Künstliche Intelligenz: Wie sich die Chemie verändert
Die chemische und pharmazeutische Industrie ist eine der innovationsstärksten Branchen in Deutschland. Sie wird sich durch den Einsatz Künstlicher Intelligenz grundlegend verändern. Eine Studie zeigt, was auf Beschäftigte und Arbeitnehmervertreter zukommt.
BASF, Bayer, Evonik oder Merck setzen bereits auf Künstliche Intelligenz (KI). Bald wird ihre Anwendung in der deutschen Chemie- und Pharmaindustrie nicht mehr wegzudenken sein. Für die Beschäftigten werden dadurch die Anforderungen steigen, der Anteil Hochqualifizierter wird zunehmen, vor allem in der Pharmabranche. Immer mehr ältere Beschäftigte werden neue Kompetenzen erlernen müssen. Arbeitnehmervertreter sind gefordert, den Wandel mitzugestalten. Zu diesen Ergebnissen kommen Annerose Nisser und Norbert Malanowski in einer von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Studie. Die Forscher der VDI Technologiezentrum GmbH haben untersucht, wie sich der zunehmende Einsatz von KI auf die chemische und pharmazeutische Industrie auswirken wird; ein besonderer Fokus lag dabei auf den Beschäftigten und der Beschäftigtenstruktur. Die Grundlage bildeten eine statistische Datenanalyse und Experteninterviews.
Ein Supercomputer im Labor
Ein Beispiel für den Einsatz von KI in der Chemiebranche stellt der „Supercomputer“ Quriosity bei BASF dar. Er befindet sich am Standort Ludwigshafen, kann aber von Mitarbeitern weltweit genutzt werden. Der Computer führt bis zu 1,75 Billiarden Rechenoperationen pro Sekunde durch, was in etwa der Leistung von 50000 Notebooks entspricht. Diese Rechenleistung wird benötigt, um Material- und Systemeigenschaften chemischer Verbindungen zu simulieren. So kann die Zusammensetzung eines neuen Produkts aus hunderttausenden verschiedenen Inhaltsstoffen am Rechner getestet werden, bevor überhaupt ein Laborexperiment stattgefunden hat. Der oft mehrjährige Forschungsprozess kann dadurch beschleunigt, ein neues Produkt schneller entwickelt werden. Hinzu kommt, dass der Computer auch mit den Ergebnissen der von Menschen durchgeführten Experimente gefüttert wird. In Zukunft soll Quriosity auf das gesamte Wissen vergangener Versuchsreihen zurückgreifen und so seine Vorhersagen und sein Verständnis chemischer Reaktionen verbessern. „Künstliche Intelligenz kann in diesem Sinne mit jedem durchgeführten Versuch mitlernen“, schreiben Nisser und Malanowski. Weder Management noch Betriebsräte befürchteten gegenwärtig, dass der Supercomputer vorhandene Arbeitsplätze ersetzen wird. Einfache Tätigkeiten, die durch Automatisierung in den Laboren wegfallen könnten, gebe es schon seit längerer Zeit nicht mehr. Wohl aber könnten sich die Tätigkeitsprofile ändern. Nach Einschätzung der befragten Fachleute dürfte die Nachfrage nach Spezialisten wie Data Scientists, Computer Scientists und Modellierern weiter steigen. Einer der Interviewpartner betonte, dass man zwischen KI und Kreativität unterscheiden müsse. Kreativität äußere sich unter anderem darin, auch einmal von vorgegebenen Pfaden abzuweichen und bewusst „etwas anderes zu tun“. Damit haben die Computer noch Schwierigkeiten.
Die chemische und pharmazeutische Industrie ist eine der Schlüsselbranchen der deutschen Wirtschaft – gemessen an der Wertschöpfung und der Zahl der Beschäftigten. Rund 2000 Betriebe in Deutschland erzielten 2017 einen Umsatz von knapp 200 Milliarden Euro. Mehr als 60 Prozent der Umsätze entfielen auf Exporte. Damit war der Anteil der Ausfuhren noch größer als im Verarbeitenden Gewerbe insgesamt, das im Schnitt auf eine Exportquote von 50 Prozent kam. In der deutschen Chemie- und Pharmabranche arbeiten aktuell 450000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, häufig in Bereichen, die eine hohe Qualifikation erfordern. Im Vergleich zur übrigen Industrie sind überdurchschnittlich viele Beschäftigte in Forschung und Entwicklung tätig, besonders gilt das für den Bereich Pharma. Dieser zählt auch gemessen an den Forschungsausgaben zu den stärksten Industrien in Deutschland. Der Anteil der Unternehmen, die neue Produkte einführten, lag 2016 sowohl bei Pharma als auch in der Chemie deutlich über dem Durchschnitt des gesamten Verarbeitenden Gewerbes. Die Zahlen verdeutlichen: Die Branche muss sich im weltweiten Wettbewerb durch immer neue Erfindungen behaupten – und sie ist dabei in hohem Maße getrieben vom technologischen Fortschritt. „Ein Großteil zukünftiger Innovationen in der chemischen und pharmazeutischen Industrie wird von KI getrieben sein“, schreiben Nisser und Malanowski. Als Künstliche Intelligenz definieren sie Computersysteme, die Aufgaben nicht streng nach einprogrammierten Algorithmen, also Regeln und Rechenvorgängen, abarbeiten, sondern mit großen Datenmengen trainiert wurden und auf dieser Basis Entscheidungen treffen können.
Die intelligente Lieferkette
In der Pharmabranche kommt KI beispielsweise bei Merck Healthcare zum Einsatz. Sie soll dafür sorgen, dass jederzeit ausreichend Waren vorhanden sind, um Produktionsengpässe zu verhindern und gleichzeitig die bestehende Nachfrage am Markt zu decken. Dazu nutzt das System namens „Self Driving Operations“ zusätzlich zu firmeninternen Informationen wie Lagerbestand und Produktion auch globale Informationen wie Konjunkturdaten, Wetterdaten, aber auch Informationen zu Epidemien und Naturkatastrophen. So kann die KI vorhersagen, zu welchem Zeitpunkt bestimmte Arzneimittel in unterschiedlichen Ländern nachgefragt werden – etwa beim Aufkommen einer Grippewelle. In den von Merck durchgeführten Tests hat sich herausgestellt, dass die neue Technologie dem Menschen bei der vorausschauenden Planung überlegen ist, wobei allerdings die besten Ergebnisse durch eine Kombination aus erfahrenen menschlichen Planern und KI zustande kommen. Die KI wandele Daten in Informationen um, die Mitarbeiter müssten diese Informationen in Entscheidungen übersetzen. Durch die Zusammenarbeit von Mensch und Maschine konnte das Unternehmen den Anteil rechtzeitiger Lieferungen nach eigenen Angaben von 96 bis 97 Prozent auf 99 Prozent steigern.
Weiterbildung und Mitbestimmung sind der Schlüssel
„Neue Produkte, Prozesse, Dienstleistungen und soziale Innovationen werden zunehmend mithilfe von Künstlicher Intelligenz und smarter Datenanalyse entwickelt“, schreiben die Fachleute des VDI Technologiezentrums. Forschung und Entwicklung werde noch stärker datengetrieben sein als in der Vergangenheit. Die Unternehmen aus der chemischen und pharmazeutischen Industrie hätten jedoch erkannt, dass auch KI-Systeme fehlerhaft sein und je nach Qualität der Trainingsdaten womöglich von falschen Grundannahmen ausgehen können. Die finale Urteilskraft werde weiterhin beim Menschen liegen. Einerseits dürfte dadurch höher qualifizierte menschliche Arbeit an Bedeutung gewinnen. Andererseits könnten Arbeitsplätze für geringer Qualifizierte wegfallen, zum Beispiel in der Logistik. Unter dem Strich sind die Beschäftigungseffekte nach Einschätzung der Forscher nicht eindeutig.
In jedem Fall müssten Arbeitnehmer auf die neuen Anforderungen vorbereitet werden, etwa wie sie mit „Vorschlägen“ durch die KI umgehen. Stichwort: lebenslanges Lernen. „Im Zuge der sich verändernden Altersstruktur werden immer mehr ältere Beschäftigte weitere neue Kompetenzen erlernen müssen“, so die Wissenschaftler. Ein Fünftel der Beschäftigten in der chemischen und pharmazeutischen Industrie ist über 54 Jahre alt, in den kommenden Jahren dürfte ihr Anteil weiter steigen. Zudem werde es nicht leichter, Mitarbeiter mit Kompetenzen im Bereich Datenanalyse, Data Science und KI zu finden, da es schon heute an Nachwuchs und den notwendigen Ausbildungs- und Weiterbildungsstrukturen fehle. Sowohl bei der Einführung von KI als auch bei der Frage der Weiterbildung müssten Arbeitnehmervertreter künftig frühzeitig einbezogen werden. Letztlich gehe es nicht darum, Computer autonom zu machen, sondern Menschen bessere Arbeit zu ermöglichen. Ein Problem: Das Experimentierfeld für die deutschen Pharma- und Chemiefirmen liegt teilweise im Ausland, wo Arbeitnehmervertretungen nicht an der Vorbereitung beteiligt sind.
Quelle
Annerose Nisser, Norbert Malanowski: Branchenanalyse chemische und pharmazeutische Industrie. Zukünftige Entwicklungen im Zuge Künstlicher Intelligenz (pdf), Working Paper der Forschungsförderung der HBS, Nr. 166, Dezember 2019