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Kaoutar Haddouti/Susanne Wixforth, 12.12.2022: Inflation oder Trittbrettfahrer: Preissteigerung nur wegen der Energiekrise?
Die Preissteigerung bei Lebensmitteln wird meist mit der Energiekrise begründet. Dabei fällt kaum auf, wenn Trittbrettfahrer, wie Finanzinstitutionen und multinationale Agrar- und Lebensmittelkonzerne, dieses Argument ausnutzen, um höhere Profite zu erzielen.
In den letzten Monaten sind die Lebenshaltungskosten rasant gestiegen. Zwar brachten die staatlichen Markteingriffe durch Direktunterstützung der Haushalte den europäischen Bürger*innen eine kurze Atempause, und auch der milde Frühherbst spielte eine positive Rolle. Insgesamt aber spitzte sich die prekäre Situation vieler Bürger*innen in zahlreichen europäischen Staaten zu, denn die Inflation stieg in der EU innerhalb eines Jahres von 3,6 auf fast 11 Prozent. Verbraucher*innen spüren die Auswirkungen direkt vor allem bei den Nahrungsmitteln: Diese sind zwischen Oktober 2021 und Oktober 2022 in Deutschland um 20,3 Prozent teurer geworden, manche sogar um 49 Prozent. In Österreich zeigt sich der Preisdruck insbesondere bei Gemüse (Oktober: +14,8 Prozent), Brot und Getreideerzeugnissen (Oktober: +14,4 Prozent), Fleisch (+15,6 Prozent) und Milch, Käse und Eiern (+19 Prozent). Noch stärker erhöhten sich die Preise für Öle und Fette (+29,8 Prozent) und Butter (+40,2 Prozent). Kein Wunder, dass die Teuerung beim täglichen Einkauf höher war als die Gesamtinflation.
Als Ursache für die Preissteigerungen werden u.a. die gestiegenen Energiekosten für Dünge- und Futtermittel auf verschiedenen Ebenen der Verarbeitungs- und Vermarktungsebene in Folge des Ukrainekrieges identifiziert. Gewerkschaften hegen jedoch den Verdacht, dass viele Preissteigerungen zwar mit dem Anstieg der Energiekosten begründet werden, diese aber auch als Vorwand dienen, um noch höhere Preise zu lukrieren.
Im Folgenden wollen wir daher den Bereich der Agrar- Düngemittel- und Lebensmittelbranche näher betrachten. So stiegen beispielsweise die Getreide- und Milchpreise bereits vor dem Krieg stark an, in einer Zeit also, in der sich die Strompreise auf Normalniveau bewegten. Grund dafür war die hohe Preisnotierung an den Rohstoffbörsen. Das spiegelt sich im Fall der spezialisierten Getreidebauern mit einem zu 40 Prozent gestiegenen Einkommen im Jahr 2021 im Vergleich zum Vorjahr wider. Insgesamt stiegen die landwirtschaftlichen Einkommen um durchschnittlich 15 Prozent, da die Agrarpreise bereits im 2. Halbjahr 2021 kräftig anzogen.
Finanzialisierung der Rohstoffbörsen
Um das zu erklären, bedarf es eines Blickes auf die Rohstoffbörsen. Das sind die Orte, an denen über einen standardisierten Prozess der Preis von Rohstoffen verhandelt wird. In sogenannten Terminkontrakten (Futures-Contracts) werden Rohstoffe, bevor sie zur Verfügung stehen, z.B. vor der Ernte, zu einem bestimmten Preis gekauft. Die dahinterstehende Theorie: Der Agrarproduzent kann mit einem fixen Einkommen anlässlich der in der Zukunft liegenden Ernte rechnen, der Käufer erhält eine Lieferzusage zu einem fixen Preis, womit er seine Versorgung mit dem Rohstoff absichert.
Diese Art des Geschäfts wurde informell bereits in der Antike praktiziert. Die erste Warenterminbörse wurde 1848 in Chicago gegründet. Der Handel von Rohstoffen erfolgt über standardisierte Kontrakte, wobei die Börse eine zusätzlich absichernde Rolle einnimmt, indem sie für die Erfüllung des Kontraktes bürgt. Bis zu Beginn der 1970er Jahre bestand über die Terminkontrakte eine direkte Beziehung zwischen Rohstoffproduzenten (Bauern) und Rohstoffhändlern. Mit der Deregulierung der Rohstoffbörsen in den 1970er Jahren, die sich innerhalb der 2000er Jahre verstärkte, fand eine Finanzialisierung des Handels mit Rohstoffen statt.
Finanzmarktakteure beteiligen sich in großem Format als Zwischenhändler an den Rohstoffbörsen. Sie erwerben dabei einen Terminkontrakt, der sie dazu berechtigt, Rohstoffe zu einem bestimmten Preis geliefert zu bekommen. Anschließend warten sie auf einen Zeitpunkt, an dem der vereinbarte Preis des Terminkontraktes deutlich niedriger ist als auf dem Spotmarkt, wo kurzfristig festgelegte Preise gelten. Je größer die Preismarge ist, desto begehrenswerter ist der Terminkontrakt für andere Spekulanten; er kann zu hohen Preisen verkauft werden. Rohstoffe werden auf diese Weise viele Male gehandelt, bevor sie zum Verarbeiter gelangen. Der ursprüngliche Sinn von Rohstoffbörsen, nämlich die Gewährleistung von Preis- und Liefersicherheit für Bauern und Verarbeiter von Rohstoffen, wird von anderen Interessen überlagert: Rohstoffbörsen werden von Akteuren gesteuert, die über starke Preisfluktuation Gewinne generieren. Ihre Entscheidungen sind deshalb nicht von realwirtschaftlichen, sondern von finanzwirtschaftlichen Erwägungen abhängig. Das bedeutet, dass Fundamentaldaten zu Angebot und Nachfrage nicht ausschlaggebend sind, weil die Finanzakteure nicht in den direkten Handel des Rohstoffes involviert sind. Durch ihren eingeschränkten Zugang zu Marktinformationen über die Realwirtschaft entsteht ein Informationsmangel, der durch das sogenannte ,,Herdenverhalten“ ausgeglichen wird. Finanzmarktakteure orientieren sich an anderen Marktteilnehmern. Dadurch werden Trends, die realwirtschaftliche Ursachen haben, über Spekulation verstärkt, wie es die exponentielle Inflation aufgrund des Ukrainekriegs unter Beweis stellt.
Monopole in der Agrar- und Lebensmittelindustrie
Aus der Unsicherheit der Finanzakteure und den realwirtschaftlichen Angebotsschocks schlagen die dominierenden Rohstoffhändler im Agrarbereich, die sogenannte ABCD Group (ADM, Bunge, Cargill and Louis Dreyfus), die 70 bis 90 Prozent des globalen Getreidehandels abdecken, ihren Profit.
So konnte ADM ihren Gewinn im Vergleich zum Vorjahr um über 20 Prozent, Cargill um knapp 30 Prozent steigern und entlang der gesamten Lebensmittellieferketten expandieren. „Die globalen Getreidemärkte sind noch stärker konzentriert als die Energiemärkte und noch weniger transparent, so dass die Gefahr der Profitmacherei groß ist”, so ein Mitglied des International Panel of Experts on Sustainable Food Systems. Ihre Marktmacht kann sich mit derjenigen von Saatgut- und Düngeranbietern messen: Die Preise für Dünger stiegen seit 2020, also auch schon vor dem Ukrainekrieg, um 300 Prozent. Der Preisanstieg verlief parallel zur Monopolisierung der Düngeranbieter und des Saatgutmarktes. Innerhalb der letzten zehn Jahre hat sich dieser Markt stark verengt: Die Big Six der Saatgutproduktion wurden - zuletzt durch Fusion von Bayer und Monsanto (2018) - auf die Big Four reduziert: Bayer-Monsanto, DowDuPont/Corteva, ChemChina-Syngenta, BASF. DowDuPont/Corteva hat sein Wachstum um 8 Prozent gesteigert und gleichzeitig sind seine Gewinne um 27 Prozent und damit 10 Prozent mehr im Vergleich zum Vorjahr gestiegen, und dies trotz steigender Energiepreise.
Aber auch große Nahrungsmittelverarbeiter spielen eine zentrale Rolle im System, wobei besonders Nestlé, Unilever und CocaCola eine starke Position haben. Nestlé verzeichnete 2022 in den neun Monaten bis Ende September 2022 ein Wachstum von 8,5 Prozent. Dies gelang durch seine Kunst des richtigen „Pricing“ – die für den Unternehmenserfolg optimale Preissetzung: Angesichts rapide steigender Transport- und Rohstoffkosten versteht man darunter das Geschick, die Preise deutlich zu erhöhen, ohne die Kund*innen zur günstigeren Konkurrenz zu treiben. Mit bekannten Marken von Nespresso über San Pellegrino bis Kitkat gelang es dem Konzern, trotz Preiserhöhungen von durchschnittlich 6,5 Prozent den Umsatz gegenüber dem Vorjahr zu steigern und damit entsprechend Gewinn zu generieren.
Es spricht somit vieles dafür, dass starke Marken wie Nestlé aufgrund ihrer Marktposition die Preise erhöhen können, ohne dass das Unternehmen Kunden verliert. Auch Unilever verzeichnete eine Gewinnsteigerung von 17 Prozent im zweiten Quartal 2022 im Vergleich zum Vorjahr – trotz der steigenden Energiepreise. „Zahlreiche Konzerne versuchen, auf der aktuellen Inflationswelle mitzureiten“, stellt ein Edeka-Chef fest. Er beobachte „immer häufiger unfaire Industriepraktiken“.
Nicht nur das Wettbewerbsrecht ist gefordert …
Die aufgezeigte Konzentration im Agrar- und Lebensmittelsektor zeigt, dass die Unternehmen ihre Oligopol- bzw. Monopolstellung nutzen, um aus der daraus resultierenden Abhängigkeit Profit zu schlagen. Es wird Aufgabe der Wettbewerbsbehörden sein, angeblich aus den Energiepreisen induzierte Preissteigerungen in anderen Märkten genau unter die Lupe zu nehmen. Die österreichische Wettbewerbsbehörde (BWB) hat dies bereits bezüglich des Kraftstoffmarkts getan und plant weitere Branchenuntersuchungen. Damit diese Untersuchungen nicht folgenlos im Raum stehen bleiben, hat die AK Wien einen Antrag auf Einleitung eines Preisprüfungsverfahrens gestellt. Aber auch im Lebensmittelbereich bleibt die BWB nicht untätig: Sie plant eine Branchenuntersuchung im Lebensmittelbereich. Der deutsche Wirtschaftsminister schlägt vor, dass in Zukunft Sektoruntersuchungen, die Wettbewerbsdefizite feststellen, mit Konsequenzen in Form von Auflagen und Markteingriffen verknüpft werden.
… sondern auch die Politik
Dass hohe Marktkonzentration nicht im Sinne der Beschäftigten und Verbraucher*innen ist, hat die EU-Kommission schon 2019 erkannt. Allerdings sind die Pläne zu einem Markteingriff bis hin zur Zerschlagung marktmächtiger Unternehmen, das sogenannte „Neues Zusatzinstrument zur besseren Durchsetzung des Wettbewerbs (Competition Tool“) wieder in der Schublade verschwunden. Der deutsche Wirtschaftsminister hat mit seinem Reformvorschlag für das deutsche Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen die Idee der Zerschlagung von oligopolistischen Marktstrukturen wieder in die Diskussion gebracht. Aber auch Überlegungen zu einer stärkeren Regulierung von Rohstoffbörsen werden wieder lauter. Ein erster wichtiger Schritt ist jedenfalls getan: Mit der EU-Dringlichkeitsverordnung wurde sichergestellt, dass zumindest im Energiebereich ein Teil der Übergewinne abgeschöpft wird.
Gewerkschaften fordern eine rasche Umsetzung in Form einer Übergewinnsteuer sowie die Einführung einer Antiteuerungskommission, die regelmäßig Preise und Preiserhöhungen auf ihre volkswirtschaftliche Rechtfertigung prüft und gegebenenfalls Preisprüfungsanträge nach dem Preisgesetz einfordert. Nur so kann vermieden werden, dass Oligopole ihre marktmächtige Stellung zu Lasten der Beschäftigten und Konsument*innen ausnutzen.
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Autorinnen
Kaoutar Haddouti (ehem. Praktikantin beim DGB) und Susanne Wixforth (stellvertretende Abteilungsleiterin in der Abteilung Wirtschaftspolitik der AK Wien)