Quelle: HBS
WSI-MitteilungenEwert, Benjamin : Nutzer im Gesundheitswesen: Koproduzenten zwischen Autonomieansprüchen, Kompetenzanforderungen und Verunsicherung
Zusammenfassung
WSI-Mitteilungen 3/2012, Seiten 169-178
Die Leistungsnachfrage von Nutzern des deutschen Gesundheitssystems erfolgt im Gravitationszentrum von drei parallel verlaufenden Modernisierungsprozessen: der Ökonomisierung, Vermarktlichung und Wissensbasierung von Gesundheitsleistungen. Adressiert in situativ wechselnden Rollen, wie die des Koproduzenten und Konsumenten, sollen Nutzer, unabhängig von ihrem Gesundheitszustand, aktiv an der Leistungsauswahl und -erbringung im Gesundheitswesen mitwirken. Traditionelle Nutzerrollen, wie die des Versicherten oder Patienten, spiegeln die Versorgungsrealität nicht länger wider. Das im Aufsatz angewendete Konzept „multipler Nutzeridentitäten“ bildet den Spannungsbogen zwischen systemischen Zuschreibungen sowie eigenen Ansprüchen von Nutzern ab. Welche Identitätsanteile im modernen Gesundheitssystem relativ an Dominanz gewinnen bzw. an Gewicht verlieren, wird empirisch anhand der Anbieter- und Tarifwahl innerhalb der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), der Zahnersatzversorgung sowie des Arzt-Patient-Verhältnisses gezeigt. Aussagen aus Experteninterviews mit Vertretern der unabhängigen Nutzerunterstützung illustrieren, inwiefern es Nutzern gelingt, zeitgleich in mehreren Rollen zu agieren sowie eigene Selbst- und Wertvorstellungen zu verteidigen. Dabei wird deutlich: Sowohl die Kompetenzanforderungen an Nutzer als auch deren Verunsicherungsgefühle steigen und erfordern eine präzisere Konturierung des Nutzerbegriffs sowie die Aufwertung einer genuinen Nutzerpolitik.
Abstract
The German health care system shifts gradually towards economization, marketization and knowledge-based services which increases the complexity of health care provision. While being quite contradictory in its outcomes, these changes share a strong impact towards the activation of health care users. Particularly, health care providers address users in various roles at the same time, for instance, users have to act as co-producing patients and consumers simultaneously. Applying a concept of „multiple identities of users“, three key areas of the German health care system are scrutinized: the choice of providers and tariffs within the Statutory Health Insurance (SHI) system, dental treatment and funding of dental prosthesis and, more generally, the physician-patient-relationship. Drawing from expert interviews at user organizations, the paper demonstrates that health care users are increasingly challenged as involuntary co-producers and, hence, are struggling to maintain their personal values and priorities. However, users have strong feelings of uncertainty despite having competences in the co-production of health care. Therefore, a precise and context-sensitive definition of the term “health care user”, supported by a re-evaluation of politics for users in the modern health care system, seems indispensable.