Quelle: dpa
Forschungsprojekt: Neuordnung der Arbeitsbedingungen und Arbeitsbeziehungen am Beispiel der Fleischindustrie
Das „Gesetz zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte in der Fleischindustrie“ sieht seit 2021 ein Verbot von Werkverträgen und eine weitgehende Einschränkung von Leiharbeit in den Kernbereichen der Fleischproduktion vor. Wie wird das Gesetz umgesetzt? Wie verändern sich die Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen sowie die Wechselbeziehungen zwischen gesetzlichen Regulierungen und industriellen Beziehungen?
Mit dem 2020 beschlossenen „Arbeitsschutzkontrollgesetz“ wird das bisherige Arbeits- und Geschäftsmodell der Fleischindustrie, das wesentlich auf dem Einsatz von Werkvertragsbeschäftigten beruhte, grundlegend in Frage gestellt. Dazu kommt eine Reihe von Maßnahmen, die die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Beschäftigten in der Fleischwirtschaft verbessern sollen.
Anhand von Betriebsfallstudien sowie einer interdisziplinär ausgerichteten rechtswissenschaftlichen Analyse der gesetzlichen Rahmenbedingungen untersucht das Projekt die folgenden Fragen: (1) Welche Auswirkungen haben die verschiedenen Regelungen des Arbeitsschutzkontrollgesetzes auf die Arbeitsorganisation und Arbeitsbedingungen der Fleischindustrie und die Mobilisierung von Beschäftigtenrechten? (2) Wie entwickeln sich die Tarifvertragsbeziehungen in der Branche? (3) Wie verändern sich die betrieblichen Arbeitsbeziehungen im Hinblick auf die Entwicklung von Mitbestimmungsstrukturen und die aktive Einbeziehung ehemaliger Werkvertragsbeschäftigter?
Projektmitarbeiter*innen:
Prof. Dr. Thorsten Schulten, Serife Erol (WSI)
Dr. Ernesto Klengel, Antonia Seeland (HSI)
Projektlaufzeit: 05/2022 – 05/2025
Kooperationspartner:
Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG)
Projekt Faire Mobilität (DGB)
Juristische Gutachter*innen:
Prof. Dr. Manfred Walser, Anneliese Kärcher (Hochschule Mainz)
Informationen zur Projekt-Abschlusskonferenz
Vorträge und Publikationen
Gestaltung durch Recht - Die Neuordnung der Arbeitsbedingungen in der Fleischwirtschaft (pdf), Serife Erol, 26. Colloquium des HSI für den wissenschaftlichen Nachwuchs im Arbeits- und Sozialrecht, 01.02.2024.
Wandel der deutschen Fleischindustrie, Serife Erol und Thorsten Schulten, Workshop: Die Deindustrialisierung und der Wandel von Berufen und Berufsbiografien seit den 1970er Jahren, WSI der Hans-Böckler-Stiftung / Institut für Zeitgeschichte München–Berlin, Bonn, 28.03.2023.
New Regulation in the German Meat Industry: Towards better Working Conditions and a new Labour Relations?, Serife Erol und Thorsten Schulten, 13th ILERA EUROPEAN CONGRESS, Industrial relations and the green transition, Barcelona, UAB Campus.
Neuordnung der Arbeitsbeziehungen in der Fleischindustrie: Von der Erosion hin zur Re-Regulierung? Serife Erol, Gewerkschaften und Machtressourcen in der großen Transformation, 29./30.04.2022, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Jena.
Labour Relations in the German Meat Industry - From Erosion to Re-organisation?, Thorsten Schulten und Johannes Specht, 15th Global Labour University Conference, 01.04.2022, Online.
Renewing labour relations in the German meat industry. WSI Report 61e, Serife Erol und Thorsten Schulten. Düsseldorf, Januar 2021.
Projektziele
Mit der Verabschiedung des „Arbeitsschutzkontrollgesetzes“ im Dezember 2020 wurde ein Bündel von neuen Regelungen beschlossen, mit dem eine umfassende gesetzliche Re-Regulierung in der Fleischwirtschaft eingeleitet werden soll. Im Mittelpunkt stand dabei eine Änderung des „Gesetzes zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte in der Fleischindustrie“ (GSA Fleisch), das seit 2021 ein Verbot von Werkverträgen und eine weitgehende Einschränkung von Leiharbeit in den Kernbereichen der Fleischproduktion enthält. Damit wird das bisherige Arbeits- und Geschäftsmodell der Branche, das wesentlich auf dem Einsatz von Werkvertragsbeschäftigten beruhte, grundlegend in Frage gestellt. Darüber hinaus umfasst das Arbeitsschutzkontrollgesetz eine Reihe weiterer wichtiger Maßnahmen, wie die Einführung einer verpflichtenden elektronischen Arbeitszeiterfassung, deutliche Erhöhung der Kontrolldichte der Landesbehörden sowie Maßnahmen zur Verbesserung der Wohnverhältnisse von Arbeitsmigrant*innen, die allesamt dazu beitragen sollen, die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Beschäftigten in der Fleischwirtschaft zu verbessern.
Die Durchsetzung des Arbeitsschutzkontrollgesetzes erfolgte gegen massiven politischen Widerstand auf Seiten der Fleischindustrie. Seine Umsetzung ist auch juristisch umstritten und Gegenstand verschiedener Gerichtsverfahren. Dies gilt zum einen für die konkrete Frage, welche Bereiche denn genau zu den „Kernbereichen der Fleischproduktion“ zählen, die demnach unter den Geltungsbereich des Gesetzes fallen. Es gilt aber auch für die grundsätzliche Frage, ob das Arbeitsschutzkontrollgesetz mit dem Verfassungsgrundsatz der Berufsfreiheit sowie den EU-rechtlich gewährleistete Grundfreiheiten der Arbeitgeber in Einklang steht. Vor dem Bundesverfassungsgericht hatte das Gesetz aber Bestand. Ein rechtswissenschaftliches Gutachten wird sich mit den verfassungs- und europarechtlichen Fragen befassen.
Die Umsetzung des Arbeitsschutzkontrollgesetzes schafft auch grundlegend neue Rahmenbedingungen für die betriebliche und gewerkschaftliche Interessenvertretung. So ist es der in der Branche zuständigen Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten (NGG) im Frühjahr 2021 gelungen, erstmals seit langem wieder branchenweite Tarifverhandlungen aufzunehmen und im Mai 2021 eine erste Vereinbarung über einen neuen Branchenmindestlohn abzuschließen, der ab dem 01.01.2022 allgemeinverbindlich erklärt worden ist. Ein weiterer wichtiger Schritt zur Neuordnung der Arbeitsbeziehungen in der Fleischwirtschaft waren die Betriebsratswahlen im Frühjahr 2022, die unter völlig veränderten Vorzeichen stattfanden, da nun auch erstmals die große Anzahl ehemaliger Werkvertragsbeschäftigter wahlberechtigt waren. Die Arbeitsbeziehungen in der Fleischindustrie befinden sich insgesamt derzeit in einem rasanten Veränderungsprozess, der die Chance für eine grundlegende Verbesserung der Arbeitsbedingungen mit sich bringt. Diesen schwierigen und nach aller bisherigen Erfahrung auch höchst konflikthaften Prozess rechts- und sozialwissenschaftlich zu begleiten, ist das Kernanliegen dieses interdisziplinären Forschungsprojektes.
Gegenstand dieses Forschungsvorhabens ist eine langfristige Analyse der Re-Regulierungstendenzen in der Fleischindustrie, insbesondere solche, die durch das neue Arbeitsschutzkontrollgesetz gefördert werden. Dies umfasst, einerseits die Umsetzung des neuen Gesetzes zu analysieren sowie auf der anderen Seite die Analyse der Veränderungen in den Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen- und Beziehungen, als auch die Wechselbeziehungen zwischen gesetzlichen Regulierungen und den industriellen Beziehungen zu eruieren.
Anhand Betriebsfallstudien sowie einer interdisziplinär ausgerichteten rechtswissenschaftlichen Analyse der gesetzlichen Rahmenbedingungen wird folgenden Fragen nachgegangen: (1) Welche Auswirkungen haben die verschiedenen Regelungen des Arbeitsschutzkontrollgesetzes auf die Arbeitsorganisation und Arbeitsbedingungen der Fleischindustrie und die Mobilisierung von Beschäftigtenrechten? (2) Wie entwickeln sich die Tarifvertragsbeziehungen in der Branche? (3) Wie verändern sich die betrieblichen Arbeitsbeziehungen im Hinblick auf die Entwicklung von Mitbestimmungsstrukturen und die aktive Einbeziehung ehemaliger Werkvertragsbeschäftigter?
Neben den Betriebsfalluntersuchungen werden Einsichten der Expert*innen der Stakeholder wie Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Berufskrankenkassen, zivilgesellschaftliche und gewerkschaftsnahe Projekte (z. B. Faire Mobilität usw.) mittels Experteninterviews erhoben sowie in die Untersuchung eingebunden. Zuletzt werden die Befunde um eine Dokumentanalyse der bestehenden Betriebsvereinbarungen, Tarifverträge und Aktionsberichte der Projekte ergänzt und verdichtet. Bereits bei der Konzeption der Fragestellungen werden dabei verfassungs- und europarechtliche Problemstellungen identifiziert, für deren Beantwortung vertiefte empirische Untersuchungen hilfreich sind.
Durch die interdisziplinäre Analyse der Entwicklungen in der Fleischindustrie soll untersucht werden, ob es in Deutschland gelingen kann, eine Branche, die bislang auf weitgehend prekären Beschäftigungsverhältnissen und höchst fragmentierten Arbeitsbeziehungen beruht, neu zu ordnen. Die Fleischindustrie stand bisher exemplarisch für das Unterlaufen von Gesetzen zum Arbeitsschutz und zur Sicherung von Mindestarbeitsbedingungen sowie für eine weitgehende Erosion von Mitbestimmungs- und Tarifvertragsstrukturen. Sie könnte zukünftig ein Beispiel dafür bilden, dass dieser Erosionsprozess keineswegs zwangsläufig und unumkehrbar ist. Gegenstand der Untersuchung ist deshalb auch die Frage der Übertragbarkeit auf andere Branchen.
Aus den konkreten Erfahrungen der Fleischindustrie sollen generelle Regelungsanforderungen identifiziert werden. Damit geht das Projekt deutlich über die gesetzlich vorgesehene Evaluierung des Arbeitsschutzkontrollgesetzes hinaus. Das Ziel des Projektes besteht vielmehr darin, verallgemeinerbare arbeitspolitische und gesetzliche Maßnahmen zu identifizieren, die für eine Re-Stabilisierung des deutschen Modells der Arbeitsbeziehungen notwendig sind und auch in anderen Branchen zu einer Stärkung von Mitbestimmungs- und Tarifvertragsstrukturen sowie einer verbesserten Durchsetzung von Arbeitsschutz und Beschäftigtenrechten beitragen können.
Literatur
Erol, S./Schulten, T. (2021): An End to Wage-dumping in the German Meat Industry?, Social Europe online vom 26.01.2021
Erol, S./Schulten, T. (2021): Neuordnung der Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie. Das Ende der „organisierten Verantwortungslosigkeit“? Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut der Hans-Böckler-Stiftung: WSI Report Nr. 61, Düsseldorf
Schulten, T./Specht, J. (2021): Ein Jahr Arbeitsschutzkontrollgesetz. Grundlegender Wandel in der Fleischindustrie?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) Nr. 51–52/2021, S. 36–41
Specht, J./Schulten, T. (2021): Mindestlohntarifvertrag in der Fleischwirtschaft, WSI-Blog vom 14.06.2021