Quelle: WSI
TarifarchivTarifrunde 2009: Sozial- und Erziehungsdienst
Im Sozial- und Erziehungsdienst kam es 2009 zu einem lang anhaltenden Tarifkonflikt um die Einkommensgestaltung und Fragen der Arbeitsbedingungen und Gesundheitsbelastungen. Ausgangspunkt des Einkommensstreits war die Vereinbarung des neuen Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst (TVöD) im Jahr 2005 und des Tarifvertrages für die Länder (TV-L) im Jahr 2006: Hier stand die Vereinbarung einer neuen Entgeltordnung (EGO) noch aus, die die allgemeinen Tätigkeitsbeschreibungen zu den vereinbarten tariflichen Entgeltgruppen enthalten soll.
Trotz verschiedener Anläufe waren die Tarifparteien hier von einer Einigung noch weit entfernt. In der Tarifrunde 2008 hatten die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes und die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) vereinbart, über die Eingruppierung für die rund 200.000 Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst vorab zu verhandeln, die Entgeltordnung der anderen Berufe des öffentlichen Dienstes sollte parallel verhandelt werden.
Forderungen, Verhandlungen, Streik
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft hatten im Vorlauf zu den Tarifverhandlungen eine Kampagne "Chancen fördern, Anerkennung fordern" gestartet und ihre Forderungen auch mit entsprechenden Expertisen (GEW 2007) begründet. Sie forderten im Kern eine erheblich verbesserte Eingruppierung der verschiedenen Beschäftigtengruppen des Sozial- und Erziehungsdienstes, so z.B.:
- Kinderpfleger/-innen, Sozialassistent/-innen, Familien- und Sozialhelfer/-innen: Entgeltgruppe (EG) 7 statt bisher EG 3
- Erzieher/-innen, Heilerzieher/-innen und Heilerziehungspfleger/-innen: EG 9 statt EG 6; derselbe Personenkreis mit besonderen Anforderungen und Qualifikationen: EG 10
- Sozialarbeiter/-innen, Sozialpädagog/-innen, Heilpädagog/-innen: EG 10
- Fachberatung und Leitungstätigkeiten: EG 10 bis 13.
Die gesundheitlichen Belastungen speziell bei den Erzieher/-innen (siehe dazu GEW 2009) waren zwar seit Jahren Gegenstand der innergewerkschaftlichen Diskussion, sie verdichteten sich aber erst im Vorfeld der Tarifrunde zu einem konkreten Forderungspaket. Darin war enthalten: (1) ein individueller Anspruch auf jährliche Gefährdungsanalyse, (2) die Bildung einer paritätisch besetzten betrieblichen Kommission, die im Konfliktfall über Maßnahmen des Arbeitsschutzes und der Gesundheitsförderung entscheidet, sowie (3) die Möglichkeit zur Einrichtung von Gesundheitszirkeln.
Erst nach drei Verhandlungsrunden legten die Arbeitgeber am 30.3. ein erstes Einkommensangebot vor, das nach ihrer Auffassung eine deutlichere Spreizung bei der Eingruppierung und damit eine Entwicklungsmöglichkeit für Erzieher/-innen über 3 Entgeltgruppen vorsah. Dies bedeute Entgeltsteigerungen von bis zu 220 € monatlich. Zu den Fragen der Gesundheitsförderung machten die Arbeitgeber keine Angaben, weil sie dazu kein Verhandlungsmandat hätten. Die Gewerkschaften nannten das Tarifangebot "substanzlos" und bewerteten es als "Provokation". Sie begannen mit Protestaktionen: Am 21.4. fand ein erster bundesweiter Aktionstag statt, am 6.5. folgte ein erster Warnstreik, an dem sich nach Gewerkschaftsangaben bundesweit rund 20.000 Beschäftigte beteiligten. In einer Urabstimmung Mitte Mai sprachen sich knapp 90 % der ver.di-Mitglieder und fast 93 % der GEW-Mitglieder für reguläre Streikmaßnahmen aus. Der Arbeitskampf begann am 15.5. In den ersten Tagen beteiligten sich rund 45.000 Beschäftigte an Streikmaßnahmen. In der Öffentlichkeit gab es viel Sympathie und Unterstützung für das Anliegen der Beschäftigten und die Forderungen der Gewerkschaften.
Am 27.5. fand die nächste Verhandlungsrunde statt. Zuvor hatten die Gewerkschaften den Streik noch einmal ausgeweitet. Die Arbeitgeber legten erstmals einen Entwurf für tarifliche Regelungen zur Gesundheitsförderung vor. Verhandlungen auf dieser Basis lehnten die Gewerkschaften jedoch ab, weil den Beschäftigten keine über die geltenden Gesetze hinausgehenden individuellen oder kollektiven Rechte eingeräumt würden und der Vorschlag teilweise sogar hinter dem geltenden Recht zurückbliebe. Die Verhandlungen wurden zunächst abgebrochen, der Streik hingegen fortgesetzt. Allein an der zentralen Kundgebung am 15.6. in Köln nahmen 30.000 Beschäftigte teil. Am 9.6. und vom 15. bis 19.6. fanden die nächsten Verhandlungen statt. Die Arbeitgeber besserten beide Angebote nach und behaupteten, die Erzieher/innen würden dadurch bis zu 13,75 % mehr verdienen (VKA-Presseinformation vom 19.6.2009). Die Gewerkschaften hielten dem entgegen, dass das Angebot lediglich für 20 % der Erzieher/-innen gelte und gegenüber dem Stand von 1990 lediglich minimale Verbesserungen mit sich bringe, während 80 % der Beschäftigten leer ausgingen bzw. Verluste von mehr als 1.000 Euro im Jahr zu erwarten hätten (verdi-Tarifinformation vom 19.6.2009).
Die Gewerkschaften kündigten an, die Streikaktivitäten in der Sommerzeit auszusetzen, um die Eltern zu entlasten. Sie bilanzierten, dass sich fast 150.000 Beschäftigte des Sozial- und Erziehungsdienstes in den vergangenen Wochen bundesweit an den Streikaktivitäten beteiligt hätten. Am 16. und 17.7. wurden die Verhandlungen fortgesetzt und auf den 23.7. vertagt. Nach einem mehrtägigen Verhandlungsmarathon gelang dann am 27.7. die endgültige Einigung. Das Ergebnis beinhaltete im Wesentlichen folgende Punkte:
Entgelt
- Einführung einer neuen einheitlichen Entgelttabelle für alle Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst: 16 Entgeltgruppen von S 3 (Kinderpfleger/-in: 1.750 - 2.320 €) bis S 18 (Leiter/-in Erziehungsheim: 3.000 - 4.525 €) jeweils gegliedert in Grundentgelt (Stufen 1 - 2) und Entwicklungsstufen (Stufen 3 - 6).
- Finanzielle Verbesserungen zu den bis dahin bestehenden Eingruppierungsregelungen im neuen System.
- Überleitung in die neue Tabelle anhand des bisherigen Einkommens plus etwaiger Vergütungszulage.
Der Tarifvertrag sollte zum 1.11.2009 in Kraft treten, die neue Entgeltstruktur hat eine Mindestlaufzeit bis Ende 2014. Die Gewerkschaften quantifizierten die erreichten Verbesserungen mit verschiedenen Beispielrechnungen (ver.di-Pressemitteilung vom 27.7.2009, GEW Tarifinfo 7, Juli 2009):
- Neu eingestellte Erzieher/-innen erhalten statt bisher 2.130 € brutto künftig 2.240 €, das heißt 110 € mehr im Monat. Eine Erzieherin mit 18 Jahren Berufserfahrung erhält nun 2.864 €, das seien 390 € mehr
- Ein Sozialarbeiter im Allgemeinen Sozialen Dienst verdient als Berufsanfänger statt bisher 2.237 € künftig 2.500 €.
- Auch verglichen mit dem Gehalt bei Weitergeltung des alten BAT bekommt eine Erzieherin mehr und zwar monatlich durchschnittlich 22 €.
- Beschäftigte, die 2005 aus dem BAT übergeleitet wurden, erhalten Zuschläge, sodass sich dieser durchschnittliche Betrag auf rund 100 € erhöht.
Betriebliche Gesundheitsförderung
- Das Verhandlungsergebnis sieht tatsächlich einen individuellen Anspruch auf Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung vor. Diese erfolgt nach Maßgabe des Arbeitsschutzgesetzes, wobei die Beschäftigten in die Durchführung einzubeziehen sind. Sie sind über das Ergebnis von Gefährdungsbeurteilungen zu unterrichten und vorgesehene Maßnahmen sind mit ihnen zu erörtern. Wenn betroffene Beschäftigte den vorgesehenen Maßnahmen widersprechen, ist eine betriebliche Kommission damit zu befassen.
- Auf Antrag des Personal-/Betriebsrats wird beim Arbeitgeber eine betriebliche Kommission gebildet, deren Mitglieder je zur Hälfte vom Arbeitgeber und vom Personal- bzw. Betriebsrat benannt werden. Die Mitglieder müssen Beschäftigte des Arbeitgebers sein. Die betriebliche Kommission befasst sich mit evtl. Widersprüchen der Beschäftigten und kann Vorschläge zu den zu treffenden Maßnahmen machen. Der Arbeitgeber führt die Maßnahmen durch, wenn die Mehrheit der vom Arbeitgeber benannten Mitglieder der betrieblichen Kommission im Einvernehmen mit dem Arbeitgeber dem Beschluss zugestimmt hat.
- Die betriebliche Kommission kann zeitlich befristet Gesundheitszirkel zur Gesundheitsförderung einrichten, deren Aufgabe es ist, Belastungen am Arbeitsplatz und deren Ursachen zu analysieren und Lösungsansätze zur Verbesserung der Arbeitssituation zu erarbeiten. Sie berät über Vorschläge der Gesundheitszirkel und unterbreitet, wenn ein Arbeitsschutzausschuss gebildet ist, diesem, ansonsten dem Arbeitgeber, Vorschläge. Die Ablehnung eines Vorschlags ist durch den Arbeitgeber zu begründen.
Ver.di sprach insgesamt von einem "respektablen Ergebnis" mit dem ein "Einstieg in die Aufwertung" der Sozial- und Erziehungsdienste erreicht worden sei. Erstmals sei im öffentlichen Dienst ein Tarifvertrag Gesundheitsförderung abgeschlossen worden. Ver.di habe sich in wesentlichen Punkten durchgesetzt. Die GEW sprach von einem Ergebnis, das beiden Seiten viel abverlangt habe: Den Gewerkschaften, weil es hinter den großen Erwartungen der Beschäftigten zurückbleibt und der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA), weil es in Zeiten, in denen durch die Finanzkrise die Steuereinnahmen zurückgehen, eine beträchtliche Steigerung der Personalkosten mit sich bringt. Die kommunalen Arbeitgeber wiesen darauf hin, dass der Abschluss die Kommunen jährlich zwischen 500 und 700 Millionen € koste. "Die finanzielle Mehrbelastung sei für die Kommunen eine "harte Nuss" (VKA-Presseinformation vom 27.7.2009).
In einer zweiten Urabstimmung stimmten 55 % der ver.di-Mitglieder dem Tarifergebnis zu. Das zeigt, dass es in erheblichem Umfang Unzufriedenheit bei den Mitgliedern gab.1 Bei der GEW betrug die Zustimmung immerhin 84 %. Die Gewerkschaften werteten dieses Ergebnis als Auftrag, die Thematik in Zukunft unbedingt weiter zu verfolgen.
Quelle: WSI-Tarifbericht 2009
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1 Vgl. z.B. die Kritik des Netzwerks für eine kämpferische und demokratische ver.di: "Dafür haben wir nicht gestreikt", Flugblatt vom 30.7.2009 (pdf). Kernpunkt der Kritik ist, dass dieser Abschluss unterhalb des alten BAT- Niveaus bleibe, wenn man unterstellt, dass es bei Beibehaltung des BAT vergleichbare Tariferhöhungen wie beim TVöD gegeben hätte.