Quelle: WSI
Susanne Wixforth, 10.02.2023: Bruderkrieg der Beihilfen – Wettbewerbsfähigkeit ein Nullsummenspiel
Die Industrieförderprogramme der USA und China sind eine Herausforderung für die EU. Anstelle einer nationalen Beihilfen-Meisterschaft bedarf es einer Neuausrichtung: weg vom Gießkannenprinzip hin zu strategischen Zielvorgaben mit strikten sozialen Konditionalitäten.
Im Moment schlingert die Europäische Wirtschaftspolitik ähnlich wie Odysseus zwischen Skylla und Charybdis. Auf der einen Seite Skylla in Form des nationalen Beihilfenwettbewerbs, allen voran Deutschland und Frankreich, die mit „Doppel Wumms“ auffahren, auf der anderen Seite Charybdis, das US-Industrieförderprogramm, das die europäischen Unternehmen in den Abgrund zu reißen droht. Eine nationale Beihilfen-Meisterschaft wird nicht zum Ziel führen. Vielmehr bedarf es einer Neuausrichtung, weg vom Gießkannenprinzip zu strategischen Zielvorgaben mit strikten sozialen Konditionalitäten.
Wo liegt das Problem?
Die Europäische Union sucht nach einer angemessenen Antwort auf die Industriepolitik der großen Wirtschaftsblöcke, vor allem der USA und China, die mit dem Inflationsbekämpfungsgesetz (Inflation Reduction Act, USA) und der Seidenstraßeninitiative (China) Industriepolitik zugunsten ihrer eigenen Unternehmen machen. Diese Strategie sieht neben Steuerbegünstigungen auch einen bestimmten Mindestanteil an nationaler Wertschöpfung als Voraussetzung für staatliche Subventionen vor, wodurch „buy American“ und „buy Chinese“ befördert werden. Diese Politik konterkariert vollkommen die Idee der Europäischen Union, wonach „Wandel durch Handel“ im fairen, wertebasierten Wettbewerb den Wohlstand aller herbeiführt.
Bereits die Seidenstraßeninitiative hat zu einem Umdenken der Europäischen Union geführt, indem der offene Binnenmarkt in eine offene strategische Autonomie eingefasst wurde. Sie beruht im Wesentlichen auf zwei Säulen, nämlich der Verringerung der Außenabhängigkeit der EU und der Entwicklung der Märkte, Produkte und Dienstleistungen der EU nach außen. Diese Strategie erweist sich jedoch im Hinblick auf das Inflationsbekämpfungsgesetz der USA als unzureichend. Oder, wie es Präsident Emmanuel Macron auf den Punkt bringt: „Wir haben China, das seine Industrie schützt, die USA, die ihre Industrie schützen, und Europa, das ein offenes Haus ist.“ Macron fordert im Duett mit dem deutschen Wirtschaftsminister Robert Habeck offen einen „Buy European Act“, durch den europäische Hersteller verpflichtet werden, einheimische Produkte oder Technologien zu verwenden, damit sie in den Genuss von Subventionen kommen. So könnte beispielsweise festgelegt werden, dass eine europäische Windturbine mit einem bestimmten Prozentsatz an Stahl und Technologien aus der EU hergestellt werden muss.
Doch reicht das aus, um zu verhindern, dass die EU im globalen Protektionismuswettlauf unter die Räder kommt? Braucht es diese Art von Subventionspolitik? Ökonom*innen warnen vor einem globalen Wettlauf der Subventionen und des Protektionismus.
Bruderkrieg zu Lasten der kleinen Mitgliedstaaten
Die Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager befürchtet eine Fragmentierung des Binnenmarktes und negative Effekte für das Zusammenwachsen, also die Kohäsion innerhalb der EU. Deutschland und Frankreich waren ursprünglich strenge Vertreter des EU-Beihilfenregelwerkes, um Regierungen davon abzuhalten, Steuergelder in einzelne Unternehmen zu pumpen und absterbende Industriezweige künstlich am Leben zu halten, anstatt durch horizontale Industriestrategie die Wettbewerbsfähigkeit zu fördern und den technologischen Fortschritt zu unterstützen.
Inzwischen hat sich die Strategie der beiden Länder geändert: Beide zusammen sind für fast 80 Prozent der Staatssubventionen verantwortlich, die im Rahmen des europäischen befristeten Krisenrahmens gewährt wurden – davon 53 Prozent von Deutschland, 24 Prozent von Frankreich, insgesamt 672 Milliarden Euro nationale Subventionen.
Das ist etwas mehr als das gesamte BIP von Belgien, Polen oder Schweden. Zum Vergleich: Österreichs BIP betrug 2022 rund 470 Milliarden Euro. Aber auch Österreich spielt bei Entlastungsmaßnahmen bezüglich Strom- und Gaspreisen 2022 im europäischen Vergleich in der oberen Liga mit.
Die Erzählung dahinter: Ohne neue Hilfen und eine rasche Antwort auf das US-Inflationsbekämpfungsgesetz drohe ein Wettbewerbsnachteil für die heimische Wirtschaft. Je nach Budgetlage wird diesem Ruf mehr oder weniger gefolgt, und das meist ohne Wenn und Aber. So sieht der Energiekostenzuschuss II für Österreichs Unternehmen eine Bezuschussung von bis zu 60 Prozent der Mehrkosten vor, ohne dass die Betriebe nachweisen müssen, dass sie energieintensiv produzieren. Wirtschaftsminister Martin Kocher rechnet mit zusätzlichen Staatsausgaben zwischen 5 und 9 Milliarden Euro, im Budget 2023 sind 6 Milliarden vorgemerkt, eine Ausweitung des Rahmens ist kein Tabu. Vergleichsmaßstab ist aufgrund der Verzahnung der österreichischen mit der deutschen Wirtschaft der deutsche Doppel-Wumms. Doch anders als im österreichischen Beihilfenregime beinhaltet das deutsche Paket immerhin aus gewerkschaftlicher Sicht wichtige Konditionalitäten: Die begünstigten Unternehmen müssen bis Ende 2024 90 Prozent ihrer Belegschaft halten.
Prekariatskapitalismus
Diese Art der Wirtschaftspolitik könnte man als Variante der „Trickle-Down“-Theorie bezeichnen. Danach sollte der gesamtgesellschaftliche Wohlstand steigen, wenn man Steuern für Unternehmen, hohe Einkommen und Vermögen radikal senkt. Der Wohlstand würde dann von oben herabtröpfeln. Der aktuelle Diskurs variiert diesen Ansatz: Der Staat muss nun aktiv Geld in die Unternehmen pumpen, damit die Wettbewerbsfähigkeit nicht leidet. Ohne solche Direktzahlungen des Staates an Unternehmen würde es allen schlechter gehen. Das Versprechen vom wachsenden Wohlstand durch geringere Steuern an der Spitze wurde von der Drohung mit sinkendem Wohlstand bei Ausbleiben von Subventionen abgelöst, von der Wissenschaft als Prekariatskapitalismus definiert. Nicht mehr Wettbewerb steht im Mittelpunkt, sondern Wettbewerbsfähigkeit, die mit einem aktiven Eingreifen des Staates zugunsten bestimmter Unternehmen oder ganzer Staaten einhergeht. Die Gesellschaft driftet auseinander und die Vermögensungleichheit nimmt ein abstraktes Ausmaß an.
Das Ergebnis wird durch den Unternehmensradar der AK Wien bestätigt. Die staatlichen Coronahilfen haben heimische Unternehmen nicht nur gestützt, sondern ihnen zu ausgeprägten Finanzpolstern verholfen. Ihr Gewinn stieg 2021 um 30,9 Prozent auf 14,9 Milliarden Euro, ein Plus von 23 Prozent im Vergleich zu 2019. Die Gewinnmarge belief sich auf rund 5 Prozent, die Verzinsung des Kapitals brachte durchschnittliche Renditen von 15 Prozent im Jahr 2021. Die Eigenkapitalrentabilität der Industrie belief sich auf 19 Prozent, die Eigenkapitalquote auf 41 Prozent. Laut ÖNB verzeichneten die 20 im österreichischen Leitindex gelisteten ATX Unternehmen bereits 2021 Rekordgewinne von 10 Milliarden Euro. Diese historische Zehn-Milliarden-Grenze erreichten sie im Jahr 2022 bereits im ersten Halbjahr und konnten den Gewinn damit im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um rund 80 Prozent steigern.
Europäische Antwort auf das US-Inflationsbekämpfungsgesetz
Die Europäische Kommission muss den schwierigen Balanceakt meistern, die Transformation der europäischen Industrie zu unterstützen und sie gegen stark subventioniere Unternehmen aus Drittstaaten wie China, die in den Wettbewerb mit europäischen Unternehmen treten, zu schützen.
Dazu schlägt sie einen „Green-Deal-Industrieplan“ bzw einen „Netto-Null Industrieakt“ (Net-Zero Industry Act) mit festen Zielvorgaben bis 2030 vor, der die Unterstützung der sauberen Energiewirtschaft zum Ziel hat. Er basiert auf vier Säulen: Regelungsumfeld, Förderung und Finanzierung, Qualifikationen und Handel. Im Mittelpunkt der Diskussionen steht die Neuausrichtung der staatlichen Zuschüsse, vor allem die Umwandlung des geltenden „Befristeten Krisenrahmens für staatliche Beihilfen“ in einen „Befristeten Gemeinschaftsrahmen für Krisen- und Übergangshilfen“. Er soll Unternehmen dazu bewegen, grüne Investitionen in strategische Sektoren in der EU zu tätigen. Unternehmen also, bei denen die Gefahr besteht, dass sie ihre Investitionen in Drittländer außerhalb der EU verlagern. Auch Steuersubventionen sollen erlaubt sein – eine Art befristeter „Anti-Abwanderungs-Investitionsbeihilfen“.
Da nur wenige Mitgliedstaaten die notwendigen Staatsmittel für den ambitionierten Industrieplan aufbringen können, soll ein Souveränitätsfonds (Souvereignty Fund) geschaffen werden. Die Europäische Investitionsbank könnte diesen Fonds verwalten.
Subventionen gestalten: Konditionalität statt Flexibilität
Wie Wettbewerbskommissarin Vestaeger betont, konnten bereits mit dem geltenden Beihilfen-Krisenrahmen 672 Milliarden Euro mobilisiert werden. Mehr als 90 Prozent der Beihilfemaßnahmen wurden dank der sogenannten Gruppen-Freistellungsverordnung ohne vorherige Genehmigung der EU-Kommission ausbezahlt. Wir haben es also bereits jetzt mit einem äußerst flexiblen Regelwerk zu tun.
Woher kommt also das Unbehagen von Seiten der Arbeitnehmer*innen? Die Antwort ist einfach: Weil der Trickle-down-Effekt nicht funktioniert und die Beihilfen zur einer Vermögensvermehrung der Wenigen führten. Bei der Ausgestaltung von europäischen und nationalen Subventionsprogrammen müssen deshalb aus Arbeitnehmer*innensicht die strukturpolitischen und sozialen Komponenten gestärkt werden. Dazu gehören Auflagen zur Standort- und Beschäftigungssicherung, zur Ausbildung von Jugendlichen und zur Mitbestimmung der Beschäftigten im gesamten Projektprozess. Unternehmen mit unfairen Praktiken, insbesondere von Steuervermeidung, Steuerhinterziehung und aggressiver Steuerplanung, oder Verstößen gegen arbeits- oder sozialrechtliche Bestimmungen müssen von Subventionen ausgeschlossen werden. Nicht Flexibilität, sondern Konditionalität muss daher in den Mittelpunkt der Debatte gestellt werden.
Arbeitnehmer*innen erwarten sich deshalb von der Reform der Beihilfenvorschriften eine Neuausrichtung weg vom Gießkannenprinzip hin zu strategischen Zielvorgaben.
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Autorin
Susanne Wixforth ist stellvertretende Abteilungsleiterin in der Abteilung Wirtschaftspolitik der Arbeiterkammer Wien.