Quelle: HBS
TarifarchivTarifchronik: Kurzchronik: 7 Jahrzehnte im Zeitraffer
Sieben Jahrzehnte Tarifgeschehen im Zeitraffer - für Einsteiger oder eilige Besucher.
70 Jahre Tarifbewegungen, Arbeitskämpfe und Tarifverträge
Nach 1945 | Wiederherstellung der Tarifvertragsfreiheit |
Wiederaufbau der Gewerkschaften - zunächst Bewältigung der dringendsten Alltagsprobleme - nach und nach Entwicklung konkreter tarifpolitischer Vorstellungen. | |
1948 | Aufhebung des von den Alliierten verhängten Lohnstopps und schrittweise Ablösung der Tarifordnungen der NS-Zeit durch Tarifverträge. |
1949 | Verabschiedung des Tarifvertragsgesetzes (9. 4. 1949). |
Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz: Verankerung der Koalitionsfreiheit. | |
Tarifliche Stundenlöhne zwischen 59 Pfg. (Landwirtschaft) und 1,77 DM (Bauwirtschaft), Gehälter zwischen monatlich 175 DM (Fleischerhandwerk) und 531 DM (Chemieindustrie); Lohnabschläge bzw. niedrigere Lohngruppen für Frauen. | |
50er Jahre | Tarifpolitik im Zeichen des "Wirtschaftswunders" |
Zahlreiche Arbeitskämpfe - Durchsetzung "periodischer Tarifrunden" - Verkürzung der Wochenarbeitszeit. | |
1950-53 | Lohnstreiks in verschiedenen Wirtschaftszweigen, darunter: Bauindustrie, Land- und Forstwirtschaft, Metallindustrie, grafisches Gewerbe, Textil- und Werftindustrie. |
1954 | 18tägiger Streik in der bayerischen Metallindustrie endet mit einer faktischen Niederlage: Anhebung der Löhne und Gehälter, aber Verschlechterung des Lohngruppenschlüssels; Maßregelung von Streikteilnehmern. |
Öffentlicher Dienst: erstmals tarifliche Sonderzahlung ("Weihnachtsgeld"); später: Stahl (1965), Chemie, Bau, Banken (1971), Metall (1972), Holz, Textil, Versicherungen (1973), Druck (1974). | |
1955 | Urteil des Bundesarbeitsgerichts gegen " Frauenlohngruppen" in Tarifverträgen, die in den folgenden Jahren bzw. Jahrzehnten nur sehr langsam aus den Tarifverträgen entfernt wurden. |
1956 | 1. Mai: " Samstags gehört Vati mir " - Kampagne des DGB zur Einführung der 5-Tage-Woche mit 8 Stunden täglicher Arbeitszeit. |
Verkürzung von 48 auf 45 Stunden Wochenarbeitszeit in der Metallindustrie. | |
Vereinbarung der 40-Stunden-Woche für die Zigarettenindustrie (1957 - 1959). | |
1956/57 | 16-wöchiger Streik in der schleswig-holsteinischen Metallindustrie um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall . |
1959 | 5-Tage-Woche im Steinkohlenbergbau. Später u.a.: Versicherungen (1960), Banken (1961), Holzverarbeitung (1963), Druck (1969). |
60er Jahre | Zwischen "Konzertierter Aktion" und spontanen Streiks |
Abschied vom "Wirtschaftswunder" und Übergang zu "kapitalistischer Normalität" - erste Wirtschaftskrise - zurückhaltende Lohnpolitik führt zu spontanen Arbeitsniederlegungen. | |
1962 | Erstmals tarifliches Urlaubsgeld in der holzverarbeitenden Industrie, später: Papier, Metall, Textil (1965), Chemie, Druck (1966), Steinkohle (1969), Einzel-, Großhandel (1971). |
1963 | Zweiwöchiger Arbeitskampf in der baden-württembergischen Metallindustrie: 120.000 Streikende und 250.000 Ausgesperrte (!). 5 % mehr Lohn, weitere 2 % im Jahr 1964. |
1965 | Druckindustrie: Einführung der 40-Stunden-Woche. |
1965 | Baugewerbe: Tarifvertrag über vermögenswirksame Leistungen , in den 70er Jahren auch in zahlreichen anderen Tarifbereichen. |
1967 | Beginn der " Konzertierten Aktion " von Bundesregierung, Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften und Bundesbank (Grundlage: Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967). Ausscheiden der Gewerkschaften anläßlich der Arbeitgeberklage gegen das Mitbestimmungsgesetz von 1976. |
40-Stunden-Woche in der Metallindustrie und in der Holzverarbeitung; gefolgt u.a. von Bau (1969), Chemie, Papier, Textil (1970), Einzelhandel (1971), Versicherungen (1973), Banken, öffentlicher Dienst (1974), Landwirtschaft (1983). | |
1969 | Spontane Streikwelle (" Septemberstreiks") nach Tarifverträgen mit langen Laufzeiten und sehr moderaten Lohnerhöhungen (Stahl, Metall, Textil, öffentlicher Dienst): betriebliche Zulagen und verkürzte Tariflaufzeiten. |
70er Jahre | Boom, Wirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit |
Zunächst aktive Lohnpolitik der Gewerkschaften - nach Kriseneinbruch 1974/75 und ansteigender Arbeitslosigkeit: Konzentration auf Rationalisierungs- und Einkommensschutz. | |
1971 | Erster Arbeitskampf in der chemischen Industrie nach 50 Jahren; Ergebnis: 7,8 % Lohnerhöhung und schrittweise Tarifierung des 13. Monatsgehalts. |
1973 | Spontane Streiks zur Durchsetzung von Teuerungszulagen. |
Lohnrahmentarifvertrag II für die Metallindustrie Nordwürttemberg-Nordbaden: Mindesterholzeiten für ArbeiterInnen im Leistungslohn, Mindesttaktzeiten am Fließband (1,5 Minuten), Kündigungs- und Verdienstschutz für ältere ArbeitnehmerInnen. | |
1974 | Nach dreitägigem Streik im öffentlichen Dienst : 11 % mehr Lohn, mindestens 170 DM. |
1978 | Absicherungstarifvertrag in der baden-württembergischen Metallindustrie: Schutz gegen rationalisierungsbedingte Abgruppierung. |
Nach Streik: Abschluß eines Tarifvertrages zur Absicherung gegen die sozialen Risiken der neuen rechnergesteuerten Satzsysteme in der Druckindustrie | |
1978/79 | Streik in der Stahlindustrie um die 35-Stunden-Woche; Ergebnis: 30 Tage Jahresurlaub (ab 1982), zusätzliche Freischichten für ältere Arbeitnehmer und Schichtarbeiter. 6 Wochen Urlaub in der Folge auch bei: Textil (1981), Metall, Versicherungen (1982), Steinkohle, Druck (1983), Papiererzeugung, Holz, Banken (1984). Festschreibung der 40-Stunden-Woche bis Ende 1983 (u.a. bei Metall). |
80er Jahre | Arbeitszeitverkürzung und qualitative Tarifpolitik |
Die achtziger Jahre werden geprägt vom Kampf um kollektive Arbeitszeitverkürzung - doch nur für einen kleineren Teil der Beschäftigten erreichen die Gewerkschaften die tarifliche 35-Stunden-Woche. | |
1984 | Erneuter Beginn des Kampfes um die 35-Stunden-Woche: Streiks in der Metall- und Druckindustrie; schrittweise Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 38,5 Stunden, Flexibilisierung der Arbeitszeit; später u.a. auch in zahlreichen anderen Bereichen. |
Vorruhestandstarifverträge in den Bereichen Chemie, Ernährung, Bau, Banken, Versicherungen | |
1987 | Zweite Stufe der Wochenarbeitszeitverkürzung bei Metall und Druck vereinbart. |
1988 | Chemische Industrie: Die Tarifparteien vereinbaren erstmals für einen großen Industriezweig einen einheitlichen Entgelttarifvertrag für ArbeiterInnen und Angestellte. |
1989 | Arbeitskampf im Einzelhandel (Arbeitszeitverkürzung/Ladenschluß) sowie in der Druckindustrie (freies Wochenende). |
90er Jahre | Kampf für Tarifeinheit in Ost und West- Krise des Flächentarifvertrags |
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Nach raschen Anfangserfolgen mühsame Angleichung der Osttarife an das Westniveau - zunehmende Erosion des Flächentarifvertrags durch tarifwidriges Verhalten, Tarif- und Verbandsflucht der Arbeitgeber - Dezentralisierung der Tarifpolitik durch Öffnungsklauseln - Perspektive: europäische Koordinierung der Tarifpolitik. |
1990 | Tarifvereinbarung über die (stufenweise) endgültige Einführung der 35-Stunden-Woche in der Metall- und Druckindustrie (1993 und 1995). |
Streik um Erholzeiten bei der Deutschen Bundespost. | |
Übertragung der westdeutschen tariflichen Grundstrukturen auf die neuen Bundesländer ; schrittweise Anpassung der tariflichen Regelungen und Leistungen. | |
1991 | IG Metall legt ein Programm zur " Tarifreform 2000 " vor, das die Erneuerung und Verbesserung der tariflichen Rahmenregelungen zu Entgelt, Qualifizierung, Arbeitsgestaltung und Mitbestimmung zum Ziel hat. Ernstzunehmende Verhandlungen darüber kommen nicht zustande. |
1992 | 11tägiger Streik im öffentlichen Dienst , bei Bahn und Post: 5,4 % mehr Lohn und Gehalt und 200 DM mehr Urlaubsgeld. |
1993 | Ostdeutsche Metallindustrie : Zweiwöchiger Streik gegen die rechtswidrige Arbeitgeber-Kündigung des Stufentarifvertrags von 1991; Ergebnis: Streckung der Entgeltangleichung, Einführung von Härtefallklauseln für gefährdete Betriebe. |
1994 | Vereinbarung von sog. " Beschäftigungssicherungs-Tarifverträgen" mit der Möglichkeit zur Verkürzung der Wochenarbeitszeit ohne Lohnausgleich sowie Maßnahmen zur Förderung der Ausbildung. |
1995 | 35-Stunden-Woche in der Druck- und der Metallindustrie |
Tariferfolg nach 11tägigem Streik in der bayerischen Metallindustrie : 3,4 % mehr Lohn, weitere 3,6 % im Jahr 1996. | |
1996 | Spontane Arbeitsniederlegungen gegen die betriebliche Anwendung der Kürzung der gesetzlichen Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ; zahlreiche Tarifverträge zur Sicherung der 100-prozentigen Entgeltfortzahlung. |
Vereinbarung von Tarifverträgen zur Altersteilzeit in der chemischen Industrie und nachfolgend in zahlreichen anderen Tarifbereichen. | |
1998 | "Erklärung von Doorn ": Belgische, niederländische, luxemburgische und deutsche Gewerkschaften streben eine europäische Koordinierung der Tarifpolitik an. Ziel: die Vermeidung von Lohnunterbietungskonkurrenz durch Tarifabschlüsse, die mindestens das Volumen von Preissteigerung und Produktivitätsanstieg erreichen. |
1999 | Erste Tarifrunde unter dem Euro: Die Tarifabschlüsse bewegen sich zwischen 3 und 3,5 %. |
2000er Jahre | Angriffe auf die Tarifautonomie - Kampf um die Erhaltung der Tarifstandards |
Arbeitgeberverbände und die politische Opposition (CDU/CSU, FDP) fordern gesetzliche Öffnungsklauseln und Abschaffung des Günstigkeitsprinzips. Rückläufige Tarifbindung und vermehrt "tariflose Zustände" - Diskussion um einen gesetzlichen Mindestlohn | |
2002 |
Erster bundesweiter Arbeitskampf im Bauhauptgewerbe: 3,2 % mehr Lohn, weitere 2,4 % im Jahr 2003 |
Vereinbarung von Eckpunkten für ein einheitliches Entgeltrahmenabkommen (ERA) in der Metallindustrie Baden-Württembergs; in den folgenden Jahren Abschluss und Einführung von ERA auch in den anderen regionalen Tarifgebieten. | |
2003 | Nach zweiwöchigem Arbeitskampf scheitert die IG Metall mit dem Versuch, in der ostdeutschen Metallindustrie die 35-Stunden-Woche durchzusetzen |
DGB-Tarifgemeinschaft schließt erstmals zwei bundesweite Tarifverträge zur Leiharbeit/Zeitarbeit ab | |
Bundeskanzler Schröder droht in seiner Rede vom 12.3.2003 zur "Agenda 2010" gesetzliche Öffnungsklauseln an, wenn die Tarifverträge nicht "flexibler" gestaltet werden. | |
2004 | Pforzheimer Abkommen in der Metallindustrie: Öffnungsklausel zur Abweichung vom Tarifvertrag zur Sicherung von Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung; über 300 abweichende Vereinbarungen in den folgenden zwei Jahren |
Vereinbarung weiterer tariflicher Öffnungsklauseln in verschiedenen Branchen; Arbeitszeitverlängerung von 39 auf 40 Stunden ohne Lohnausgleich u.a. im Bauhauptgewerbe | |
2005/2006 | Neuer Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (Bund, Kommunen); Arbeitskampf um die Durchsetzung auch bei den Ländern und gegen eine Arbeitszeitverlängerung bei den Kommunen |
2007 | Auseinandersetzung um Mindestlohn (Erweiterung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes) |
Streik der Gewerkschaft deutscher Lokführer (GDL) für eigenständigen Tarifvertrag bei der Deutschen Bahn AG. | |
2008 | Ausbruch der Finanzmarktkrise; Tarifabschlüsse im Schnitt nur geringfügig über der Preissteigerung |
2010er Jahre | Gesetzlicher Mindestlohn, Reform der Allgemeinverbindlichkeit |
2010 |
Niedrige Tarifabschlüsse, Schwerpunkt auf Beschäftigungssicherung. |
2011 | Höhere Abschlüsse, aber real ein Minus bei den Tarifverdiensten |
2012 | Tarifabschlüsse über der Preissteigerungsrate. |
Tarifliche Branchenzuschläge für Leiharbeitsbeschäftigte in der Metallindustrie und weiteren Branchen | |
2013 | Große Koalition (CDU/CSU/SPD): Koalitionsvereinbarung sieht Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohnes in Höhe von 8,50 € vor. |
Neue tarifliche Branchenmindestlöhne im Friseurgewerbe und in der Fleischindustrie mit schrittweiser Anhebung auf 8,50 € | |
2014 | Tarifautonomiestärkungsgesetz mit Mindestlohn von 8,50 € ab Januar 2015 und Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen |
Tarifabschlüsse zwischen 3 und 3,5 %, Inflation unter 1 % | |
2015 | Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns in Höhe von 8,50 € ab 1. Januar. |
Tarifabschlüsse im Schnitt bei knapp 3 % - Arbeitskämpfe bei Bahn, Post, im Sozial- und Erziehungsdienst und bei der Berliner Charité | |
2016 | Tarifverdienste real + 1,9 % - auch wegen niedriger Inflationsrate |
Deutsche Bahn: Tarifliches Wahlrecht zwischen Lohnerhöhung und Arbeitszeitverkürzung | |
2017 | Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf 8,84 € ab 1. Januar |
Gedämpfter tariflicher Reallohnzuwachs | |
2018 | Kräftige Tarifsteigerungen von 3 %, real +1,1 % |
Tarifabschluss Metallindustrie: Wahloption für 8 zusätzl. freie Tage bei Schichtarbeit, Kindererziehung, Pflege; Recht auf befristete Teilzeit (28,8-Stunden-Woche) mit Rückkehrrecht | |
2019 | Gesetzlicher Mindestlohn steigt auf 9,19 €. |
Quelle: WSI-Tarifarchiv