Mitbestimmung: Europa muss Arbeitnehmerrechte schützen
In der EU haben Unternehmen Möglichkeiten, die Mitbestimmung zu unterlaufen und andere soziale Rechte zu umgehen. Gesetzliche Lücken müssen geschlossen werden.
Die soziale Dimension Europas bleibt, auch nach der Einführung der „Säule sozialer Rechte“ durch die vorherige EU-Kommission, unvollendet. So fassen Maxi Leuchters vom I.M.U und andere Forscher die Ergebnisse eines Workshops beim vergangenen WSI-Herbstforum zusammen. Die EU, so die Wissenschaftler, weise eine asymmetrische Struktur auf: Die Unternehmen genießen die Vorzüge des einheitlichen Binnenmarkts, können aber „die Unterschiede der miteinander im Wettbewerb stehenden nationalen Gesellschaftsrechte für sich nutzen“. Initiativen zum Schutz der Unternehmensmitbestimmung oder zur Eindämmung von sogenannter Steuervermeidung von EU-Kommission, EU-Parlament und Ministerrat hätten sich bislang als „eher zahnlos“ erwiesen.
Nach wie vor können wachsende Unternehmen sich zum Beispiel der paritätischen Mitbestimmung entziehen, wenn sie vor Erreichen des Schwellenwerts von 2000 Beschäftigten die Rechtsform der Europäischen Aktiengesellschaft annehmen. Zukünftig wird es auch die Möglichkeit geben, den Satzungssitz von Unternehmen in einem geordneten Verfahren in ein anders EU-Land zu verlegen. Die auf EU-Ebene beschlossene Richtlinie sieht einen Schutz für vorhandene Mitbestimmungsrechte zwar vor – aber nur für vier Jahre. Die praktizierte „liberale Auslegung“ der Niederlassungsfreiheit lasse grundsätzlich auch die Gründung von Briefkastenfirmen zu. Solche „künstlichen Firmengestalten“ dienen häufig dazu, Mitbestimmungsrechte, Sozialgesetzgebung oder Steuergesetze zu umgehen, haben die Forscher beobachtet. Briefkastenfirmen würden auch genutzt, um Arbeitnehmer an andere, tatsächlich operativ wirtschaftende Firmen zu entsenden – zu schlechteren Bedingungen als dort üblich. Insgesamt führt ein Mangel an europäischer und nationaler Regulierung den Wissenschaftlern zufolge dazu, dass „gerade transnationale Unternehmen das durch die Politik gelassene Vakuum nutzen“. Dabei lägen geeignete Regulierungsvorschläge auf dem Tisch. So werden „europäische Standards für Information, Konsultation und Mitbestimmung benötigt, um die Unternehmensmitbestimmung zu schützen und zu stärken“, schreiben Leuchters und ihre Koautoren. Noch fehle jedoch der „politische Veränderungswille“. Die neue EU-Kommission, aber auch die nationalen Regierungen seien dringend gefordert.
Quelle
Maxi Leuchters, Jan Cremers, Valeria Pulignano, Sebastian Sick: Zusammenfassung des Panels „Lücken in der Wirtschaftsregulierung in Europa“ beim WSI-Herbstforum 2019