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Daniel Seikel, 18.09.2021: Und Europa?
Gemeinsamkeiten und Differenzen in den Positionen der Parteien zur Europapolitik werden in den aktuellen Wahlkampfdebatten außen vor gelassen. Aber Streit wäre notwendig – gerade aus Sicht der Wähler:innen. Ein Kommentar
Europa findet im Bundestagswahlkampf nicht statt. Zwar gab es eine TV-Debatte der Kanzlerkandidat:innen, die sich ausschließlich mit der Europapolitik beschäftigte. Doch wer erinnert sich noch daran? Vermutlich kaum jemand. Das könnte, vorsichtig spekuliert, daran liegen, dass die Sendung am frühen Nachmittag eines Wochentages im Mai, also ganze vier Monate vor der Wahl, ausgestrahlt wurde. Bezeichnenderweise. Seither spielt die Europapolitik praktisch keine Rolle mehr. Das Problem dabei ist, dass es somit auch keine öffentliche Debatte der Bewerber:innen für das Kanzleramt über europäische Themen und Probleme gibt, die Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen den Parteien klarmachen würde. Und das ist schlecht. Denn Streit wäre notwendig – gerade aus Sicht der Wähler:innen.
Die im Bundestag vertretenen Parteien reservieren in ihren Wahlkampfprogrammen im Grunde schon traditionellerweise einen Abschnitt für die Europapolitik. Dieses Jahr ist die Betonung von sicherheits- und verteidigungspolitischen Aspekten auffällig. Das zeigt, dass die Europapolitik längst ein eigenständiges Themenfeld politischer Programmatiken ist. Macht man sich die Mühe und schaut die Positionen der Parteien durch, sind die europapolitischen Unterschiede zwischen linken und rechten Parteien unverkennbar. Im medialen Wahlkampf ist davon allerdings nichts zu merken.
Nun muss sich eine Bundestagswahl nicht um Europa drehen. Das ist ja nicht mal bei Europawahlen der Fall, könnte man spöttisch anmerken. Es gibt schließlich genug innen- und außenpolitische Problemlagen, die bearbeitet werden müssen. Allerdings werden in den nächsten Jahren wichtige Themen auf der europäischen Ebene verhandelt, die auch für Deutschland von einiger Bedeutung sind – und somit auch die Wähler:innen interessieren sollten. Die derzeit in der EU diskutierte Mindestlohnrichtlinie, beispielsweise, könnte nicht nur eine Erhöhung des deutschen Mindestlohns zur Folge haben, sondern auch die Verabschiedung von Maßnahmen zur Steigerung der seit Jahren in Deutschland schwindenden Tarifbindung erforderlich machen. Die aktuelle Debatte über den Sinn und Unsinn der „schwarzen Null“ lässt sich schlicht nicht getrennt von den europäischen Fiskalregeln führen, allein schon, weil der EU-Fiskalpakt den Mitgliedstaaten eine Schuldenbremse vorschreibt. Auch viele andere Themen, die derzeit im Wahlkampf mal mehr, mal weniger intensiv diskutiert werden, werden aktuell auf europäischer Ebene diskutiert. Das gilt für die Frage, wie die digitale Plattformökonomie, die unser ganzes steuer-, arbeits- und sozialrechtliches Regulierungssystem aus den Angeln heben könnte, reguliert werden soll, genauso wie für die Frage, wie unser Planet vor der Klimaerwärmung gerettet werden kann. Diese Herausforderungen lassen sich im nationalen Alleingang nicht bewältigen. Umso mehr erstaunt die Abwesenheit der europäischen Dimension in den Debatten.
Schließlich sei erwähnt, dass es auch eine ganze Reihe von dringenden Problemen gibt, die weder auf der europäischen Agenda zu finden sind noch in den Wahlkampfprogrammen thematisiert werden. Dazu gehört der grundlegende Konflikt zwischen dem marktliberalen Binnenmarktrecht und sozialen Rechten ebenso wie die Aushöhlung der Mitbestimmung durch transnationale Unternehmen (hierbei mit Ausnahme der Linken und im Ansatz der SPD). Wissenschaftler:innen der Hans-Böckler-Stiftung haben dazu kürzlich zentrale Handlungsbedarfe identifiziert und Lösungsvorschläge vorgelegt (siehe hier).
Die Position der Bundesregierung war bei vielen dieser Themen bisher unklar, so z.B. beim europäischen Mindestlohn. Grund dafür sind gegensätzliche Positionen zwischen SPD einerseits und CDU/CSU andererseits. Das verweist auf die Bedeutung der Koalitionsbildung nach der Wahl – ein Thema, dem die Kanzlerkandidat:innen offenbar nur allzu gerne aus dem Weg gehen würden. In den TV-Debatten erfreut sich die Frage nach möglichen Koalitionen dennoch großer Beliebtheit. Zurecht – denn Koalitionspartner sind immer auch potenzielle Veto-Spieler, die rote Linien in der Fiskal-, Wirtschafts-, Lohn- und Tarifpolitik haben – allesamt mit ausgeprägtem europäischen Bezug – und bestimmte Optionen blockieren können. Man könnte nun die zu erwartenden Positionen der verschiedenen Regierungskonstellationen – Deutschland-Koalition, Jamaika-Koalition, Ampel-Koalition oder R2G – zu den genannten europapolitischen Themen durchspielen. Speziell für die Wähler:innen von Mitte-Links Parteien – und selbstverständlich auch für die Parteien und ihre Spitzenkandidat:innen selbst – stellt sich dabei die Frage, mit welchem Veto-Spieler an ihrer Seite ihre europapolitischen Vorstellungen am ehesten realisiert werden können. Der öffentliche Streit, den es dazu eigentlich bräuchte, findet aber nicht statt.
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Die Beiträge der Serie:
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Minijobs, Midijobs, Mindestlohn. Reformvorschläge der Parteien für den Niedriglohnsektor
Florian Blank (08.09.2021)
67, 68, 69, 70 …
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Wie Arbeitszeitflexibilisierung die Vereinbarkeit von Beruf und Familie stärkt – und wie nicht
Aline Zucco und Anil Özerdogan (10.09.2021)
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Elke Ahlers (14.09.2021)
Arbeiten 4.0 erfordert ein starkes Arbeitszeitgesetz
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Serife Erol-Vogel (17.09.2021)
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Daniel Seikel (18.09.2021)
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Aufbruch oder Verwaltung des Status quo? Arbeitsmarktpolitik #BTW21
Autor
Dr. Daniel Seikel ist wissenschaftlicher Referent für Europäische Politik am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Politische Ökonomie der europäischen Integration, Integration durch Recht und Economic Governance.