenden Arbeitgeberverbandes. Der räumliche Geltungsbereich umfaßt häufig ein oder mehrere Bundesländer (oder Teile davon) bzw. das Bundesgebiet West oder Ost. Inzwischen gibt es auch eine Reihe von Tarifverträgen, die sich auf das gesamte Bundesgebiet beziehen. Der persönliche Geltungsbereich bezeichnet die Arbeitnehmergruppen, für die der Tarifvertrag gilt; dazu zählen je nach Vertragsart die ArbeiterInnen, Angestellten und Auszubildenden, die Mitglied der abschließenden Gewerkschaft sind. Häufig sind bestimmte Beschäftigtengruppen ausdrücklich ausgenommen, so z.B. Leitende Angestellte, gelegentlich auch geringfügig Teilzeitbeschäftigten, die ein bestimmtes Arbeitsvolumen bzw. Einkommenshöhe nicht überschreiten.
In manchen Tarifverträgen ist den eigentlichen Bestimmungen eine Präambel vorangestellt, die in allgemeiner Form Ziele und Absichten des Vertrages erläutert. Es folgen dann die inhaltlichen Tarifbestimmungen im einzelnen. Gegebenenfalls schließen sich Bestimmungen darüber an, welche anderen Tarifverträge bzw. Tarifbestimmungen durch den neuen Vertrag ersetzt werden bzw. außerkrafttreten. Am Schluss des Tarifvertrages folgen in der Regel das Datum des Inkrafttretens, der frühestmögliche Kündigungstermin und die Kündigungsfrist. In Rahmen- oder Manteltarifverträgen werden die Tarifbestimmungen gelegentlich durch Anhänge oder Anlagen ergänzt, in denen weitere Details z B. zu Verfahren der Arbeitsbewertung, zu tariflichen Eingruppierungsbeispielen u. ä. geregelt sind. Diese Anlagen sind Bestandteile des Tarifvertrages.
Die formalen Grundlagen des Tarifsystems sind im Tarifvertragsgesetz niedergelegt. Es bestimmt u.a.: Mögliche Tarifvertragsparteien sind (ausschließlich) die Gewerkschaften, einzelne Arbeitgeber (also Unternehmen) oder Vereinigungen von Arbeitgebern. Theoretisch könnten auch Spitzenorganisationen, wie z.B. BDA und DGB, bei entsprechenden Vollmachten Tarifverträge abschließen. Tarifgebunden sind die Mitglieder der Tarifvertragsparteien - und zwar solange - bis der Tarifvertrag endet. Das heißt auch, daß sich ein Unternehmen durch Verbandsaustritt nicht zugleich der Tarifbindung entledigen kann. Die Rechtsnormen des Tarifvertrages, die sich auf Inhalt, Abschluß und Beendigung des Arbeitsverhältnisses beziehen, gelten unmittelbar und zwingend für die Tarifvertragsparteien. Der Tarifvertrag hat auch Vorrang vor anderen, z.B. betrieblichen oder individuellen Regelungen. Im Betriebsverfassungsgesetz wird ausdrücklich bestimmt: "Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, können nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein." Die Tarifparteien können allerdings den Tarifvorrang für bestimmte Regelungsbereiche begrenzen, indem sie Öffnungsklauseln vereinbaren. Nach Ablauf eines Tarifvertrags gelten seine Rechtsnormen weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden (Nachwirkung). Beim Bundesarbeitsministerium wird ein Tarifregister geführt, das Abschluß, Änderung und Aufhebung von Tarifverträgen sowie die Allgemeinverbindlicherklärungen verzeichnet.
Weitere Informationen zum Tarifsystem
Informationen zu Arbeitgeberverbänden, Betrieb, Gewerkschaften, Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie, Mitbestimmung, Staat, Tarifvertrag als zentrales Regulierungsinstrument:
Tarifpolitik und industrielle Beziehungen
So funktioniert das Tarifsystem: Arbeitskampf, Schlichtung, Tarifforderung und innergewerkschaftliche Willensbildung, Verhandlungen, zeitlicher Rhythmus:
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