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Kurt Vandaele, 18.08.2020: Ein ungenutztes Potenzial: Neue Mitglieder als Zukunftsversprechen für Gewerkschaften
Corona hat einigen Gewerkschaften einen Mitgliederzulauf beschert. Wie lassen sich neue Mitglieder langfristig binden und dafür begeistern, sich aktiv einzubringen? Ergebnisse einer Befragung in Belgien zeigen, dass die Übertragung von überschaubaren, am Organizing-Modell orientierten Aufgaben ein besonders erfolgversprechender Ansatz ist.
Etwa vor einem Jahr habe ich einen Bericht über die Entwicklung der Mitgliederzahlen der Gewerkschaften in Europa geschrieben. Der Titel „Bleak prospects“ (finstere Aussichten) war selbsterklärend: Die Mitgliederzahlen waren in den Jahren 2010–2017 im Vergleich zu den ersten zehn Jahren des 21. Jahrhunderts in 24 von 32 europäischen Ländern zurückgegangen. Aber die Zeiten ändern sich. Themen wie Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz und wirtschaftliche Unwägbarkeiten haben in bestimmten Wirtschaftszweigen und in einigen europäischen Ländern dazu geführt, dass sich nach dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie wieder mehr Arbeitnehmer*innen einer Gewerkschaft angeschlossen haben.
So hat es in Belgien seit dem Corona-Ausbruch eine beträchtliche Erhöhung des gewerkschaftlichen Organisationsgrades gegeben. Das lässt sich durch die Mitwirkung der Gewerkschaften an der Verwaltung des Arbeitslosengeldes erklären. Aus einem ähnlichen Grund konnten auch die schwedischen Gewerkschaften erfolgreich neue Mitglieder für sich gewinnen. UNISON und Unite als jeweils größte und zweitgrößte Gewerkschaft im Vereinigten Königreich melden ebenfalls steigende Mitgliedszahlen; das trifft auch auf die britische National Education Union zu. Ob jedoch all dies bedeutet, dass der (lang erwartete) nächste Gewerkschaftsboom, historisch immer mit sozio-ökonomischen Unruhen und Arbeitskämpfen verbunden, im globalen Norden endlich und tatsächlich stattfindet, ist nicht das zentrale Thema dieses Beitrags.
Dieser Blogartikel befasst sich vielmehr mit den neu hinzugekommenen Mitgliedern selbst. Dafür gibt es – auch auf Seiten der Gewerkschaften – mindestens zwei gute Gründe. Erstens: Die meisten Mitglieder verlassen die Gewerkschaften in den ersten Jahren ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit. Strategien, um Mitglieder bei der Stange zu halten, sollten sich deshalb bevorzugt auf diese Zeitspanne beziehen. Zweitens: Mitglieder, die sich zum ersten Mal einer Gewerkschaft anschließen, werden nicht durch frühere direkte Gewerkschaftserfahrungen oder eine gewerkschaftliche Sozialisierung beeinflusst. Sie sind Newcomer, und die meisten von ihnen sind jung. Ihre kreative Energie, ihre frischen Ideen und ihre Phantasie bieten Gewerkschaften potenziell die Chance, sich von alten Routinen zu verabschieden und sich selbst neu zu erfinden.
Die zentrale Botschaft dieses Beitrags ist, dass eine kritische Masse neuer Gewerkschaftsmitglieder die Bereitschaft zeigt, sich stärker für die gewerkschaftliche Arbeit zu engagieren. Um herauszufinden, wie die Gewerkschaften diese sich hier eröffnenden Möglichkeiten am besten nutzen können, ist es sinnvoll, drei idealisierte Modelle für den gewerkschaftlichen Kapazitätsaufbau zu unterscheiden: Advocacy-Arbeit, Mobilisierung und Deep Organizing. Die Abbildung zeigt, dass jeder dieser Handlungsansätze ein unterschiedliches Verständnis der Beteiligung von Gewerkschaftsmitgliedern hat.
In einer Advocacy-Strategie, bei der für hauptamtliche Gewerkschafter*innen die ökonomische Beziehung zwischen der Gewerkschaft und ihren Mitgliedern im Sinne eines unmittelbaren gegenseitigen Nutzens und Vorteils (z.B. Mitgliedsbeiträge gegen Lohnerhöhungen) im Vordergrund steht, findet eine Mitwirkung der Gewerkschaftsmitglieder praktisch nicht statt. Bei den anderen beiden strategischen Handlungsansätzen spielen die Gewerkschaftsmitglieder aber durchaus eine Rolle, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Bei Mobilisierungsaktionen werden die Mitglieder als potenziell aktive Teilnehmer*innen gesehen. Die eher sporadische Natur dieser Strategie bedeutet aber, dass dieses Modell nur diejenigen auf den Plan ruft, die ihre Gewerkschaft ohnehin aktiv unterstützen – die Gewerkschaftsaktivist*innen. Problemlösungen auf der Betriebsebene oder die Auseinandersetzung mit anderen Themen bleiben nach wie vor weitgehend Aufgabe der hauptamtlichen Gewerkschafter*innen. Das Deep Organizing-Modell hingegen verbreitert mit seiner Bottom-Up-Strategie die Basis der Aktivist*innen, indem ganz durchschnittliche Arbeitnehmer*innen angesprochen und mobilisiert werden und transformative Wandlungsprozesse durch den Druck der großen Masse durchgesetzt werden.
Etwas vereinfacht ausgedrückt bewegen sich Grassroots-Gewerkschaften vor allem zwischen den beiden Strategien Mobilisierung und Deep Organizing, während die meisten Mainstream-Gewerkschaften (zumindest in Europa) sich vorwiegend auf Advocacy-Arbeit und Mobilisierung verlassen. Diese etablierten Gewerkschaften könnten sich jedoch von der vorherrschenden instrumentellen Motivation und der daraus resultierenden Passivität ihrer Mitglieder lösen. Der hier vorgeschlagene pragmatische Weg besteht darin, neue Mitglieder auf freiwilliger Basis an überschaubare, am Organizing-Modell orientierte Aufgaben heranzuführen. Im Rahmen meiner wissenschaftlichen Arbeit konnte ich anhand der Ergebnisse einer Umfrage zeigen, dass sich diese Methode bei Neumitgliedern einer belgischen Gewerkschaft bewährt hat. Nicht weniger als 41 Prozent dieser neuen Mitglieder zeigten (ziemliches) Interesse daran, wenigstens eine Aufgabe zu übernehmen und Kontakt zu potenziellen Mitgliedern herzustellen.
Die Tatsache, dass Neumitglieder gut in gewerkschaftsfreundliche Netzwerke integriert sind, und noch mehr die Überzeugung, dass das persönliche Engagement für die Gewerkschaft tatsächlich etwas bewirkt, sind wesentliche Einflussfaktoren für die Übernahme von Aufgaben. Deshalb könnte eine Bewertungsskala zu dieser Frage im Aufnahmeformular der Gewerkschaft sehr informativ sein. Die Antworten könnten die Grundlage für Strategien bilden, Mitglieder möglichst lange an ihre Gewerkschaft zu binden und spezifische Mitgliedergruppen gezielt für gemeinsame Lernprozesse im Sinne einer „lernenden Organisation“ zu gewinnen. Neumitglieder, die von ihrem Potenzial für die Gewerkschaft überzeugt sind, bedürfen keiner intensiven Überzeugungsarbeit – sie können im Schnellverfahren auf anspruchsvollere Aufgaben vorbereitet werden. Allerdings müssen wir uns auch – und vielleicht sogar besonders intensiv – mit denjenigen befassen, die weniger von ihrem Mehrwert überzeugt sind.
Wenn Gewerkschaften eine Strategie verfolgen wollen, die das Engagement neuer Mitglieder fördert, indem sie Organisierungsaufgaben übernehmen, so sind hier mehrere Aspekte zu bedenken. Erstens: Eine intensivere Bindung zwischen Gewerkschaften und Mitgliedern durch Organisierungsaufgaben wird erfolgreicher funktionieren, wenn sie mit einer klaren politischen Leitidee und langfristigen Zielen unterlegt ist. Zweitens: Da die Aufgaben im Hinblick auf Zeitaufwand, Kompetenzen und Beanspruchung unterschiedlich sind, sollte in der Praxis getestet werden, welche Aufgaben am besten zu welchen Mitgliederkategorien passen. Drittens: Gewerkschaften sollten die Teilhabe an der gewerkschaftlichen Arbeit als einen schrittweisen Entwicklungsprozess sehen, der mit der Zeit entsteht und zu einer engeren Zusammenarbeit zwischen (überlasteten) Gewerkschaftsvertreter*innen und Mitgliedern führt, die bereit sind, sich für ihre Gewerkschaft einzusetzen. Die Identifizierung und Ansprache neuer Gewerkschaftsmitglieder, die potenziell an weniger intensiven Formen des Aktivismus und einer weniger von ökonomischen Überlegungen dominierten Beziehung zu ihrer Gewerkschaft interessiert sind, ist deshalb entscheidend.
Dieser Beitrag basiert auf Vandaele K. (2020), "Newcomers as drivers of union revitalization: survey evidence from Belgium", in: Relations Industrielles/Industrial Relations, 75(2), S. 351-375.
Übersetzung aus dem Englischen: Detlef Höffken
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Autor
Kurt Vandaele ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Europäischen Gewerkschaftsinstituts (ETUI) in Brüssel.