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Tarifrunde 2005: Stahlindustrie

Die Tarifrunde in der Stahlindustrie fällt unterschied sich deutlich von den anderen Runden: Die ökonomische Situation und die weiteren Aussichten der Branche sind glänzend, die Gewerkschaften sahen sich demzufolge in einer guten Verhandlungsposition und die Beschäftigten waren angesichts eher zurückhaltender Abschlüsse in der Vergangenheit sehr wohl bereit, aktiv für die gewerkschaftlichen Forderungen einzutreten.

Der Tarifabschluss des Jahres 2003 hatte eine Tariferhöhung von 1,7 % ab Januar 2004 und weitere 1,1 % ab November desselben Jahres bis Ende März 2005 vorgesehen.

Die IG Metall stellte für die Stahlindustrie die mit Abstand höchste Forderung der Tarifrunde auf: Sie verlangte eine Anhebung der Tariflöhne und -gehälter um 6,5 % bei einer Laufzeit von 12 Monaten. Außerdem sollte eine "ergebnisorientierte Beratung" von Konzepten zur Beschäftigungssicherung und Innovationsentwicklung erfolgen. Die Stahlarbeitgeber reagierten erwartungsgemäß heftig: Die Forderung lasse "jedes vernünftige Augenmaß vermissen". Die sehr zyklisch verlaufende Branchenkonjunktur erlaube es nicht, die momentan günstige Situation zur Grundlage eines Abschlusses zu machen. Die Beschäftigten seien in vielen Unternehmen  durch betriebliche Sondervergütungen bereits am Erfolg beteiligt worden.

In der 1. Verhandlungsrunde am 17.3. tauschten die Tarifparteien vor allem die gesamt- und stahlwirtschaftlichen Einschätzungen aus. In der 2. Runde am 7.4. konzentrierte sich die Diskussion auf die wirtschaftliche Situation in den einzelnen Stahlunternehmen. Ein Angebot legten die Arbeitgeber noch nicht vor. Dies erfolgte erst in der 3. Verhandlungsrunde am 14.4. Die Arbeitgeber boten an:

  • Einmalzahlung von 500 €, in zwei Teilbeträgen: 300 € im Mai 2005 und 200 € im Februar 2006,
  • Anhebung der Löhne und Gehälter um 1,9 % ab April 2005 mit einer Laufzeit von 19 Monaten bis Oktober 2006.

Die IG Metall lehnte das Angebot als "völlig inakzeptabel" ab. Es habe mit der Branchensituation nichts zu tun und sei im Wesentlichen politisch motiviert. Vor der nächsten Runde rief die IG Metall zu Warnstreiks auf. Am 19. und 20.4. beteiligten sich rund 19.000 Beschäftigte an Protestaktionen, am 29.4. noch einmal rund 20.000. Unter dem Eindruck dieser Kampfmaßnahmen besserten die Arbeitgeber in der Runde am 3.5. nach: Sie boten eine Erhöhung um 2,4 % und stockten die Einmalzahlung auf 800 € auf. Die IG Metall lehnte das Angebot mit Verweis auf die "boomhafte Situation" in der Stahlindustrie ab.  Insbesondere kritisierten sie die angestrebte "Wende" in der Tarifpolitik der Arbeitgeber, die den Beschäftigten keine dauerhafte Beteiligung an den erreichten Produktivitäts- und Gewinnsteigerungen mehr einräumen wollte. Um den Druck auf die Arbeitgeber zu erhöhen, erklärte die IG Metall das Scheitern der Verhandlungen und setzte die Durchführung einer Urabstimmung vom 13. bis 19.5. an.

Noch vor Beginn der Urabstimmung kam es am 10. und 11.5. noch einmal zu Tarifverhandlungen, in deren Verlauf die Arbeitgeber ihr Angebot noch zweimal nachbesserten. Schließlich wurde folgendes  Ergebnis vereinbart:
 

  • Für die Monate April bis August 2005 wird eine Pauschale von insgesamt 500 € gezahlt.
  • Die tariflichen Löhne und Gehälter werden ab September 2005 für 12 Monate um 3,5 % erhöht.
  • Entsprechend einer Vereinbarung aus 2003 erhalten Auszubildende lediglich einen Betrag von insgesamt 100 € bei gleich bleibenden Ausbildungsvergütungen, da sich die Arbeitgeber verpflichtet hatten, zusätzliche Ausbildungsplätze einzurichten.

Außerdem wurde vereinbart, eine Arbeitsgruppe einzurichten, die sich mit Fragen der Innovationsentwick-lung und der Beschäftigungssicherung befassen soll. Die Tarifkommission (70 Stimmberechtigte) nahm das Ergebnis mit großer Mehrheit (9 Gegenstimmen) an. IG Metall-Bezirksleiter Detlef Wetzel zeigte sich "sehr zufrieden". Es gebe keine Branche, " die auch nur annähernd ein so gutes Ergebnis erzielt" habe. Der Versuch, die Tarifanhebung auf einen Ausgleich der Preissteigerungsrate zu begrenzen sei abgewehrt worden. IG Metall-Vorsitzender Peters kommentierte das Ergebnis mit den Worten: "Die Jahre des Verzichts sind vorbei." Der zweite Vorsitzende der IG Metall, Berthold Huber, bezeichnete die Einigung als "Erfolg gegenüber dem Shareholder-Kapitalismus".
Angesichts dieser Zufriedenheit kann die Enttäuschung auf Arbeitgeberseite nicht verwundern. Der Vorsitzende des Arbeitgeberverbandes Stahl, Helmut F. Koch, nannte den Abschluss ausdrücklich "kein(en) Kompromiss, wie er üblicherweise am Ende einer Tarifauseinandersetzung stehen sollte". Weder die Struktur noch die Höhe des Abschlusses seien "ökonomisch ratsam". Positiv sei lediglich die relativ lange Laufzeit. Zugestimmt habe man vor allem wegen der Eskalation des Tarifkonflikts durch die IG Metall. Gesamtmetallpräsident Kannegießer sprach von einem "überhöhten" und BDA-Präsident Dieter Hundt von einem "erpressten Abschluss".

In den Medien wurde der Abschluss überwiegend als "stahltypisch" (Westfälische Rundschau) und als "taktischer Sieg" (Rheinische Post) charakterisiert. Die FAZ beklagte den "teuren Frieden" und das Handelsblatt sah in dem Abschluss eine "gefährliche Versuchung" für die Tarifrunde 2006 in der Metall- und Elektroindustrie.

Ostdeutschland und Saarland
Für die ostdeutsche Stahlindustrie hatte die IG Metall dieselben Forderungen gestellt. Die Tarifkommission stellte am 9.5. zwar das Scheitern der Tarifverhandlungen fest, aber nach der westdeutschen Tarifeinigung forderte die IG Metall die Übernahme des Ergebnisses. Die Tarifverhandlungen wurden am 19.5. in Berlin fortgesetzt und endeten mit einer Übernahme des West-Ergebnisses. Im Saarland liefen die Verträge zum Ende Juni aus. Die IG Metall forderte 6,5 % höhere Tarife und eine Verkürzung des Laufzeit-Abstandes zum Tarifgebiet Nordrhein-Westfalen, Bremen, Niedersachsen, der zurzeit drei Monate beträgt. Am 4.7. einigten sich die Tarifparteien wie folgt: Arbeiter und Angestellte erhalten für die Monate Juli 2005 bis Januar 2006 pauschal jeweils 100 Euro pro Monat. Ab dem 1.2.2006 steigen die Einkommen für alle Beschäftigten um 3,5 % mit einer Laufzeit bis zum 30.11.2005.

Auszug aus: WSI-Tarifbericht 1. Halbjahr 2005

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