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Systemrelevant Folge 205 Podcasts

Systemrelevant Podcast: Die Lohnentwicklung in der EU 2023/2024

Wie haben sich die Reallöhne der Beschäftigten in der EU im letzten Jahr entwickelt - und wie ist Prognose für das laufende Jahr? WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch und Thilo Janssen berichten von den wichtigsten Erkenntnissen aus dem Europäischen Tarifbericht 2023/2024.

[26.08.2024]

Der Europäische Tarifbericht erscheint jährlich und hat zum Ziel, die ökonomischen Rahmenbedingungen für Tarifpolitik, wie das Wirtschaftswachstum, die Arbeitslosigkeit und die Produktivitätsentwicklung, in der EU zu analysieren. Vor diesem Hintergrund wird betrachtet, wie sich die Reallöhne entwickelt haben. Der Begriff Reallohn bezieht mit ein, dass sich die Kaufkraft nicht allein vom Nominallohn bestimmt wird, sondern auch von der Inflation - so kann bestimmt werden, was die Beschäftigten tatsächlich im Portemonnaie haben und was sie von ihrem Lohn kaufen können.

Thilo Janssen, der den diesjährigen Bericht gemeinsam mit Malte Lübker verfasst hat, spricht mit Blick auf den Berichtszeitraum von einer Kaufkraftkrise: zwar hätten sich die Nominallöhne seit Ende der Pandemie stark erhöht, die Reallöhne seien aber aufgrund der angestiegenen Verbraucherpreise im Durchschnitt trotzdem gesunken.
Bettina Kohlrausch, Leiterin des WSI, betont den Effekt dieser Entwicklungen auf die unteren Einkommensgruppen:

Das ist schon sehr lang eine dauerhafte Krise, wo gerade die unteren Einkommensgruppen auch schon jetzt über lange Zeit unter Druck stehen. Und wir haben auch oft drüber geredet, dass das eben ganz grundsätzliche Folgen hat für Vertrauen in staatliche Institutionen, Vertrauen in Demokratie usw., Sorgen um den sozialen Zusammenhalt, Sorgen um die soziale Ungleichheit. Also es hat einen destabilisierenden Effekt, der weit über die rein finanziellen Fragen hinausgeht.

Bettina Kohlrausch

Im europäischen Vergleich bewegt sich Deutschland im Mittelfeld - auffällig ist z.B. Belgien, wo Reallohngewinne von 5,3% zu verzeichnen sind. Das liegt daran, dass durch das System der Lohnindexierung die Tariflöhne automatisch an die Inflation angepasst werden. Anders ist die Situation in den meisten osteuropäischen Staaten, wo es Inflationsraten zwischen 10 und 20% gab und es trotz starker Nominallohnsteigerungen teilweise immer noch zu Reallohnverlusten kam. Dass gestiegene Löhne eine Preissteigerung im Sinne einer Lohn-Preis-Spirale bewirken, ist also eine Phantomdiskussion. Viel mehr als gestiegene Löhne beeinflussten in dem Zeitraum überdurchschnittlich stark gestiegene Unternehmensgewinne die Binneninflation.

Die Prognose für das laufende Jahr deutet darauf hin, dass diese zusätzlichen Gewinne wieder sinken, die Reallöhne sich ins Positive bewegen und die Inflation so nicht weiter angetrieben wird. Trotz dieser positiven Prognose erinnert Thilo Janssen daran, dass die vorangegangene Krise dauerhafte wirtschaftliche Schäden am Wohlstand der Beschäftigten verursacht hat und die Kaufkraft dadurch dauerhaft niedriger ist, als es bei einer normalen Entwicklung zu erwarten gewesen wäre:

Was das bedeutet, ist, dass der von Beschäftigten und Gewerkschaften konstatierte Nachholbedarf bei den Löhnen tatsächlich real ist. Also es gibt wirklich etwas aufzuholen, auch vor dem Hintergrund der starken Entwicklung der Unternehmensgewinne im gleichen Zeitraum.

Thilo Janssen

Bettina Kohlrausch verweist darüber hinaus auf die gesamtgesellschaftlichen Folgen fehlender materieller Teilhabe. Fehle diese, fehle oft auch das Vertrauen in die  Demokratie und die EU - und das schade sowohl der Gesellschaft als auch ihrer Wirtschaft. Thilo Janssen ergänzt, dass dies auch eine Gefahr für die EU darstellt, da Einkommensunterschiede der Beschäftigten in verschiedenen Ländern zur Spaltung zwischen den Ländern beitragen - ein Beispiel dafür sind die von der Inflationskrise überdurchschnittlich betroffenen osteuropäischen Länder. Außerdem prägen die Erschütterungen der finanziellen Sicherheit die Biografien der Menschen und haben somit einen dauerhaften Effekt, obwohl sich die Prognose ab 2024 aufgehellt hat.

Moderation: Marco Herack

Alle Informationen zum Podcast

In Systemrelevant analysieren führende Wissenschaftler:innen der Hans-Böckler-Stiftung gemeinsam mit Moderator Marco Herack, was Politik und Wirtschaft bewegt: makroökonomische Zusammenhänge, ökologische und soziale Herausforderungen und die Bedingungen einer gerechten und mitbestimmten Arbeitswelt – klar verständlich und immer am Puls der politischen Debatten.

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