Quelle: WSI
TarifarchivTarifrunde 2010: Metall- und Elektroindustrie
Die Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie zeichnete sich durch mehrere Besonderheiten aus: Die übliche Forderungsdiskussion in den Betrieben und Tarifkommissionen fand diesmal nicht statt.
Erstmals verzichtete die IG Metall auch auf eine konkrete, bezifferte Lohnforderung. Stattdessen konzentrierte sich die Gewerkschaft auf ihr Hauptziel die Beschäftigungssicherung. In intensiven Sondierungsgesprächen lotete sie Möglichkeiten der Beschäftigungssicherung aus. Bereits weit vor dem Kündigungstermin und nach nur zwei Verhandlungsrunden einigten sich die Tarifparteien auf ein neues Tarifabkommen.
Umsetzung des Tarifabschlusses 2008/2009
Der Tarifabschluss in der Metall- und Elektroindustrie vom November 2008 lief nach 18 Monaten Ende April 2010 aus. Doch bereits im Herbst 2009 setzte bei den Tarifvertragsparteien eine Diskussion ein, mit welchen (auch tarifpolitischen) Mitteln der tief greifenden wirtschaftlichen Krise und den daraus resultierenden Beschäftigungsrisiken begegnet werden könnte. Die IG Metall hatte ihre betriebspolitischen Aktivitäten auf ein "Moratorium in Sachen Entlassungen" (Schwitzer 2009) konzentriert. Insbesondere durch eine intensive Nutzung des Elements der Kurzarbeit sollten betriebsbedingte Entlassungen vermieden werden. Tatsächlich weist die hohe Kurzarbeiterzahl darauf hin, dass diese Strategie zumindest teilweise erfolgreich war: Die durchschnittlich rund 742.000 Kurzarbeiter in der Metallindustrie im Jahr 2009 entsprechen immerhin 230.200 Vollzeitstellen (direkt 1/2010). Zugleich wurden allerdings rund 122.000 Arbeitsplätze abgebaut.
Allerdings kam es trotz Kurzarbeit und Abbau von Arbeitszeitkonten zu Beschäftigungsabbau. Die Beschäftigtenbefragung des WSI-Projekts LohnSpiegel ergab, dass in 67 % der Metallbetriebe Arbeitsplätze abgebaut wurden: zum einen durch Kündigung von Leiharbeitsbeschäftigten (in 71 % der krisenbetroffenen Betriebe), zum andern durch das Auslaufen befristeter Beschäftigungsverhältnisse (in 63 % der Betriebe). In gut einem Drittel der Krisenbetriebe gab es auch Kündigungen des Stammpersonals (WSI-Report 02/2010).
Angesichts der Krisenfolgen rückten im Frühjahr 2009 die lohnbezogenen Flexi-Regelungen des Metall-Abschlusses von 2008 in den Blickpunkt. Im November 2008 hatten die Tarifparteien einen Abschluss mit einer Laufzeit von 18 Monaten vereinbart. Er sah neben einer Pauschalzahlung für die ersten drei Monate eine zweimalige Tarifanhebung um jeweils 2,1 % vor sowie eine zusätzliche Einmalzahlung von 122 € im September 2009. Auf Basis einer freiwilligen Betriebsvereinbarung war eine Verschiebung der zweiten Stufe der Tarifanhebung um 2,1 % zum 1. Mai 2009 von bis zu sieben Monaten möglich. Nach Erhebungen der IG Metall zahlten rund 75 % der Betriebe vereinbarungsgemäß im Mai, jeder vierte Betrieb machte von den Verschiebungsmöglichkeiten Gebrauch. In etwa der Hälfte der Fälle geschah dies im Rahmen von Gesamtpaketen, die unter anderem eine Beschäftigungssicherung beinhalteten (IG Metall Pressemeldung Nr. 46/2009 vom 9.6.2009).
Ein Vorstoß von BDA-Präsident Dieter Hundt, in dem er Lohnkürzungen aus betriebswirtschaftlichen Gründen für gerechtfertigt erklärte, stieß auf scharfen Widerspruch nicht nur bei Gewerkschaften und einigen Ökonomen. Auch Gesamtmetall-Präsident Kannegießer erklärte, Lohnkürzungen, womöglich flächendeckend in der gesamten Metall- und Elektroindustrie, seien "absolut kein Thema". Es gehe auch nicht darum, flächendeckend für die gesamte Branche Standards zu ändern. Die Tarifverträge sähen Öffnungsklauseln vor, die einzelnen Unternehmen Abweichungen von Tarifstandards erlaubten (Frankfurter Rundschau vom 10.08.2009).
Die IG Metall lehnte Lohnkürzungen ebenfalls ab, machte aber deutlich, dass sie für die Tarifrunde 2010 die Themen Arbeitsplatzsicherung und die Übernahme von Auszubildenden als vorrangig ansah. IG Metall-Vorsitzender Huber äußerte bereits im Oktober 2009 in einem Interview die Auffassung, "eine Krise ist für die Gewerkschaften nie der Fanfarenstoß für Erfolge an der Entgeltfront" und weiter "alles in allem ist die Luft wirklich dünn". Mit der traditionellen Lohnformel der Gewerkschaften, die auf Preis- und Produktivitätssteigerung abstelle, "werden wir nicht weiterkommen" (Stuttgarter Zeitung vom 26.10.2009). Zu diesem Zeitpunkt hatte eine Debatte über mögliche Schwerpunkte der Lohnrunde 2010 noch gar nicht begonnen. In der Öffentlichkeit wurden diese Äußerungen als Hinweis verstanden, dass die IG Metall eine moderate Lohnrunde anpeile. Von "handzahmen Metallern" schrieb die Süddeutsche Zeitung und "IG Metall sagt Bescheidenheit bei Löhnen zu" titelte die Financial Times Deutschland und die Welt formulierte "IG Metall will kuscheln statt kämpfen".
Sondierungsgespräche und vorzeitige Tarifverhandlungen
Im November 2009 ergriffen die Metall-Tarifparteien eine gemeinsame Initiative zur Verlängerung der gesetzlichen Sonderregelungen zur Kurzarbeit. So sollte die Möglichkeit von bis zu 24-monatiger Kurzarbeit über 2009 hinaus verlängert werden. Zugleich wurde vereinbart, in den regionalen Tarifbezirken weitere Möglichkeiten tariflicher Arbeitsplatzsicherung zu erörtern. Ab Ende November 2009 wurden Sondierungsgespräche geführt mit dem Ziel, Beschäftigung und die Übernahme Ausgebildeter über die Krise hinweg zu sichern. Nach einer Bewertung der regionalen Sondierungsstände beschloss der IG Metall-Vorstand am 9.2.2010, die Tarifverhandlungen 2010 vorzuziehen. Hierzu wurden in den Tarifbezirken Nordrhein-Westfalen (10. Februar) und Baden-Württem-berg (11. Februar) erste Verhandlungen über ein Jobpaket und Entgelterhöhungen aufgenommen. Die IG Metall ging erstmals ohne konkrete Bezifferung der Entgeltforderung in die Verhandlungen. Sie machte jedoch deutlich, dass es keine Nullrunde geben könne, sondern die Entgelterhöhungen mindestens die Realeinkommen sichern müssten. Beide Termine endeten ohne ein Ergebnis.
In Nordrhein-Westfalen wurden die Verhandlungen am 17. Februar fortgesetzt, in Baden-Württemberg einen Tag später. In der 2. Verhandlungsrunde am 17. und 18. Februar haben sich die Tarifvertragsparteien der Metall- und Elektroindustrie in Nordrhein-Westfalen auf ein Paket zur Beschäftigungssicherung und Entgelterhöhung verständigt. Das Ergebnis der Verhandlungen beinhaltet folgende Elemente:
Entgelt
- Für den Zeitraum von Mai 2010 bis März 2011 wird eine Pauschale von insgesamt 320 € (Auszubildende 120 €) gezahlt.
- Die Tarifvergütungen werden ab April 2011 um 2,7 % erhöht.
- Die Laufzeit des Tarifvertrags beträgt 23 Monate und reicht bis zum 31. März 2012.
Der Entgeltabschluss enthält - ähnlich wie der Abschluss von 2008 - eine Flexi-Komponente: In Abhängigkeit von der wirtschaftlichen Situation des Betriebes kann die Tariferhöhung um 2 Monate vorgezogen bzw. um 2 Monate nach hinten verschoben werden.
Der noch offene Teilbetrag der Arbeitnehmer zur Finanzierung der Altersteilzeit in Höhe von 0,4 % aus dem Tarifabschluss 2008 gilt für die Laufzeit des Tarifvertrages als erbracht.
Tarifvertrag "Zukunft in Arbeit" (ZiA)
Der neue Tarifvertrag "Zukunft in Arbeit" soll in Betrieben zur Anwendung kommen, die seit mindestens zwölf Monaten kurzarbeiten. Er ermöglicht eine Art zusätzlicher tariflicher Kurzarbeit sowie eine anschließende Arbeitszeitabsenkung und endet ohne Nachwirkung am 30.6.2012.
- In einer ersten Phase von mindestens sechs Monaten wird das Urlaubs- und das Weihnachtsgeld gezwölftelt und der monatlichen Vergütung hinzugerechnet. Auf diese Weise erhöht sich zum einen das Kurzarbeitergeld. Zum andern vermindern sich für den Arbeitgeber die Kosten, denn er muss Urlaubs- und Weihnachtsgeld nur noch anteilig für die geleistete Arbeitszeit zahlen. Die sog. Remanenzkosten der Kurzarbeit werden also gesenkt.
- Im Anschluss an diese erste Phase kann für weitere zwölf Monate die Arbeitszeit von 35 auf bis zu 28 Std./Woche (mit Zustimmung der Tarifparteien bis 26 Std./Woche) abgesenkt werden.
- Dabei erhalten die Beschäftigten bei einer Verkürzung auf 31/30/29/28/27/26 Stunden/Woche einen Zuschlag in Höhe von 50/75/100/150/175/200 % eines Stundenentgeltes pro Woche.
- Unter bestimmten Voraussetzungen kann die Arbeitszeit auch ohne vorherige tarifliche Kurzarbeit abgesenkt werden.
- Voraussetzung für den Tarifvertrag ZiA war, dass die gesetzlichen Regelungen zur Erstattung der Sozialversicherungsbeiträge für die Ausfallstunden bei Kurzarbeit mindestens bis 2011 verlängert wurden. Andernfalls sollten Verhandlungen zur Anpassung der Bestimmungen aufgenommen werden. Auch Teilentgeltzahlungen bei abgesenkter Arbeitszeit sollten nach den Vorstellungen der Tarifparteien von der Beitragspflicht in der Sozialversicherung freigestellt werden.
Übernahme Ausgebildeter
- Die tariflichen Bestimmungen zur Übernahme Ausgebildeter (u.a. Übernahme im Grundsatz für mind. 12 Monate) wurden verlängert.
- Werden Ausgebildete nicht übernommen, soll geprüft werden, ob
- ein Arbeitsverhältnis in Teilzeit (mind. 28 Std./Woche) angeboten werden kann,
- die Übernahme in einen anderen Betrieb möglich ist,
- eine Übernahme für mindestens 6 Monate im Rahmen von Kurzarbeit oder Arbeitszeitabsenkung möglich ist.
Zusatzvereinbarung "Ausbildung und Beschäftigung NRW"
Die Tarifparteien in Nordrhein-Westfalen vereinbarten konkrete Aufträge, die von einer gemeinsamen Arbeitsgruppe bis spätestens zum 30.6.2010 zu erfüllen sind, zu folgenden Themen:
- Qualifizierungswoche für Auszubildende
- Förderung der Ausbildungsfähigkeit
- Erarbeitung eines Tarifvertrages "Zukunft in Bildung" u.a. mit einem Bildungsteilzeit-Modell für Auszubildende
- Ausbau des Projekts "Beschäftigungsstart NRW" sowie stärkere Nutzung von Transfergesellschaften durch KMU
Der Pilotabschluss wurde im Zeitraum bis 4. März mit regionalen Abweichungen in allen anderen Tarifgebieten übernommen. Gesamtmetall-Präsident Kannegiesser bewertete den Abschluss als "eindrucksvolles Zeichen gemeinsamen Krisenmanagements" (vgl. auch Gesamtmetall 2010), IG Metall-Vorsitzender Huber sprach von einer "fairen Lastenteilung". Das Abkommen fand nicht nur bei den Metall-Tarifparteien positive Resonanz. BDA-Präsident Dieter Hundt attestierte den Tarifparteien "Realitätssinn und Verantwortung", der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) sprach von einer "moderaten Entgelterhöhung", die Bundesarbeitsministerin von der Leyen nannte den Abschluss "ausgesprochen angemessen" und signalisierte ihre Bereitschaft, die Kurzarbeitsregelungen zu verlängern. In der Presse wurde der Rückgriff auf staatliche Leistungen im Zusammenhang mit der Kurzarbeit auch kritisch kommentiert.
Bei den anderen Gewerkschaften gab es zurückhaltende Töne. So bestritt die IG BCE den Vorbildcharakter des Metallabschlusses: "Bei der Geldfrage müssen die Arbeitgeber zur Kenntnis nehmen, dass wir eine andere Branchensituation haben", so Tarifvorstand Peter Hausmann. Bei der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (verd.i) sprach man von einem Sonderfall, der nicht übertragbar sei.
Quelle: WSI Tarifpolitischer Halbjahresbericht 2010 - Stand Juli 2010