Quelle: WSI
WSI-MitteilungenSchmid, Günther : Eine europäische Arbeitslebensversicherung? Auf den Spuren des Revolutionärs Immanuel Kant
DOI: 10.5771/0342-300X-2022-4-304
Seiten 304-313
Zusammenfassung
Die Arbeitsmarktpolitik auf europäischer Ebene hat durch die Krisen der letzten Jahre wiederholt neue Impulse erhalten. Mit den Initiativen für eine europäische Arbeitslosenrückversicherung, einen europäischen Mindestlohn, eine europäische Jugendgarantie und – vor Kurzem – Europäische Sozialanleihen ist die EU mittlerweile eine arbeitsmarktpolitische Akteurin geworden, welche die nationalen Aktivitäten ergänzt oder unterstützt. Die Covid-19-Krise könnte ein Gelegenheitsfenster sein, den Europäischen Sozialfonds um bestimmte Elemente einer Europäischen Arbeitslebensversicherung weiterzuentwickeln. Das Ziel sollte nicht nur darin bestehen, in europäischer Solidarität auf zyklische oder pandemische Krisen des Arbeitsmarkts zu reagieren, sondern auch die nationalen Kapazitäten zu stärken, um Einkommensrisiken im gesamten Erwerbsverlauf abzusichern. Die Innovation dieses Essays besteht darin, die Grundzüge einer Arbeitslebensversicherung auf die revolutionäre Trias „Freiheit, Gleichheit, Selbstständigkeit“ von Immanuel Kant zurückzuführen. Kants Konzept der „bürgerlichen Selbstständigkeit“ – anstelle der „Solidarität“ – erweist sich als überaus fruchtbar, um ein institutionell fundiertes Grundrecht auf würdige Arbeit zu begründen.
Abstract
The crises of recent years have repeatedly given new impetus to labour market policy at the European level. With its initiatives for a European unemployment re-insurance scheme, a European minimum wage, a European Youth Guarantee, and – most recently – European Social Bonds the EU has become an actor in the field of labour market policy that complements or supports national activities. The Covid-19 crisis could be a window of opportunity to further develop the European Social Fund through certain elements of work-life-insurance. The aim should not only be to respond in European solidarity to cyclical or pandemic labour market crises, but also to enhance the national capacities for social protection against income risks during the whole work-life course. The innovation of this article is to argue for a work-life-insurance on the basis of Kant’s triad “freedom, equality, self-reliance”. Kant’s concept of “civic self-reliance” – instead of “solidarity” – turns out to be quite fruitful when arguing for a right to decent work based on sound legal institutions.