Quelle: WSI
Reinhard Bispinck, 31.08.2022: Verabschiedung von Gudrun Linne
Gudrun Linne verlässt die Stiftung – nach über drei Jahrzehnten engagierter Arbeit in Forschungsförderung und Wissenschaftskommunikation. Als leitende Redakteurin hat sie maßgeblich dazu beigetragen, dass die WSI-Mitteilungen nach wie vor die herausragende Zeitschrift im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Gewerkschaften sind. Das WSI und die Hans-Böckler-Stiftung haben ihr außerordentlich viel zu verdanken.
Gudrun Linne geht von Bord. Nach rund 33 Jahren verlässt sie Ende August 2022 die Stiftung und es beginnt für sie die Phase, die wir gewöhnlich als Ruhestand bezeichnen. So viele Jahre bei einem Arbeitgeber, das gibt es heute nicht mehr so oft.
Bevor sie zur Stiftung kam, studierte Gudrun Linne Sozialwissenschaften an der Universität Göttingen und forschte als Diplom-Sozialwirtin am Soziologischen Seminar in Göttingen. Einer ihrer Schwerpunkte war die befristete Beschäftigung, ein schon damals heftig diskutiertes Thema der Arbeitsmarktpolitik. Bereits 1986 erschien ein Aufsatz von ihr dazu in den WSI-Mitteilungen. Gudrun ahnte damals vermutlich nicht, wie eng der Kontakt zu dieser Zeitschrift später werden sollte. Aus ihrer Forschungsarbeit entstand die Dissertation „Personalpolitische Funktionen, betriebspolitische und soziale Folgen befristeter Arbeitsverträge: Eine empirische Untersuchung und ihre Verwendung in der politischen Diskussion um das Beschäftigungsförderungsgesetz“, die 1991 veröffentlicht wurde.
Gudrun Linne hatte in ihren Jahren bei der Stiftung von 1989 bis 2022 nacheinander zwei Jobs, die durchaus miteinander verwandt sind: Sie leitete zunächst das Referat „Erwerbsarbeit im Wandel“ in der „FoFö“, der Abteilung Forschungsförderung, wo sie bis 2006 tätig war. Ihre Aufgabe war die Ausschreibung von Forschungsschwerpunkten, die Auswahl von Forschungsprojekten, die Einrichtung und die Betreuung von Projektbeiräten, die Begleitung der Projektdurchführung, die Bewertung und Abnahme der Projektergebnisse und schließlich die Mitarbeit beim Transfer der wissenschaftlichen Erkenntnisse in die politische Beratung, die gesellschaftliche Diskussion und gewerkschaftliche Strategiebildung. Diese Tätigkeiten erfordern nicht nur einen guten Überblick über die Wissenschafts- und Forschungslandschaft, sondern auch die Fähigkeit zu scharfer Analyse und zur konstruktiven Diskussion mit Forschenden und Beiratsmitgliedern aus Wissenschaft und Gewerkschaften sowie nicht zuletzt ein hohes Organisationstalent. Gudrun hat ihre Arbeit in der Forschungsförderung, so weiß ich aus vielen Gesprächen und auch aus eigener Erfahrung, mit sehr hohem Engagement, sehr zielorientiert und mit großer Sorgfalt geleistet. Das Themenspektrum war breit und die Zahl der von ihr betreuten Projekte immens. Dies zeigt auch die Liste von Veröffentlichungen aus diesen Jahren, die sie (mit)verantwortet hat bzw. in denen sie selbst geschrieben hat. Sie umfasst Themen wie Jugend, Arbeit und Interessenvertretung sowie flexible Arbeit und soziale Sicherheit, neue Wege zur Beschäftigung, Arbeit und Ökologie, Zukunft und Erwerbsarbeit, innovative Arbeitspolitik u. a. m.
Ihren zweiten Job bei der Stiftung trat Gudrun Linne im Februar 2006 an. Sie wechselte dazu ins WSI und war in den darauffolgenden 16 ½ Jahren die verantwortliche Redakteurin der WSI-Mitteilungen, davon viele Jahre als Alleinredakteurin. Sie übernahm eine wissenschaftliche Zeitschrift mit Tradition, die 1948 als statistisches Mitteilungsblatt des damaligen WWI gestartet war und sich längst zur renommierten Fachzeitschrift entwickelt hatte, die gleichermaßen auf Politik, Wissenschaft und Gewerkschaften als Lesepublikum zielte. Die WSI-Mitteilungen erschienen damals zwölf Mal im Jahr mit insgesamt rund 100 Beiträgen, darunter wissenschaftliche Aufsätze, Berichte aus Forschung und Praxis sowie Kommentare. Ein strammes Arbeitsprogramm, das für eine einzelne Redakteurin kaum zu stemmen war. In den folgenden Jahren vollzog sich bei den WSI-Mitteilungen ein stetiger Wandel, den Gudrun mit strategischem Weitblick, Durchhaltevermögen und gegebenenfalls auch Konfliktbereitschaft steuerte bzw. bewältigte.
Bereits 2006 geplant und eingeleitet wurde der Übergang zu einem Peer-Review-Verfahren für die Zeitschrift. 2009 war der Übergang der WSI-Mitteilungen zur referierten Zeitschrift vollzogen, alle wissenschaftlichen Aufsätze durchlaufen seitdem ein doppelt blindes Begutachtungsverfahren. Die WSI-Mitteilungen stehen damit im Wettbewerb mit zahlreichen anderen Fachzeitschriften. Die Umstellung war im WSI nicht unumstritten, aber rückblickend zeigt sich, dass die WSI-Mitteilungen dadurch für Wissenschaftler:innen auf dem Themenfeld „Arbeit-Wirtschaft-Soziales“ ein noch attraktiveres Publikationsorgan geworden sind. Das Peer-Review-Verfahren erforderte den Auf- und Ausbau eines breiten Kreises von wissenschaftlichen Expert:innen zur Begutachtung. Die Kommunikation zwischen Redaktion, Gutachter:innen und Autor:innen stellte neue, zusätzliche Anforderungen an Gudrun und die Redaktion. Eine wichtige Funktion hatte und hat dabei der wissenschaftliche Redaktionsbeirat, der für Gudrun eine Quelle produktiver Anregungen war und von dessen kritischer Evaluation der Heftplanung und -produktion sie sehr profitierte. Wer einmal die von ihr verfassten Protokolle der Beiratssitzungen gelesen hat, weiß, welch großer Nutzen, aber auch welcher Aufwand für die Redaktion mit der Tätigkeit des Beirats verbunden ist.
Gudrun Linne war eine strenge Redakteurin. Das habe ich als WSI-Forscher, der viel und gerne in den WSI-Mitteilungen veröffentlicht und eine Reihe von Schwerpunktheften organisiert hat, immer wieder erfahren. Das Überschreiten von Abgabeterminen oder das vermutete Nichteinhalten inhaltlicher Standards führten unweigerlich zu Mahnungen und Diskussionen. Das war im Einzelfall nicht immer angenehm, aber insgesamt sicherlich ein Teil des Erfolgsrezepts von Gudrun.
Das Internet ist natürlich an den WSI-Mitteilungen nicht vorbeigegangen. In Zeiten der raschen Digitalisierung war eine Ergänzung des Print-Produkts um ein Online-Version unbedingt erforderlich. Die Redaktion sorgte dafür, dass seit 2011 die Hefte im Netz zur Verfügung standen. Universitäts- und Institutsbibliotheken, aber auch Einzelnutzer:innen können seitdem online auf die Zeitschrift zugreifen. 2012 folgte der nächste Veränderungsschritt: Gudrun hatte schon länger für eine Reduktion der jährlichen Ausgaben plädiert. Nach intensiver Diskussion wurde die Zahl der Hefte von 12 auf 8 pro Jahr verringert. Das verschaffte der Redaktion mehr Luft und zielte vor allem auf Qualitätssicherung. Das Layout der Zeitschrift wurde komplett überarbeitet und das Online-Archiv ausgeweitet: Alle Beiträge ab 2002 sind seitdem im Netz abrufbar.
Im Jahr 2018 feierten die WSI-Mitteilungen ihren 70. Geburtstag. Gudrun organisierte eine Jubiläumsausgabe mit Beiträgen prominenter Autor:innen zu zentralen inhaltlichen Themenfeldern der Zeitschrift wie Arbeit, Arbeitsmarkt, Bildung, Gleichstellung, Gewerkschaften und Mitbestimmung und Sozialpolitik. Beiträge der Gewerkschaftsvorsitzenden Reiner Hoffmann (DGB), Jörg Hofmann (IG Metall) und Frank Bsirske (ver.di) rundeten das Heft ab.
Im selben Jahr begleitete Gudrun den Wechsel der WSI-Mitteilungen vom gewerkschaftlichen Bund-Verlag zum Nomos-Verlag, der insbesondere für die Verbreitung im Wissenschaftsbereich zweifellos noch bessere Voraussetzungen bietet. Zugleich wurde die Erscheinungsfolge auf sechs Hefte pro Jahr umgestellt. Im zweimonatlichen Rhythmus erscheinen seitdem drei freie Themenhefte und drei Schwerpunkthefte. In den letzten Jahren hat sich der Trend fortgesetzt, dass die Zahl der Print-Abos (leicht) zurückgeht, während die Online-Nutzung rapide wächst. (Kleine Randbemerkung: Auch wenn ich selbst den Online-Zugriff regelmäßig nutze, so hoffe ich doch, dass die Printausgabe noch lange überleben wird.)
Die Bilanz von über 16 Jahren: Gudrun Linne kann mit großem Stolz auf ihre Zeit als leitende Redakteurin zurückblicken. Sie hat 146 Hefte mit unglaublichen 1.286 Beiträgen betreut. Sie hat die vielfältigen und teils widersprüchlichen Anforderungen, die die Leitung einer Zeitschrift mit dem besonderen Charakter der WSI-Mitteilungen stellen, bravourös bewältigt. Sie hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die WSI-Mitteilungen nach wie vor die herausragende Zeitschrift im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Gewerkschaften sind. Das WSI und die Hans-Böckler-Stiftung haben ihr außerordentlich viel zu verdanken.
Reinhard Bispinck
noch etwas länger als Gudrun Linne beim WSI (1979-2017), darunter 28 Jahre als wissenschaftlicher Leiter des WSI-Tarifarchivs und vier Jahre als Abteilungsleiter des WSI