zurück
Tarifarchiv - Analysen Tarifarchiv

Tarifrunde 2008: Öffentlicher Dienst

Im öffentlichen Dienst gelang es den Gewerkschaften erstmals nach drei Jahren wieder Anschluss an die allgemeine Einkommensentwicklung zu gewinnen.

Durch eine sehr hohe Mobilisierung der Mitglieder, die ihren Ausdruck in zwei massiven Warnstreikwellen fand, konnten die kooperierenden Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes des DGB wie auch der dbb tarifunion soviel Druck entfalten, dass ein für viele Beobachter überraschend hohes materielles Ergebnis erzielt werden konnte. Allerdings mussten die Gewerkschaften bei der Arbeitszeit Zugeständnisse machen.

Ausgangssituation und Forderungen
Im Februar 2005 war der neue Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (kurz: TVöD) abgeschlossen worden, der im Kern eine Zusammenführung und völlige Neugestaltung der bis dahin getrennten Lohn- und Gehaltstarifverträge vorsah (Bispinck/WSI-Tarifarchiv 2006, Meerkamp 2008). Dieser Vertrag gilt für Bund und Gemeinden. Im Mai 2006 schloss ver.di mit den Ländern nach heftigen Auseinandersetzungen einen vergleichbaren Tarifvertrag (TV-L) ab. Mit dem TVöD wurde auch die Entgeltentwicklung der kommenden drei Jahre festgelegt. Vereinbart wurden Pauschalzahlungen von jeweils 300 € für die Jahre 2005/2006/2007 mit einer Laufzeit bis zum 31.12.2007. Für die Länder wurden ebenfalls Pauschalzahlungen für die Jahre 2006 und 2007 sowie eine Tarifanhebung von 2,9 % für das Jahr 2008 vereinbart.

Im TVöD waren verschiedene Punkte offen geblieben, für die Übergangsregelungen vereinbart worden waren bzw. die erst nach Vertragsabschluss geregelt werden sollten (ver.di 2007). Dazu zählte neben der befristeten Fortführung von Bewährungs- und Zeitaufstiegen vor allem die Erarbeitung einer neuen Entgeltordnung, die eine unmittelbare Eingruppierung der Beschäftigten auf Basis der neuen Entgeltgruppen ermöglichen soll. Aufgrund zahlreicher Verzögerungen, für die ver.di die Arbeitgeberseite verantwortlich machte, rückte die Tarifrunde 2008 näher, ohne dass die so genannten "Restanten" geklärt oder gar die neue Entgeltordnung verhandelt worden wäre.

Bereits bei der Tarifauseinandersetzung 2006 hatte ver.di mit der dbb tarifunion, dem Zusammenschluss der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes im Deutschen Beamtenbund, eng kooperiert. Nach den dort gesammelten positiven Erfahrungen wurde für die Tarifrunde 2008 im öffentlichen Dienst eine offizielle tarifpolitische Kooperation beschlossen. Sie sah vor, dass die Verhandlungen mit der Arbeitgeberseite gemeinsam geführt werden, wobei ver.di die Federführung haben sollte. Im Übrigen waren wie immer auch die anderen DGB-Gewerkschaften im Bereich des öffentlichen Dienstes, die GEW sowie die GdP, an den Verhandlungen beteiligt.

Im Vergleich zur allgemeinen Tarif- und Einkommensentwicklung waren die Einkommen der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in den vergangenen Jahren deutlich zurückgeblieben und hatten so zur gespaltenen Einkommensentwicklung beigetragen. Während beispielsweise in der Metallindustrie die Tarifeinkommen von 2000 bis 2007 nominal um fast 20 % gestiegen waren, blieben die Tarifentgelte im öffentlichen Dienst in diesem Zeitraum mit einem Plus von knapp über 11 % erheblich darunter. In den Jahren von 2005 bis 2007 mussten die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in Folge der geringen Pauschalzahlungen jeweils Realeinkommenseinbußen hinnehmen. Entsprechend hoch waren die Erwartungen für die Entgeltrunde 2008. In den regionalen Vordiskussionen innerhalb von ver.di waren zum Teil Forderungen von bis zu 10 % aufgestellt worden.

Bereits im Vorfeld der Verhandlungen hatte die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) mit "10 Punkten zur Tarifrunde 2008" (VKA 2007) ihre Position abgesteckt. Darin betonten sie das Ziel, die Kommunen und deren Unternehmen im Wettbewerb zu stärken, das kommunale Dienstrecht weiter zu modernisieren und die Sicherheit der Arbeitsplätze zu erhalten. Die Beschäftigten sollten an der allgemeinen Lohnentwicklung angemessen beteiligt werden, die hohen Abschlüsse der Privatwirtschaft könnten jedoch kein Maßstab sein. Die Wochenarbeitszeit sollte wieder einheitlich auf 40 Stunden verlängert und die Leistungsbezahlung ausgeweitet werden. In Krankenhäusern sei kein Spielraum für lineare Tariferhöhungen, solange die Budget-deckelung nicht aufgehoben sei.

Am 18./19.12.2007 beriet und beschloss die ver.di-Bundestarifkommission für den öffentlichen Dienst folgende Forderungen für die Tarifrunde 2008:

  • Lineare Erhöhung der Tarifentgelte um 8,0 %, mindestens 200 €, bei einer Laufzeit von 12 Monaten
  • Auszubildende: tabellenwirksamer Festbetrag von 120 €, Ost-West-Angleichung der Ausbildungsvergütung
  • Übernahme der Auszubildenden und zwar unbefristet, Vollzeit, ausbildungsgerecht und wohnortnah
  • Im Bereich Versorgung (TV-V): Entgelterhöhungen von 9,0 % sowie Erhöhung der Wechselschicht- und Schichtzulage auf 225 bzw. 150 €
  • Zeit- und inhaltsgleiche Übertragung des Tarifergebnisses auf den Bereich der BeamtInnen

Die öffentlichen Arbeitgeber wiesen die Forderung vor allem mit dem Hinweis auf die nicht tragbaren Kosten zurück. Die haushaltspolitischen Möglichkeiten des Bundes seien zu berücksichtigen und das Konsolidierungsziel dürfe nicht gefährdet werden. Die Sockelforderung führe zu einer Erhöhung in den unteren Entgeltgruppen von bis zu 15,5 %, die 120 € für die Auszubildenden entspreche einer Erhöhung  um bis zu 20 %.

Verhandlungen 
Am 10./11. Januar begannen die Verhandlungen in Potsdam. Zunächst wurden in einem Spitzengespräch in kleinem Kreis die Grundsatzpositionen ausgetauscht. In der zweiten Verhandlungsrunde am 24.1. präsentierten die Arbeitgeber ein erstes Angebot. Es sah eine Entgelterhöhung vor in Höhe von:

  • 2,5 % zum 1.2.2008
  • 1,0 % zum 1.10.2008 und
  • 0,5 % zum 1.3.2009

Außerdem sollte die Wochenarbeitszeit

  • ab 1.7.2008 auf 39,5 Stunden und
  • ab 1.1.2009 auf 40 Stunden

verlängert werden.

Die Gewerkschaften wiesen dieses Angebot als Provokation zurück. Das Entgeltangebot sei bei einer Laufzeit von 24 Monaten viel zu gering, außerdem sollten die Beschäftigten es mit einer Arbeitzeitverlängerung größtenteils selbst finanzieren. Die angeblichen 5 % würden überdies geschmälert, da für 2008 und 2009 jeweils 0,5 % davon auf ein höheres Volumen für das Leistungsentgelt entfallen sollten - eine Zahlung, die nicht allen Beschäftigten zugute käme.

In der dritten Verhandlungsrunde am 11./12. Februar besserten die Arbeitgeber ihr Angebot nicht nach. Darauf reagierten die Gewerkschaften mit einer massiven Warnstreikwelle vom 14. bis 22.2., die jeden Tag einen anderen inhaltlichen Schwerpunkt hatte, von Krankenhäusern über Verwaltungen, Kindertagesstätten bis hin zum Nahverkehr und der Ver- und Entsorgung, und alle Bundesländer einbezog. Es beteiligten sich rund 200.000 Beschäftigte. Nachdem auch die vierte Verhandlungsrunde am 25./26.2. ohne Ergebnis blieb, folgte eine zweite noch stärkere bundesweite Warnstreikwelle vom 4. bis 6.3. mit rund 230.000 Beteiligten, die auch die Flughäfen mit einbezog. Die fünfte Verhandlungsrunde am 6./7.3. führte schließlich zum Scheitern, nachdem die Arbeitgeber eine Verbesserung ihres Angebots erneut von einer Verlängerung der Arbeitszeit abhängig gemacht und zu diesem Zweck auch die tariflichen Arbeitszeitbestimmungen zum 30.4.2008 gekündigt hatten.


Nach dem Scheitern der Verhandlungen riefen die Arbeitgeber die Schlichtung an, die unter Leitung des früheren baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth (CDU) und des langjährigen Hannoveraner Oberbürgermeisters Herbert Schmalstieg (SPD) stattfand. Der Schlichtungsvorschlag, der mit den Stimmen von Lothar Späth und der Arbeitgebervertreter zustande kam, sah vor:

  • eine Tariferhöhung um 4,0 % im Westen zum 1.4. , im Osten zum 1.8.,
  • eine weitere Anhebung um 2,0 % ab 1.1.2009,
  • eine Einmalzahlung von 450 € zum April 2008 für die Entgeltgruppen 1- 8 sowie 450 € für alle Beschäftigten im Juli 2009
  • Verlängerung der Arbeitszeit im Westen auf 39,5 Stunden.

Nach der Vorlage des Schlichtungsvorschlages nahmen die Tarifparteien am 29.3. die Verhandlungen wieder auf. Die Gewerkschaften lehnten den Schlichtungsvorschlag ab. Er biete auf die Laufzeit umgerechnet und unter Berücksichtigung der Arbeitszeitverlängerung nicht einmal einen Inflationsausgleich. Die angebotenen Einmalzahlungen seien zudem nicht tabellenwirksam. Für größere Teile des öffentlichen Dienstes würde daher im Jahr 2008 der Reallohnverlust fortgeschrieben. Die vorgeschlagene Verlängerung der Arbeitszeit werde zu Stelleneinsparungen führen. Dies sei bei der hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland kontraproduktiv. Unter dem Druck eines drohenden Streiks gelang nach dreitägigen Verhandlungen am 31.3. eine Einigung.

Ergebnisse
Die Ergebnisse beziehen sich sowohl auf die Tarifentgelte als auch auf die Arbeitszeitbestimmungen. In einigen Punkten wurden auch Sonderegelungen für einzelne Bereiche des öffentlichen Dienstes getroffen:

Entgelt:
 

  • vorab 50 € Erhöhung (das entspricht im Durchschnitt der Entgeltgruppen einer Erhöhung um 2,0 %)
  • Erhöhung der Tarifentgelte um 3,1 % ab 1.1.2008; in den Gemeinden Ost jeweils ab 1.4.2008)
  • 2,8 % Stufenerhöhung ab 1.1.2009
  • 225 € zusätzliche Einmalzahlung im Januar 2009
  • Erhöhung der Auszubildendenvergütung um 70 € in allen Ausbildungsjahren
  • Laufzeit bis 31.12.2009.

Ost/West-Niveau
 

  • Bund Ost: Vorziehen der Anpassung von 92,5 auf 100 % des Westniveaus für die Entgeltgruppen 10-15 vom 1.1.2010 auf den 1.4.2008 (aus Abschluss 2003: Anpassung des Tarifniveaus der Entgeltgruppen 1-9 von 92,5/97 % (Bund/Gemeinden) auf 100 % des Westniveaus ab 1.1.2008).

Arbeitszeit
 

  • Gemeinden West: Verlängerung der Wochenarbeitszeit von 38,5 auf 39 Std./W. ab 1.7.2008, ansonsten unveränderte Wochenarbeitszeit Bund West und Ost: 39 Std., Gemeinden Ost:  40 Std.
  • Wegfall der Öffnungsklausel mit der Möglichkeit der Verlängerung der Arbeitszeit auf bis zu 40 Std./Woche durch landesbezirklichen Tarifvertrag und Anpassung der auf dieser Grundlage geschlossenen Tarifverträge an die neue Arbeitszeit-Regelung (abweichende Regelung für den Arbeitszeit-Tarifvertrag Niedersachsen).
  • Verwendung von 2,5 Arbeitstagen für Zwecke der Vorbereitung und Qualifizierung im Erziehungsdienst.

Sonstiges:
 

  • Hinwirken der Tarifparteien auf die befristete Übernahme Ausgebildeter für 12 Monate, jedoch nicht bei Ausbildung über den Bedarf hinaus.
  • Für die Bereiche Krankenhäuser, Nahverkehr und Versorgung wurden Sonderregelungen getroffen.
  • Die bereits vereinbarten Änderungen und Ergänzungen zum TVöD werden zum 1.7.2008 in Kraft gesetzt.

Die ver.di-Bundestarifkommission (BTK) nahm am 31. März in Potsdam mit 64 zu 25 Stimmen die Tarifeinigung an. Ver.di führte vom 1. bis 11.4. eine breit angelegte Mitgliederbefragung durch, die zur Diskussion des Tarifergebnisses und zugleich für eine intensive Mitgliederwerbung genutzt werden sollte. Bei dieser Befragung sprachen sich 76,5 % der Mitglieder für die Annahme des Tarifergebnisses aus.


Der Abschluss wurde von den Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes sehr positiv bewertet. Insbesondere Struktur und Volumen der Entgelterhöhung wurden herausgestellt. Die Verlängerung der Arbeitszeit wurde als vertretbares Zugeständnis gewertet. Nach Auffassung von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble ist man an die Grenze des haushaltsmäßig und gesamtwirtschaftlich Machbaren gegangen. "Aber es galt, im gesamtstaatlichen Interesse dem Land lange und harte Arbeitskämpfe zu ersparen." (Erklärung vom 31.3.2008); ähnlich die kommunalen Arbeitgeber, die die Einigung als "schmerzhaften Kompromiss" ansahen, der nur zu rechtfertigen gewesen sei, um einen Streik mit all seinen wirtschaftlichen und sozialen Beeinträchtigungen zu vermeiden (Presseerklärung vom 31.3.2008).

Quelle: WSI-Tarifbericht 1. Halbjahr 2008

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrem Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen