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Florian Rödl, 20.04.2022: Zur Zukunft Europas: Gewerkschaftliche Perspektive dringend gefragt!

Die „Konferenz zur Zukunft Europas“ diskutiert Probleme und Ideen aus Sicht ihrer Bürger*innen. Aber auch die Expertise der Gewerkschaften ist unverzichtbar: als Unterstützer des Einigungsprozesses und Seismograph für Fehlentwicklungen.

Die Zukunft der Europäischen Union wird wieder diskutiert, und das ist gut so. Allerdings handelt es sich nicht um eine Diskussion, die von Parteien, Verbänden, Bürger*inneninitiativen und Autoritäten der Zivilgesellschaft initiiert wurde oder jedenfalls vorangetrieben wird. Es ist eine Diskussion, die unter dem Titel „Konferenz zur Zukunft Europas“ von den drei zentralen Institutionen der Union ausgerufen wurde und organisiert wird, vom Europäischen Parlament, vom Rat der Europäischen Union und von der Europäischen Kommission. Zur Diskussion eingeladen sind in erster Linie Bürger*innen als einzelne. Der*die einzelne Bürger*in soll Themen ansprechen, die ihm*ihr wichtig sind, Probleme identifizieren, die er*sie für drängend hält, Ideen einbringen, die ihm*ihr gekommen sind.

Es ist aber wichtig, dass auch Positionen auf den Tisch kommen, die nicht einzelne Bürger*innen aus Anlass der Zukunftskonferenz aufbringen, sondern die schon seit Jahren in politischen Zusammenhängen entwickelt und diskutiert werden. Denn in solche Positionsbildung ist viel politische Erfahrung eingegangen, in ihr ist wissenschaftliche Expertise rezipiert worden und die Argumente sind in politischer Auseinandersetzung nach innen und außen geschärft worden. Diese wertvolle Basis sollte man auf der Suche nach der Zukunft der Europäischen Union nicht außen vorlassen.

Seismographische Rolle der Gewerkschaften

In diesem Sinne haben gerade die Gewerkschaften Maßgebliches zu bieten. Denn sie sind einerseits stets Unterstützer des wirtschaftlichen und politischen Einigungsprozesses gewesen: als Garantie für innereuropäischen Frieden und Quelle für wachsenden Wohlstand. Die Gewerkschaften sind andererseits immer diejenigen gewesen, die mit seismographischer Qualität identifizieren konnten, wo die Struktur des Einigungsprozesses in dem Sinn falsch aufgesetzt war und ist, dass die faktischen Ergebnisse zu den idealen Zielvorstellungen in Widerspruch treten. Sie haben insbesondere immer wieder darauf hingewiesen, dass die Etablierung des Binnenmarktes und die Gründung der Währungsunion auch Risiken bergen: Intensivierung des (Standort-)Wettbewerbs auf der Basis transnationalen Lohnkostenwettbewerbs, deregulierende Kraft der Marktfreiheiten, des Wettbewerbsrechts und der unionsrechtlichen Binnenmarktgesetzgebung, Verlust an makroökonomischer Steuerungskompetenz, Druck zu realer Abwertung am Ende auch mithilfe der Destabilisierung mitgliedstaatlicher Tarifvertragssysteme und durch den Abbau sozialer Sicherheit.

Mit solchen Diagnosen haben die Gewerkschaften durchaus Gehör gefunden. Sie haben immer wieder auf Ausgleich gedrängt, und das mit politischem Erfolg: Eine Charta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer wurde im Zusammenhang mit dem Binnenmarkt aufgelegt, die Einführung der Währungsunion war mit einem Ausbau der Unionskompetenzen im Individualarbeitsrecht verknüpft und es wurde später noch ein sog. Beschäftigungskapitel zur Koordinierung der Arbeitsmarktpolitiken in die Unionsverträge aufgenommen. Die Vertragsänderung von Lissabon verpflichtete die Union auf das Modell sozialer Marktwirtschaft und brachte eine Grundrechte-Charta mit sozialen Rechten. Und vor wenigen Jahren erst wurde wiederum durch die drei Institutionen der Union feierlich eine Säule sozialer Rechte verabschiedet.

Es hat sich jedoch gezeigt, dass diese Ausgleichsleistungen namentlich am Deregulierungsdruck und am Lohnkostenwettbewerb wenig ändern können. Sie haben auch nichts daran ändern können, dass die Politiken zur Stabilisierung des Euro erstens die Mitgliedstaaten ganz ungleich belastet haben und zweitens die Anpassungslasten innerhalb der betroffenen Mitgliedstaaten wiederum höchst ungleich zu schultern waren.

Ein Europäischer Pakt für sozialen Fortschritt

Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, Vorschläge zur Verfassung der Union auf die Agenda zu setzen, die tatsächlich auf die Strukturprobleme von Binnenmarkt und Währungsunion ausgerichtet sind. Die Gewerkschaftsverbände und sozialdemokratischen Parteien aus Schweden, Österreich und Deutschland haben dafür schon vor einiger Zeit einen ganz wichtigen Grundstein gelegt. Sie haben im November 2016 einen „Europäischen Pakt für sozialen Fortschritt“ verabschiedet.

Mag auch die Überschrift noch nach einem weiteren der schon unzähligen Papiere klingen, die gut gemeint ein sozialeres Europa einfordern, so hat es das Programm in der Substanz tatsächlich in sich. Denn es beinhaltet erstmals keine Forderung nach Kompensationen (wie soziale Grundrechte, die nur wenig rechtliche Kraft haben) oder Flankierungen (mehr Kompetenzen, die aus politischen Gründen nicht genutzt werden). Vielmehr zielt das Programm auf die rechtliche Struktur der Binnenmarktverfassung.

Erstens: Die Marktfreiheiten, die Eckpfeiler der rechtlichen Verfassung des Binnenmarktes, sollen keine „Beschränkungsverbote“ mehr beinhalten. Denn als solche wirken sie wie eine zweite Reihe wirtschaftliche Grundrechte, mit denen Unternehmen mitgliedstaatliche Marktregulierung, die im Interesse von Allgemeinwohl und Daseinsvorsorge erfolgt, zusätzlich unter Rechtfertigungsdruck setzen können. Stattdessen sollen die Marktfreiheiten auf ihren ursprünglichen guten Sinn zurückgefahren werden. Der liegt darin, dass Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten gegenüber inländischen nicht benachteiligt werden. Es geht also nur um Gleichbehandlung, um Diskriminierungsverbote.

Zweitens: Ein transnationaler Wettbewerb allein auf der Basis von Arbeitskosten muss ausgeschlossen sein. Das zielt auf die Regeln der Arbeitnehmerentsendung. Hier gibt es zwar mit der Entsende-Richtlinie ein Unionsgesetz, das einem unbegrenzten Arbeitskostenwettbewerb entgegensteht, weil es den Mitgliedstaaten aufgibt, Mindeststandards auch auf Entsendearbeit zu erstrecken. Doch dieselbe Richtlinie hindert die Mitgliedstaaten daran, über die Mindeststandards hinauszugehen. Damit wird das Gesetz zur Garantie eines reinen Arbeitskostenwettbewerbs. Und die Marktfreiheiten, und zwar auch als Diskriminierungsverbote, bilden zusätzliche Hindernisse, wenn es darum geht, die Einhaltung der Standards, insbesondere der gesetzlichen oder tariflichen Mindestlöhne, zu kontrollieren. Hier schafft Abhilfe, wenn die Mitgliedstaaten eine grundsätzliche Befugnis erhalten, Geschäftsmodelle zu unterbinden, die auf reinem Arbeitskostenwettbewerb basieren.

Beide Punkte verlangen eine Änderung des Primärrechts der Union, namentlich des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Denn es geht im einen Fall – Rückbau der Marktfreiheiten zu Diskriminierungsverboten – um die Korrektur der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, der sich auch durch eindrückliche Kritik vonseiten sozial und demokratisch sensibler Unionsrechtswissenschaftlern nicht hat beeindrucken lassen. Es geht im anderen Fall – Befugnis der Unterbindung von reinem Arbeitskostenwettbewerb – um die Korrektur einer Grundkonzeption, deren wirtschaftliche und soziale Auswirkungen kaum abzusehen war, als sie vor über 30 Jahren ins Werk gesetzt wurde, die aber heute klar vor Augen stehen.

Wie diese Änderungen des Primärrechts genau aussehen sollen und dass sie auch das einlösen würden, was hier vorgestellt wurde, habe ich in einer Studie im Auftrag der Arbeiterkammer Wien genauer ausgearbeitet.

Freilich ist damit das gewerkschaftliche Programm für die Zukunft Europas noch nicht vollständig. Hinzukommen müsste etwa noch die Abschirmung der Tarifvertragssysteme von deregulativen Vorgaben des Wettbewerbsrechts und vor allem im Rahmen von Politiken der Währungsunion. Eine Stabilisierung des Euro darf nie wieder mit der Demontage von Tarifvertragssystemen in einzelnen Mitgliedstaaten erkauft werden.

Vorwärts durch gewerkschaftliche Gestaltungsmacht

Wie stehen die Durchsetzungschancen für das Programm des Europäischen Paktes? Auch wenn die Institutionen der Union gegenwärtig vor allem die einzelnen Bürger*innen fragen, so entscheiden über wesentliche Integrationsschritte am Ende doch die Mitgliedstaaten. Und in deren politischen Räumen haben die europäischen Gewerkschaften ein starkes, ein entscheidendes Wort mitzusprechen. Mit anderen Worten: Gegen die europäischen Gewerkschaften ist kein wesentlicher Integrationsschritt möglich. Nichts hindert die europäischen Gewerkschaften daran, dieses Blockadepotential in Gestaltungsmacht umzumünzen. Erforderlich ist dafür die Bereitschaft, nicht auf die ökonomischen Vorteile für den je eigenen Mitgliedstaat zu sehen. Erforderlich ist der Wille, sich auf ein Programm im einheitlichen Interesse all derjenigen zu verpflichten, die in der Europäischen Union ihr Leben in abhängiger Beschäftigung verdienen.

 

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Autor

Prof. Florian Rödl ist Rechtswissenschaftler an der Freien Universität Berlin und Sprecher des Promotionskollegs „Gerechtigkeit durch Tarifvertrag“.

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