Quelle: HBS
Tarifarchiv: Basiswissen für Einsteiger
Was ist ein Tarifvertrag? Wer hat Anspruch auf tarifliche Leistungen? Das Wichtigste zum Tarifsystem kurz und knapp für Einsteiger.
Tarifverträge legen verbindliche Standards für alle wichtigen Arbeitsbedingungen fest. Dazu gehören Löhne und Gehälter, Ausbildungsvergütungen, Sonderzahlungen wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld, die wöchentliche Arbeitszeit, der Urlaubsanspruch, Kündigungsfristen und vieles andere.
Tarifverträge werden in der Regel zwischen einer Gewerkschaft als Vertreterin der Arbeitnehmer:innen und einem Arbeitgeberverband abgeschlossen. Sie heißen deshalb auch Verbandstarifverträge. Formal gelten sie nur für Gewerkschaftsmitglieder in Unternehmen, die ihrerseits Mitglied des jeweiligen Arbeitgeberverbandes sind. Trotzdem wenden die meisten tarifgebundenen Unternehmen die Bedingungen eines Tarifvertrages auch auf Beschäftigte an, die nicht gewerkschaftlich organisiert sind. Tarifverträge zwischen einer Gewerkschaft und einem einzelnen Unternehmen nennt man Haus- oder Firmentarifverträge.
Typisch für Deutschland – wie auch für viele andere europäische Länder – sind (Verbands-)Tarifverträge für ganze Branchen, die deshalb auch Flächentarifverträge genannt werden. Für mehr als 250 Wirtschaftszweige gibt es solche Abkommen. Dazu gehören große Branchen wie die Metall- und Elektroindustrie, die Chemieindustrie oder der öffentliche Dienst, aber auch kleinere Bereiche wie der Garten- und Landschaftsbau, die Schuhindustrie oder die privaten Rundfunkanstalten. Firmentarifverträge gibt es beispielsweise für Volkswagen, die Lufthansa, die Mineralölunternehmen und für zahlreiche kleinere Unternehmen.
Insgesamt gelten in Deutschland zurzeit mehr als 80.000 Tarifverträge. Jährlich werden zwischen 5.000 und 6.000 von ihnen erneuert. Lohn- und Gehaltstarifverträge haben eine durchschnittliche Laufzeit von etwa zwei Jahren. Rahmen- und Manteltarifverträge, die allgemeine Arbeitsbedingungen regeln, werden in größeren Abständen neu verhandelt.
Tarifverträge regeln den Arbeitsmarkt, indem sie als Kollektivverträge verbindliche Vorgaben für die individuellen Arbeitsverträge machen. Damit sollen die in der Regel sehr ungleichen Verhandlungspositionen zwischen dem einzelnen Beschäftigten und dem Unternehmen ausgeglichen werden. Der Preis für die Arbeit wird auf diese Weise der möglichen Konkurrenz der Arbeitnehmer:innen untereinander zumindest teilweise entzogen.
Tarifverträge erfüllen also eine Schutzfunktion für die abhängig Beschäftigten. Sie sorgen des Weiteren dafür, dass diese an der wirtschaftlichen Entwicklung teilhaben (Verteilungsfunktion) und ermöglichen ihnen insgesamt eine Beteiligung an der autonomen Regelung der Arbeitsbedingungen (Gestaltungsfunktion).
Tarifverträge nutzen jedoch nicht nur den Beschäftigten: Aus Arbeitgebersicht übernehmen die Tarifverträge eine Kartellfunktion und schaffen dadurch einheitliche Wettbewerbsbedingungen bei den Arbeitskosten. Bei einer entsprechend hohen Tarifbindung verhindert dies Wettbewerbsverzerrungen durch Lohndumping. Hinzu kommt ihre Befriedungsfunktion: Während der Laufzeit eines Tarifvertrages besteht eine Friedenspflicht. Das heißt, dass nicht gestreikt werden darf. Die Unternehmen erhalten durch die Verträge eine gesicherte Planungs- und Kalkulationsgrundlage. Bei Verbands- oder Flächentarifverträgen kommt hinzu, dass der Konflikt um Löhne und Arbeitszeiten von den Betrieben ferngehalten und auf die Verbände verlagert wird.
Für den Staat ist mit einem funktionierenden Tarifvertragssystem eine wirkungsvolle Entlastungsfunktion verbunden, da die Tarifvertragsparteien konkrete Arbeitsbedingungen ohne staatliche Eingriffe autonom regeln. Der Staat regelt lediglich bestimmte Mindestbedingungen wie z.B. mit dem Mindestlohn- oder dem Arbeitszeitgesetz.
Wenn bereits ein Tarifvertrag besteht, steht am Anfang von neuen Tarifverhandlungen die fristgerechte Kündigung des laufenden Tarifvertrages durch die Gewerkschaft. Diese übermittelt dem Arbeitgeberverband ihre Tarifforderungen, die sie nach einer breiten Diskussion der Gewerkschaftsmitglieder in den Betrieben beschlossen hat. Die Verhandlungen werden von Tarifkommissionen geführt, in denen auf gewerkschaftlicher Seite neben hauptamtlichen Gewerkschaftsfunktionären Mitglieder aus verschiedenen Betrieben teilnehmen.
Besteht noch kein Tarifvertrag, so fordert die Gewerkschaft den Arbeitgeber zum Eintritt in Tarifverhandlungen auf. Dies ist häufig dann der Fall, wenn sich in einem tariflosen Betrieb genügend Beschäftigte einer Gewerkschaft angeschlossen haben, sodass diese ihrer Forderung nach einem Tarifvertrag notfalls mit der Androhung eines Streiks Nachdruck verleihen kann. Ziel ist in der Regel entweder der Abschluss eines Haustarifvertrages oder eines Anerkennungstarifvertrages, durch den die Bestimmungen eines Flächentarifvertrages im Betrieb Anwendung finden.
Tarifverhandlungen für neue Lohn- und Gehaltstarifverträge können bereits nach wenigen Verhandlungen zum Ergebnis führen, manchmal ziehen sie sich aber auch über Monate hin. Auch wenn es nach ergebnislosen Verhandlungen zu einem "tariflosen" Zustand kommt, gelten die alten Tarifverträge zunächst weiter (Stichwort "Nachwirkung").
Tarifabschlüsse in großen Branchen, wie z.B. der Metall- und Elektroindustrie, haben oft eine Orientierungs- und Pilotfunktion für die nachfolgenden Verhandlungen in anderen Wirtschaftszweigen.
Gelingt es den Tarifparteien alleine nicht, durch Verhandlungen zu einem Ergebnis zu kommen, können sie unabhängige Schlichter hinzuziehen. An deren Vorschläge sind sie allerdings nicht gebunden.
Die Gewerkschaften können während der Verhandlungen zu kurzen, befristeten Arbeitsniederlegungen (Warnstreiks) aufrufen. Nach Ablauf der Friedenspflicht sind auch reguläre (unbefristete) Streiks möglich. Voraussetzung dafür ist zumeist eine Zustimmung von mindestens 75 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder in einer Urabstimmung. Nach einem Streik stimmen sie auch über das erzielte Ergebnis ab.
Der Streik ist die wichtigste Voraussetzung für die praktische Wahrnehmung der "Tarifautonomie". Denn der Streik ist die einzige Möglichkeit der ArbeitnehmerInnen, Druck auf die Arbeitgeber auszuüben. Das Bundesarbeitsgericht hat einmal formuliert: "Tarifverhandlungen ohne das Recht zum Streik wären nicht mehr als kollektives Betteln".
In Deutschland wird vergleichsweise wenig gestreikt. In der internationalen Streikstatistik rangieren die deutschen Arbeitnehmer:innen im unteren Drittel.
Anspruch auf tarifliche Regelungen und Leistungen haben ausschließlich die Mitglieder der vertragsschließenden Gewerkschaft, die in einem tarifgebundenen Betrieb im jeweiligen Tarifbereich arbeiten.
Nicht-Gewerkschaftsmitglieder erhalten in einem tarifgebundenen Unternehmen in der Regel ebenfalls die Tarifleistungen, weil kein Arbeitgeber die nichtorganisierten Beschäftigten durch schlechtere Arbeits- und Einkommensbedingungen zum Gewerkschaftsbeitritt veranlassen möchte. Nicht-Mitglieder profitieren damit als "Trittbrettfahrer" von den Ergebnissen gewerkschaftlicher Tarifpolitik, ohne selbst dazu beizutragen. Einen Rechtsanspruch auf bestimmte Leistungen haben sie allerdings nicht, es sei denn, im individuellen Arbeitsvertrag wird ausdrücklich auf die Tarifverträge Bezug genommen.
Vielfach orientieren sich Unternehmen, die nicht im Arbeitgeberverband sind, auch an den Branchentarifen. Trotzdem sind die Arbeitsbedingungen in Betrieben mit einer unverbindlichen Orientierung am Branchentarif in der Regel deutlich schlechter als in Betrieben mit vollwertiger Tarifbindung, da die nicht-tarifgebundenen Betriebe nicht zur Einhaltung von Tarifverträgen verpflichtet sind.
Ausnahme: Wird ein Tarifvertrag für "allgemeinverbindlich" erklärt, dann gilt er für alle Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber im Tarifbereich. Durch Allgemeinverbindlichkeit (AVE) soll Schmutzkonkurrenz zwischen Unternehmen zulasten der Beschäftigten verhindert werden. Allerdings ist die AVE in Deutschland bislang nur relativ wenig verbreitet. In den letzten beiden Jahrzehnten wurden jährlich lediglich zwischen 1 und 3 Prozent aller neuen Branchentarifverträge allgemeinverbindlich erklärt.
In Deutschland arbeiten gut 50 Prozent der Arbeitnehmer:innen in Betrieben mit Tarifverträgen. Die Tarifbindung ist dabei je nach Branche sehr unterschiedlich: Während z.B. im öffentlichen Dienst und in einigen Industriebranchen nach wie vor für eine Mehrheit der Beschäftigten Tarifverträge gelten, arbeitet in vielen privaten Dienstleistungsbranchen nur noch eine Minderheit in tarifgebundenen Unternehmen. Zum Vergleich: Zur Jahrtausendwende betrug die Tarifbindung im Durchschnitt aller Branchen noch mehr als zwei Drittel. In Ländern wie Österreich, Frankreich und Italien gelten auch heute noch für fast alle Beschäftigten Tarifverträge.
"Tarifverträge sind zu starr und unflexibel. Im Zeitalter von Internet und Globalisierung brauchen wir flexible und individuelle Regelungen."
Beim Bundesarbeitsministerium werden pro Jahr zwischen 5.000 und 6.000 neue Branchentarifverträge und zwischen 3.000 und 4.000 neue Firmentarifverträge neu registriert. Das Tarifvertragswesen in Deutschland besteht demnach aus einem hochdifferenziertem Regelungssystem, das vielfältige branchen- und firmenspezifischen Lösungen ermöglicht.
"Die Tarifverträge müssen stärker Rücksicht auf wirtschaftlich schwache Unternehmen nehmen."
In fast allen großen Branchentarifverträgen gibt es zu diesem Zweck heute Öffnungsklauseln, die in bestimmten Situationen betriebliche Abweichungen ermöglichen. Aber Vorsicht: Nicht jede Unternehmenskrise kann durch Abweichungen vom Tarifvertrag behoben werden. Und: allzu viele Ausnahmen gefährden die Wirkung des Tarifvertrages insgesamt.
"Tarifverträge sind ein veraltetes Regelungsinstrument. Heute kann jede:r Arbeitnehmer:in die Arbeits- und Einkommensbedingungen selbst aushandeln."
Das gilt höchstens dann, wenn die Beschäftigten über knappe und stark gesuchte Spezialqualifikationen verfügen. Auf die Dauer und für die übergroße Mehrheit der Arbeitnehmer:innen gilt: Gemeinsames Auftreten und Verhandeln stärkt die Durchsetzungsfähigkeit gegenüber den Arbeitgebern und verhindert eine Ausspielen der Beschäftigten gegeneinander.
"Nationale Tarifverträge werden angesichts der wachsenden internationalen wirtschaftlichen Verflechtung wirkungslos."
Tatsache ist: Viele transnational aktive Konzerne versuchen, unterschiedliche Tarifstandards z.B. in den europäischen Ländern für sich auszunutzen. Um ein grenzüberschreitendes Tarifdumping zu verhindern, haben die Gewerkschaften deshalb begonnen, ihre Tarifpolitik in Europa zu koordinieren.
"Tarifverträge sollten nicht mehr als Rahmenbedingungen und Empfehlungen enthalten, die Details regeln die Betriebsparteien."
Bereits heute sind die betrieblichen Interessenvertretungen, Betriebs- und Personalräte, mit der Umsetzung tariflicher Rahmenregelungen stark gefordert. Die Erfahrung lehrt überdies: Betriebsräte sind nur begrenzt konflikt- und durchsetzungsfähig. Sie brauchen auch unabdingbare, verbindliche Tarifstandards. Im Übrigen: In gut 60 Prozent der Betriebe gibt es keine Betriebsräte!
"Tarifverträge sind allenfalls in den alten Industriebranchen noch sinnvoll. In den modernen Bereichen der ‚New Economy‘ von Informationstechnologie, Multimedia und E-Commerce haben sie keinen Platz."
Schon heute gelten für viele IT- und Software-Unternehmen Tarifverträge. IBM Deutschland, T-Systems und viele ihrer Konkurrenten sind tarifgebunden. Bei Amazon kämpfen die Beschäftigten für einen Tarifvertrag. Zu Recht, denn auch die Beschäftigten in diesem Bereich haben ein Interesse an verbindlichen Regeln und Mindeststandards für ihre Arbeits- und Einkommensbedingungen.
"Über kurz oder lang werden die Arbeitgeber durch anhaltende Tarif- und Verbandsflucht das bisherige Tarifsystem zum Einsturz bringen."
Die Tarifbindung ist in den vergangenen Jahren zweifellos merklich zurückgegangen. Doch noch immer unterliegt die Mehrheit der Beschäftigten geltenden Tarifverträgen. In manchen Fällen sind die Betriebe auch nach kurzer Zeit in die Tarifbindung zurückgekehrt. Vieles hängt davon ab, ob die Gewerkschaften auch in Zukunft genügend Mitglieder gewinnen können, um Tarifverträge durchsetzen zu können.
"Durch ihr beharrliches Festhalten an den überholten Tarifstrukturen gefährden die Gewerkschaften selbst am meisten die Tarifverträge."
Manches hat sich tatsächlich an der gewerkschaftlichen Tarifpolitik vorbei entwickelt, so z.B. die Gleitzeit oder auch die Leiharbeit. Aber die Gewerkschaften haben auch immer wieder selbst Vorschläge für eine Reform der Tarifverträge gemacht: für moderne Entgeltssysteme, für Weiterbildungsregeln, für beteiligungsorientierte Arbeitsformen, für individuelle Wahloptionen und mehr Zeitsouveränität der Beschäftigten. Längst nicht alles haben sie durchsetzen können, weil die Arbeitgeber sich dagegen gesperrt haben.
"Die Tarifpolitik sollte einen Beitrag zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland leisten. Gefordert ist eine moderate Tarifpolitik."
Dieses Rezept, das den Gewerkschaften seit langen Jahren empfohlen wird, greift zu kurz und ist deshalb falsch. Eine aktive Tarifpolitik, die mindestens für einen Ausgleich der steigenden Lebenshaltungskosten und für eine Teilhabe der Beschäftigten am Produktivitätsfortschritt sorgt, ist auch gesamtwirtschaftlich sinnvoll. Sie sorgt für die notwendige Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und verhindert eine grenzüberschreitende Lohnkonkurrenz zulasten der Arbeitnehmer:innen.
"Der alte Gegensatz von Kapital und Arbeit gehört der Vergangenheit an, die Tarifpolitik sollte sich an gemeinsamen Interessen orientieren."
Die Erfahrung – auch in jüngster Zeit – lehrt: Gerade in der Lohn- und Tarifpolitik sind die Interessen von Arbeitnehmer:innen und Arbeitgebern entgegengesetzt. Gewinninteressen der Unternehmen und Renditeansprüche der Shareholder schmälern zwangsläufig die Möglichkeiten der Einkommenserhöhung für die Arbeitnehmer:innen. Tarifverträge sind letztlich immer Kompromisse nach kontroversen, gelegentlich auch von Arbeitskämpfen begleiteten Verhandlungen.