Quelle: WSI
WSI-MitteilungenKessl, Fabian / Schoneville, Holger : Die „neue Mitleidsökonomie“ – Symptom des wohlfahrtsstaatlichen Strukturwandels
DOI: 10.5771/0342-300X-2021-5-355
Seiten 355-363
Zusammenfassung
Die Entstehung und Ausbreitung von Tafeln, Suppenküchen, Kleiderkammern und Sozialkaufhäusern kann als die Etablierung eines neuen Systems der Armutslinderung interpretiert werden, das im vorliegenden Beitrag als „neue Mitleidsökonomie“ bestimmt wird. Aus wohlfahrtsstaatsanalytischer Perspektive ist diese Etablierung im 21. Jahrhundert ein Symptom des gegenwärtigen Strukturwandels des Sozialstaats. Die mitleidsökonomischen Hilfeleistungen werden aus dem sozialstaatlichen Kontext herausgelöst und sind nicht mehr über individuelle Anspruchsrechte vermittelt. Vielmehr wird die Hilfe maßgeblich durch die emotionale Anteilnahme im Modus von Mitleid moderiert, geht mit der Abhängigkeit von Freiwilligenarbeit und Spenden einher und ist zugleich durch ökonomische Interessen strukturiert. Aus gesellschaftsanalytischer Perspektive kann gezeigt werden, dass mit dem System eine spezifische Form der sekundären Integration einhergeht, die sich jedoch unter Bedingungen der Ausgrenzung realisiert.
Abstract
The emergence and expansion of food banks, soup kitchens as well as charity shops for clothing and furniture can be understood as the establishment of a new system of poverty alleviation, which the article describes as a “new charity economy”. From a welfare state analytical perspective, their establishment in the 21st century is a symptom of the current transformation of the welfare state. The charity economy is situated in the shadow of the welfare state context and is no longer mediated through individual rights. Rather, the support is largely moderated by compassion and pity, goes hand in hand with the dependence on volunteer work and donations and is at the same time dependent on economic interests. From a social analysis perspective, it can be shown that the system is accompanied by a specific form of secondary integration, which, however, takes place under the conditions of exclusion.