Quelle: WSI
WSI-MitteilungenJanssen, Thilo / Lübker, Malte : Europäischer Tarifbericht des WSI – 2022/2023: Inflationsschock lässt Reallöhne europaweit einbrechen
DOI: 10.5771/0342-300X-2023-4-280
Seiten 280-295
Zusammenfassung
Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die Tarifpolitik in der Europäischen Union sind aktuell geprägt durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, die Energiekrise und die rasant steigenden Verbraucherpreise. In der Folge sank die Kaufkraft der Löhne in der EU-27 im vergangenen Jahr um 4,0 % ; für 2023 prognostiziert die Europäische Kommission einen weiteren Reallohnverlust von 0,7 %. Weil inzwischen die Importpreise sinken, geht die Persistenz der Inflation vor allem auf binnenwirtschaftliche Faktoren zurück. Die Daten zeigen, dass die Entwicklung der Tariflöhne die hohen Inflationsraten der vergangenen Monate nicht erklären kann. Mit einem nominalen Wachstum von 2,8 % bewegten sie sich im Jahr 2022 weiterhin im stabilitätskonformen Rahmen. Dies steht im Gegensatz zur Ausweitung der Gewinnmargen, die in erheblichem Umfang zur Binneninflation beiträgt und die Unternehmen zu Gewinnern der Inflation macht. Mitten in der Krise kommt es zu einer problematischen Umverteilung zulasten der Löhne und zugunsten der Kapitaleinkommen. Die europäischen Gewerkschaften haben hierauf zuletzt mit höheren Tarifabschlüssen reagiert. Die derzeit erhöhten Gewinnmargen bieten einen Puffer, um Steigerungen der Lohnstückkosten aufzufangen. Eine Normalisierung der Gewinnmargen ist somit ein möglicher Ausweg, um die Problemlage aus hoher Inflation, fallenden Reallöhnen und Verschiebungen in der funktionalen Einkommensverteilung zu überwinden.
Abstract
The economic framework for collective bargaining in the European Union is currently characterized by the Russian war of aggression in Ukraine, the energy crisis and rapidly increasing consumer prices. As a result, the purchasing power of wages in the EU-27 fell by 4.0 % last year ; for 2023, the European Commission forecasts a further drop in real wages of 0.7 %. Because import prices are now receding, the persistence of inflation is mainly due to domestic factors. The data show that the development of negotiated wages cannot explain the high inflation rates of the past few months. With nominal growth of 2.8 % in 2022, they continued to move within the framework consistent with stability. This is in contrast to the expansion of profit margins, which is a major contributor to domestic inflation and makes companies the winners of inflation. In the midst of the crisis, there is a problematic redistribution away from wages and in favour of capital income. Europe’s trade unions have recently reacted to this with higher wage settlements. The currently elevated profit margins provide a buffer to absorb increases in unit labour costs. A normalization of profit margins is a possible way to overcome the problem of high inflation, falling real wages and shifts in the functional income distribution.